„Wir müssen die Geschlechterfrage neu denken!“ verkündet das Backcover von Gisela Erlers jüngst erschienenem Buch Schluss mit der Umerziehung!: Vom artgerechten Umgang mit den Geschlechtern.
Weiter heißt es dort: „Warum sind Frauen in Spitzenpositionen so spärlich vertreten? Warum sind Jungen so häufig Bildungsverlierer? Es sind unterschiedliche Anreize, die beide Geschlechter antreiben. Frauen sind nicht für die männlich geprägten Spielregeln der Arbeitswelt zu gewinnen, Jungen nicht für einen Schulalltag, in dem ihre körperliche Energie und Risikofreude ausgegrenzt werden. Schluss mit der Umerziehung: Männer und Frauen sind verschieden, nutzen wir doch ihre unterschiedlichen Stärken, statt sie ihnen abzutrainieren!“ Das Buch soll unter anderem bei einer Podiumsdiskussion, die der Heyne-Verlag gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet, der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Das lässt aufhorchen. Zum einen ist es bemerkenswert, dass „Schluss mit der Umerziehung!“ nach den Büchern Ralf Bönts, Kristina Schröders, Roy Baumeisters und den erwarteten Büchern von Monika Ebeling und Professor Gerhard Amendt eine weitere Neuerscheinung im Jahr 2012 darstellt, die sich den starren ideologischen Vorgaben des feministischen Mainstreams widersetzt. Zum anderen verwundert es, dass die Heinrich-Böll-Stiftung dieses Buch vorstellt: eine Stiftung, die (ähnlich wie die Friedrich-Ebert-Stiftung) sonst Schriften in Auftrag gibt, bei denen geschlechterpolitische Gruppen, die von einer Verschiedenartigkeit der Geschlechter und einer Benachteiligung des männlichen Geschlechts sprechen, als „biologistisch“ beschimpft und in die Nähe von Rechtsradikalen und Massenmördern wie Anders Breivik gerückt werden. Und wenn beispielsweise Eva Herman ein Buch mit diesem Titel herausgegeben hätte, würde es landauf, landab heißen, dass man den Begriff „Umerziehung“ vor allem aus dem Zusammenhang mit der Aufarbeitung der NS-Zeit kenne, was die rechtsradikale Gesinnung der Autorin zweifelsfrei belege. Tatsächlich aber ist Gisela Erler Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in der grün-roten Landesregierung Baden-Württembergs.
Nun kennt man es von den Grünen schon bei anderen Themen, dass Dinge, für die der politische Gegner verdammt wurde, plötzlich geradezu alternativlos erscheinen, sobald sie von Grünen in der Regierungsverantwortung selbst betrieben werden (beispielsweise Kriegseinsätze). Allerdings berichtet Gisela Erler davon, dass sie in ihrer Partei als Vertreterin einer ökolibertären Position (Umweltschutz nicht durch Verbote sondern marktwirtschaftliche Anreize) keineswegs zum Mainstream gehöre und 1987 für ihr „Müttermanifest“, dem zufolge Mutterschaft nicht nur Last, sondern auch Lust bedeute, ebenfalls als „rückwärtsgewandt“ und „biologistisch“ beschimpft worden war. Das lässt die Hoffnung wachsen, dass sie sich auch in ihrem aktuellen Buch ideologischen Vorgaben mutig widersetzt. Aber ist diese Hoffnung berechtigt?
Zur Beantwortung dieser Frage fällt ein erster Blick in das Literaturverzeichnis von Erlers Buch. Das Ergebnis gerät überaus enttäuschend: Neben zig Büchern mit frauenpolitischen Ansätzen tauchen dort nur zwei Bücher auf, in denen es gezielt um die Anliegen von Männern und Jungen geht: Leonard Sax Jungs im Abseits und Professor Walter Hollsteins Was vom Manne übrig blieb. (Hollstein wird auf der vorletzten Seite von Erlers Buch kurz Erwähnung finden.) Man darf sich hier also nichts vormachen: Auch Erlers Buch ist durch und durch feministisch. Faszinierend allerdings wird sein, wie sie feministische Ziele mit anderen Ansätzen als den gewohnten verfolgt. Hier sei ein Urteil nach der Lektüre des Buches schon einmal vorweggenommen: Die feministischen Inhalte in Erlers Buch, die den weit überwiegenden Hauptteil ausmachen, sind so erfrischend und inspirierend, dass das Buch über die feministische Konkurrenzliteratur um Längen herausragt (was, da die Konkurrenzliteratur in der Regel zum Davonlaufen ist, auch nicht schwer ist). Die jungenpolitischen Passagen hingegen lassen bei jemandem, der mit dieser Thematik vertraut ist, durchaus schon mal den Gedanken aufkommen, ins Wasser zu gehen und diese bekloppte Genderwelt endlich hinter sich zu lassen.
