Grigorij Perelman zeigte dem Wissenschaftsbetrieb, was unter Wissenschaft wirklich zu verstehen ist.
Der russische Mathematiker Grigorij Jakowlewitsch Perelman hat 2010 den mit einer Million Dollar dotierten Millenium-Preis des US-amerikanischen Clay-Instituts für Mathematik abgelehnt. Der Preis wurde Perelman für die von ihm im Jahre 2002 im Internet publizierte Lösung der sogenannten Poincaré-Vermutung zugesprochen. Perelman hatte zu dieser Zeit noch am Petersburger Steklow-Institut für Mathematik gearbeitet, sich jedoch bereits damals geweigert, an den akademischen Ritualen wie der Verteidigung einer Habilitation oder dem Publizieren in Fachzeitschriften teilzunehmen. Die Voraussetzung für den Millenium-Preis, nämlich die Lösung in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen, erfüllte er deshalb nicht.
Insofern waren die Preisverleiher über ihren akademischen Schatten gesprungen – eine echte Seltenheit. Perelman ist der scientific community verdächtig, weil er sich nicht einordnet, aber er ist wohl zu gut, um ignoriert zu werden.
Perelman ist Jude und wurde 1966 im damaligen Leningrad geboren. Nach dem Studium der Mathematik konnte er aufgrund von Glasnost und Perestrojka in die Vereinigten Staaten reisen und dort an diversen Instituten als Post-Doktorand arbeiten. Er machte schon vor seiner Arbeit über die Poincaré-Vermutung durch Arbeiten in der Differentialgeometrie auf sich aufmerksam. Diese Arbeiten brachten ihm den Preis für junge Mathematiker der Europäischen Mathematischen Gesellschaft (EMS-Preis) 1996 ein, den er ablehnte. Nachdem seine Lösung der Poincaré-Vermutung über Jahre hinweg von mehreren Gruppen von Mathematikern überprüft und akzeptiert worden war, wurde Perelman im Jahre 2006 die Fields-Medaille, eine Art Mathematik-Nobelpreis, verliehen, die er ebenfalls ablehnte.
Perelman hat 2003 beim Steklow-Institut gekündigt und danach auf der Datsche eines Freundes gelebt und gearbeitet. Er ist zurzeit im bürgerlichen Sinne arbeitslos und lebt bei seiner Mutter am Stadtrand von Sankt Petersburg. Ganz offenbar ist Perelman ein Mann mit großem Freiheitsbedürfnis, der mit den Zumutungen der akademischen Welt nicht zurechtkommen will. Seine Begründung für die Ablehnung der jüngsten Auszeichnung ist an Fairness und Selbstlosigkeit nicht zu übertreffen: „Der Hauptgrund ist, kurz gesagt, meine Unzufriedenheit mit der Organisation der mathematischen Gesellschaft. Mir gefallen deren Entscheidungen nicht, ich halte sie für ungerecht.“ Der Beitrag des US-Amerikaners Richard Hamilton bei der Klärung der Poincaré-Vermutung sei „um kein bisschen geringer als meiner“.
Perelman hat verschiedene, im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb häufig vergessene oder verdrängte Wahrheiten erneut ins Bewusstsein gebracht. Echte Wissenschaft ist zunächst immer abstrakt und hat keinen „Zweck“; es geht um Wissen, um Wahrheit. Sie ist genau darum Wissenschaft und eben keine angewandte Forschung. Perelman hat bewiesen, dass herausragende Wissenschaft keine Sache sogenannter Forschungsteams und künstlich geschaffener Exzellenzcluster ist, sondern die von genialen Individuen. Er hat ferner gezeigt, dass in der Wissenschaft nicht das Einwerben von Drittmitteln, sondern die Sache wichtig ist.
In den Meldungen der internationalen Medien zur jüngsten Auszeichnung wird besonders die Höhe des Preisgeldes hervorgehoben. Passend zu unserer üblichen Auffassung von Werten sind nicht der Ruhm und die Ehre, nicht einmal die sachlich-fachliche Anerkennung wichtig, sondern es ist eigentlich das Geld. Die Ablehnung eines solchen Geldpreises ist natürlich immer ein Schlag ins Gesicht all der ökonomisch orientierten Leute, die meinen, mit Geld alles aufrechnen zu können: Anerkannt ist derjenige, der viel Geld hat. Es erscheint allen Kommentatoren vollkommen unverständlich, dass ein moderner Mensch soviel Geld ablehnen kann. Die Fassungslosigkeit äußert sich in Worten wie „Exzentriker“ („Handelsblatt“), „Einsiedler“ („Spiegel“), „Kauz“ („Bild“), „schrullig“ („Frankfurter Rundschau“). Aber auch hinsichtlich der Gleichgültigkeit Perelmans gegenüber Werten wie Ruhm und Ehre sind die westlichen Menschen ratlos. „Perelman hat die Fields-Medaille abgelehnt, weil er sich von der Gemeinschaft der Mathematiker isoliert fühlt“, sagte der Präsident der Internationalen Mathematischen Union, John Ball, der Perelman 2006 eigens besucht hatte, um ihn zur Annahme der Fields-Medaille zu bewegen (und der mit dem Wort „Isolation“ unwillkürlich, aber ganz richtig Perelmans Verachtung des akademischen Zirkus umschrieb). „Er hat eine etwas eigene Psychologie, aber das macht ihn auch interessant. Ich fürchte aber nicht um seine geistige Gesundheit.“ Natürlich, wer Preise und Preisgelder ablehnt, muss ja eigentlich geisteskrank sein.