Aber beginnen wir mit den positiven Aspekten des Buches – und davon gibt es zur Genüge. Zunächst einmal nimmt Erler zutreffend wahr, dass es entgegen dem klassischen Feindbild von der patriarchalen Unterdrückung „viele Bemühungen der globalen Wirtschaft“ gibt, „Frauen in wirkliche Führungspositionen zu bringen“, die allerdings allesamt „hartnäckig und gründlich scheitern“. Ebenfalls im klaren Kontrast zum Mainstream rot-grüner Genderpolitik vertritt Erler die Auffassung, dass „die Schaffung des neuen Menschen von oben oder von außen nicht Ausgangspunkt von Politik sein“ könne. Um Frauen zu fördern, brauche es Erler zufolge andere Hebel als die derzeit den Bürgern in einer breiten Medienkampagne als Allheilmittel geradezu aufgedrängten Quotenregelungen. Die Konzepte und Rezepte des aktuell praktizierten Gender-Mainstreaming basieren, so Erler, „auf zwei problematischen Annahmen: der Opferrolle von Frauen und dem Wunsch, Frauen wie Männer umzuerziehen“. Stattdessen betrachtet es Erler als zentrale Frage, „wie es Frauen und Männern gelingen kann, tatsächlich zu kooperieren, anstatt nebeneinander, gegeneinander, ohne einander zu agieren“. Da das Motto der geschlechterpolitischen Initiative AGENS, in deren Vorstand ich bin, „Mann Frau Miteinander“ lautet, rennt Erler bei mir mit diesem Vorhaben offene Türen ein. Aber mit welchen neuen Ansätzen will sie es in die Tat umsetzen?
Hier hilft es, dass Gisela Erler ihr Leben nicht allein in der Politik verbracht hat, sondern 1991 das Unternehmen pme Familienservice aufbaute, das innerhalb weniger Jahre zu einem Großunternehmen heranwuchs und inzwischen für mehr als 600 Firmen, darunter viele multinationale Konzerne, tätig ist. Die vom Familienservice gelieferten Dienstleistungen sind dabei klassisch weiblicher Art: Hier geht es um die Vermittlung von Kinderfrauen, Krippenplätzen, Tagesmüttern und Altenbetreuerinnen. Erst im Laufe der Jahre wurden auch immer mehr Männer Teil von Erlers Belegschaft. Die Mehrheit sämtlicher Aufgaben und Hierarchiestufen wird von Frauen besetzt und gestaltet. Das erstreckt sich bis auf den IT-Bereich, wo auch eine Kollegin, die bei ihrer Einstellung die Bedingung formulierte, niemals mit Computern arbeiten zu müssen, schließlich nicht nur die Bedienung eines Rechners lernte, sondern sich auch erarbeitete, wie man das bisherige Dokumentationsverfahren der Firma leistungsfähiger machen konnte. Anderen Mitarbeiterinnen, berichtet Erler, gelinge in diesem Bereich ähnliches, wodurch Geschlechterstereotypen gesprengt würden, ohne dass dies programmatisch bewusst so angelegt worden sei.
Auf der Grundlage dieser und weiterer jahrzehntelangen Erfahrung weiß Erler einiges darüber zu berichten, welche Aspekte einen Arbeitsplatz ausmachen, der es auch Frauen erlaubt, in einer Firma verantwortungsvolle Aufgaben und Positionen einzunehmen. Dazu gehören die folgenden:
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Der Arbeitgeber unterstützt ein glückliches Privatleben seiner Mitarbeiter. Erlers Familienservice etwa stellt bei Beziehungskrisen, Geldsorgen, finanziellen Engpässen und der Pflegebedürftigkeit von Angehörigen die eigenen Dienstleistungen unentgeltlich zur Verfügung. Im Grundsatz gelte: „Dein privates Problem ist nicht allein dein Problem. Wir werden eine Lösug finden, und wir werden dich nicht ins Abseits stellen, weil du ein Problem hast.“ Wenn eine Frau mehr freie Zeit benötigt, um schwanger zu werden, wird ihr auch dies ermöglicht. (In meinem Buch Das Kamasutra am Arbeitsplatz fordere ich ähnliches.) So bleibe die Geburtenrate in Erlers Firma „extrem hoch“.
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Bei der beruflichen Kommunkation fließen immer wieder Elemente der persönlichen Ebene ein. Diese, so Erler, „stehen nicht im Gegensatz zur Leistung, sondern sind in einer Frauenkultur untrennbar mit ihr verknüpft“. Die so entstehenden „intensiven, produktiven und effektiven Verknüpfungen (…) blockieren nicht etwa die Effektivität, sondern machen sie erst möglich“. Zwar gebe es dabei auch eine Schattenseite: „Alle Klischees über Frauen, die einander sabotieren, hintergehen, mit Gerüchten demontieren, anfeinden, schneiden, ausschließen, ablehnen sind vollständig zutreffend.“ Erler findet es jedoch sinnvoller, Maßnahmen zu entwickeln, diese unschönen Entwicklungen in den Griff zu bekommen, als deswegen auf eine persönlichere Beziehungskultur zu verzichten.
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Beim Einstellen neuer Kräfte sind die Suchsensoren des Famileinservices auch auf schüchterne und ruhigere Frauen eingestellt, gerade auch solche mit kleinen Kindern, bunten Biographien und Berufsunterbrechungen.
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Erfreulicherweise gibt es in Erlers Buch sogar ein eigenes Unterkapitel, das mit „Lob der Schüchternheit“ überschrieben ist und in dem Erler berichtet, dass wichtige Anstöße sehr oft von eher stillen Frauen mit echtem Führungspotential eingebracht würden, weshalb sie bedauere, dass Freundlichkeit, Sorgfalt, Bescheidenheit und Schüchternheit immer noch als Indiz für mangelnde Führungseignung und Durchsetzungskraft gälten. Volle Zustimmung: Wie man kompetente, aber schüchterne Menschen stärker nicht nur im Beruf, sondern auch in der Politik zur Geltung kommen lässt, halte ich ohnehin für eines der wichtigen kommenden Themen. Marina Weisband etwa, bis vor kurzem Geschäftsführerin der Piratenpartei, erörterte kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“, wie man Mobbing und ruppige Sprüche besser unterbinden könne: „Das schreckt nicht nur Frauen oft ab, sondern auch schüchterne Männer und generell Personen ohne dickes Fell.“
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Solange es nicht wahllos geschieht, solle ein Arbeitgeber Frauen „einfach hineinwerfen in den Strudel der Aufgaben – sie können nämlich schon schwimmen -, ihnen größere Aufgaben als bisher zutrauen“. Dabei sollten auch Latenz- und Krisenphasen stärker toleriert werden, als dies allgemein geschieht: „Manche Frauen gedeihen erst bei ihrer zweiten oder dritten Chance und bringen dann völlig Unerwartetes ein.“
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Auch die „Selbstbeförderung von Kolleginnen“ ist ein gangbarer Weg: „Entscheidend ist, dass die Talente selbst erkennen, wo sie sich einbringen können; der Filter dafür muss nicht die lokale Vorgesetzte und nicht einmal unbedingt ihr Team sein.“
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Wenn Frauen in einer Firmenhierarchie aufsteigen, sei es kontraproduktiv, sie mit denselben Statussymbolen und Machtinsignien zu versehen, auf die viele Männer Wert legen: „Denn nichts oder fast nichts fürchten (Frauen) so sehr wie eine deutlich exponierte Stellung gegenüber der Gruppe oder die Ausgrenzung, und zwar auf jeder Hierarchiestufe.“
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Führungskräften wird auch Teilzeit ermöglicht – „allerdings sollte sie eher bei dreißig als bei zwanzig Stunden liegen“.
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Ein Maximum an Entscheidungen, auch was Arbeitszeiten und Budgets angeht, wird an die Teams verlagert.