Im Judentum gibt es eine Tradition, die eng mit der Hoffnung auf Erlösung verbunden ist, nämlich die im Volksglauben wurzelnde Vorstellung von den 36 Gerechten, auf denen das Schicksal der Welt ruht. Im Chassidismus hat sich die Vorstellung verbreitet, diese 36 Gerechten lebten in jeder Generation, teils verborgen, teils als Berühmtheiten, teils als Juden, teils unter den Völkern. Gershom Scholem, der große Kenner der jüdischen Mystik, erläutert die Bedeutung dieser Gestalten so: „Der verborgene Gerechte, wenn er irgendetwas ist, ist eben dein und mein Nachbar, dessen wahre Natur uns ewig unergründlich bleibt und über den kein moralisches Urteil abzugeben uns diese Vorstellung ermahnen will. Es ist eine von einer etwas anarchischen Moral getragene, aber eben deswegen um so eindrucksvollere Warnung“. Der latente Anarchismus Perelmans in Verbindung mit seiner der heutigen Zeit völlig unverständlichen Selbstlosigkeit prädestiniert ihn zu einem dieser Gerechten. Welche Warnung mag wohl von ihm ausgehen?
Aber Perelman ist auch Russe. Das Fluidum, in dem er lebt, ist christlich. Das russische Christentum kennt den Starez, den ehelosen Einsiedler, der sich in asketischer Einsamkeit Gott nähert. Auch in seiner äußerlichen Erscheinung – langer Bart, wirre Mähne, eine vorsätzliche Ungepflegtheit – kommt Perelman diesem christlich-russischen Bild, das religiöse Denker wie Tolstoj und Solowjew pflegten, nahe. Wenn Christian Geyer in der „FAZ“ bei seiner Forderung nach Aufhebung des Zölibats konstatiert, dass dieses „Zeichen“ nur dann noch zeichenhaft bliebe, wenn es überhaupt gesehen würde, offenbart er einen Grundzug unserer Zeit. Freiwillige Ehelosigkeit wird nicht mehr als Askese, sondern als Pathologie wahrgenommen. Ebenso freiwilliger Verzicht auf Ruhm, Ehre und immer wieder Geld, also freiwillige Armut. Sie werden pathologisiert. Die immer wieder aufkommenden Kampagnen für ehrenamtliche unbezahlte Arbeit haben darum heute nur mehr eine zynische Absicht, nämlich billige Arbeitskräfte zu finden, arme Idioten, die noch glauben, ein solcher Einsatz würde heute tatsächlich noch moralisch anerkannt. Aus jüdisch-christlicher, doch auch aus einer linken Sicht ist die Haltung Perelmans aber auf jeden Fall in hohem Maße anerkennenswert und nachahmenswert, auch wenn das dem aufgeklärten, pragmatischen Zeitgenossen noch so absurd erscheint.
Russland kennt auch den Begriff des „jurodiwy“, des „Gottesnarren“. Er ist traditionell eine exzentrische, auch in ihrem Äußeren auffällige Person, die außerhalb der konventionellen Gesellschaft steht – Beispiele in der Kunst sind Puschkins Narr in „Boris Godunow“, Fürst Myschkin in Dostojewskis „Idiot“ oder Tarkowskis Stalker. Die Verrücktheit des jurodiwy ist mehrdeutig und kann sowohl echt als auch simuliert sein; sie ist auf jeden Fall provokativ: Er (oder sie) spricht göttlich inspirierte Wahrheiten aus, die kein anderer aussprechen könnte. Im 20. Jahrhundert galten Dmitri Schostakowitsch und Boris Pasternak als Gottesnarren. Sie hatten zwar nicht offen politisch gegen Stalin opponiert, aber sich künstlerisch in scheinbar naiver Weise immer wieder so viel herausgenommen, dass Stalin sie möglicherweise irgendwann für unzurechnungsfähig genug hielt, um sie am Leben zu lassen. Auch Grigorij Perelman steht abseits des bürokratischen Wissenschaftsbetriebs. Teils wird das seine „Schuld“ sein, teils aber werden solche Leute vom Mainstream ausgespuckt, „entsorgt“. Preise ja, aber keine höhere Stelle in der akademischen Hierarchie.
Im jüdischen Russen Grigorij Jakowlewitsch Perelman zeigt sich also ein Gegenentwurf zu unserer überordentlichen, übersauberen, überreglementierten materialistischen Welt, die zeitlosen moralischen Standards ratlos gegenübersteht. Das war aber – wie die Vorstellung von den 36 Gerechten zeigt – früher nicht viel anders. „Die Welt“ war zwar anders in früheren Zeiten, aber die jüdisch-christlichen Werte haben niemals richtig in „die Welt“ gepasst. Sie passen in keine Zeit. Dennoch – oder gerade deshalb – würde es nicht schaden, wenn unsere Medien eine solche Nachricht als das brächten, was sie ist: eine Sensation. Jubelnde Menschen auf dem Siegertreppchen, einen Goldpokal haltend, werden gerne gezeigt, Reichtum feiert sich selbst bei diversen Opernbällen, das ist alles nichts besonderes, aber ein Mensch, der eine absolute Höchstleistung vollbracht hat und dafür keine finanzielle Belohnung will, das ist eine echte mediale Sensation. Scheint aber nicht so schön präsentabel zu sein. Oder machte den Medien zuviel Mühe. Schade. Grigorij Perelman wird wohl einer der verborgenen Gerechten bleiben. Aber einer, der empfänglichen Geistern in vieler Hinsicht langfristig Vorbild sein kann.
Dieser Beitrag wurde bereits in einer anderen Fassung im kürzlich beim Verlag Die Blaue Eule erschienenen Buch des Verfassers („Deutsche Befindlichkeiten“) publiziert.