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Bei der Personalführung wird nicht mit Anweisungen, Befehlen und Disziplinarmaßnahmen gearbeitet, sondern mit Ermutigung, Befähigung und Raum-Geben, mit Inspiration, Koordination, Coaching, Unterstützung und Delegation. Dem von evangelisch-feministischen Zeitungsbeilagen wie „Chrismon“ und Autoren wie Peter Modler propagierten Prinzip, Frauen benötigten ein regelrechtes „Arroganz-Training“ im Umgang mit (vor allem männlichen) Untergebenen, erteilt Erler eine klare Absage: „Letztlich ist es für eine Frau nur dann attraktiv, eine Führungskraft zu werden, wenn dafür nicht Wärme, Nähe, Spaß und Gemeinschaftsgefühle aus ihrem Arbeitsalltag verschwinden.“
Bis hierhin kann ich Gislea Erler vollständig zustimmen. Das einzig Irritierende an ihren Ausführungen ist, dass ich bei deren Lektüre immer wieder nachprüfen musste, ob ich auch wirklich ein Mann bin. Denn was Erler als dezidiert frauenfreundliche Arbeitsbedingungen darstellt (einschließlich des Abschieds von der Präsenzkultur), sind meines Erachtens Dinge, die ohnehin die Arbeitswelt der Zukunft ausmachen sollten. Den preußischen Untertanenstaat haben wir schließlich auch hinter uns gelassen; warum sollte im Beruf nicht ähnliches möglich sein? Dass die Berufswelt überwiegend so stockbescheuert ist, wie sie Erler im Kontrast zu ihrer eigenen Firma darstellt, ist einer der Gründe, warum ich selbst mich z.B. statt für eine Karriere als Lektor bei Bertelsmann für die wesentlich weniger lukrative Laufbahn eines freien Autors entschieden habe. Und unsere Bürgerinitiative AGENS ist im Gegensatz zum wesentlich autoritärer geführten staatlichen „Bundesforum Männer“ wohl auch deshalb deutlich engagierter, weil auch unser Führungsstil von Ermutigung, Inspiration, Koordination und Delegation geprägt ist. Anweisungen und Befehle würden in einer Bürgerinitiative offenkundig ohnehin nicht funktionieren. Insofern: Wenn eine menschlichere Arbeitswelt nur mit dem ansonsten hochnervigen Totschlagargument der „Frauenfreundlichkeit“ durchgesetzt werden kann, soll mir das ausnahmsweise recht sein. Tatsächlich profitieren davon aber wohl beide Geschlechter, und Angehörige beider Geschlechter werden sich davon angesprochen fühlen.
Und tatsächlich berichtet Erler davon, dass etwa auch junge Väter in ihrem Unternehmen einen Platz finden: „Ein Unternehmen, das sie nicht mit unnötiger Abendarbeit, Netzwerkpflege außerhalb von Familienzeiten, mit Meetings an späten Nachmittagen blockiert, ist ihnen der Verzicht auf mehr Geld im Austausch für mehr Familienzeit wert. Wir wissen und akzeptieren, dass Familie, Liebe, der Kirchenchor, die Beschäftigung mit dem Hund, die Sprecherrolle im Elternbeirat nicht nur Kraft kosten, sondern vor allem zusätzliche Kraftquellen erschließen. (…) In den Prozessen und Instinkten einer Firma muss fest verankert sein, wer nur ‚arbeitet‘, kann meist nicht wirklich gut denken, wird unkreativ, missgelaunt, macht Fehler, wird betriebsblind, auch dann, wenn kein Burn-out erfolgt. Leistungsträger sind nicht eindimensional.“ Was sich alles zu einhundert Prozent mit meinen eigenen Erfahrungen deckt. Dabei hebt sich Erlers Unternehmen auch in anderer Hinsicht von dem eben auch männerfeindlichen System anderer Organisationen ab: „Es gibt heute öffentliche Kindergärten, in denen Männer grundsätzlich keine Kinder wickeln dürfen. Das lehnen wir ab – wir stellen Männer nicht unter Generalverdacht.“
Ebensowenig geht es Erler darum, Männer auszugrenzen, die den traditionellen Vorstellungen von „typischer“ Männlichkeit verbunden sind: „Dominanz und Wettbewerbsverhalten können und müssen weiterhin einen Platz finden, wenn auch nicht automatisch so, dass ihnen die Top-Entscheidungsfunktionen zufallen. (…) Eine Balance zwischen dem Harmoniewunsch und der Konfliktscheu vieler (nicht aller) Frauen und der starken aggressiven Dominanz mancher (nicht aller) Männer ist wünschenswert und auch notwendig. (…) Genau darum geht es: echten Respekt von Männern für Frauen, aber auch neuen Respekt von Frauen für Männer – gerade im Hinblick auf die Unterschiede.“ Das deckt sich so sehr mit meiner eigenen Auffassung, dass ich bei solchen Passagen versucht bin, Hosianna zu singen.
Ironischerweise ist es ausgerechnet eine progressive Männer- bzw. Jungenpolitik, wo der ein wenig problematische Teil des Buches beginnt. Dabei ist auch hier Erlers Ansatz zunächst durchaus ansprechend. Sie vergleicht das Scheitern von Jungen in der Schule mit dem Scheitern von Frauen bei der Karriere und postuliert: „Jungen bekommen im heutigen Schulsystem nicht das, was sie brauchen, um voranzukommen, und Frauen nicht in der Arbeitswelt. Wenn ein Geschlecht erfolgreicher ist, ist das andere nicht etwa inkompetent, unbegabt oder ungeeignet, sondern es trifft auf Strukturen, die seinem Wachsen und Gedeihen, seiner Entfaltung nicht förderlich sind.“ Damit unterscheidet sich Erler schon einmal erfreulich sowohl von der Selber-schuld-Polemik, die in Alice Schwarzers „Emma“ gegen Jungen gefahren wird, als auch von der Jungen-sind-eben-biologisch-minderwertig-These, wie sie in feministischen Kreisen (bis hin zu einer ehemaligen Bundesfrauenministerin) ebenfalls zu hören ist. Und man muss auch einmal anerkennen, dass von den zig Anliegen der Männerbewegung die Forderung nach einer besseren Situation für Jungen überhaupt Eingang in die feministische Debatte findet. Zuvor musste es allerdings erst soweit kommen, dass, wie Erler berichtet, „in Berlin (…) für die Gymnasien nach den Übergangszeugnissen fast nur noch Mädchen zugelassen werden könnten“. Wenn die Misere dermaßen offensichtlich ist, können also auch Grüne nicht länger von einem „heimlichen Lehrplan“ sprechen, der Jungen begünstige.
Erler erkennt, dass die Wirklichkeit genau gegenteilig aussieht: Es gibt eine „Verweiblichung“ des Schulwesens, wobei „die Arbeitsstile und Leistungsfähigkeit der Mädchen unterschwellig zum Maßstab werden“, als „strukturelles Erfolgshemmnis für Jungen“. Dabei handele es sich um „geronnene Formen von Weiblichkeit“ (analog zu den geronnenen Formen von Männlichkeit im Berufsleben), „verfestigt in Prozessen, Kommunikationsstrukturen, Inhalten, Methoden, Denkweisen, Normen: Ein Bildungssystem kann also Strukturen aufweisen, die für viele Jungen und Männer einfach nicht attraktiv, förderlich und zuträglich sind, die sie behindern, kaltlassen, ihre Motivation, ihr Interesse nicht wecken, ihnen keine Freude machen, weitgehend unabhängig davon, ob die einzelne Lehrkraft ein Mann oder eine Frau ist.“ (Erler übersieht hier allerdings, dass, wie die Bildungsforscherin Heike Diefenbach herausfand, Jungen um so schlechter abschneiden, je höher unter ihren Lehrern der Anteil von Frauen ist.) Positive Veränderungen, so Erler weiter, seien erst zu erwarten, wenn „die jungenfeindlichen Wirkmechanismen im Schulsystem erkannt und abgebaut werden.“ Die bisherige offizielle Pädagogik sei viel zu sehr damit befasst, „Geschlechtsidentitäten von Jungen abzurüsten“. Erlers Diagnose ist hier weitgehend zuzustimmen.
Problematisch wird es, sobald es um die Therapie geht. Hier rächt sich, dass sich Erler mit männerpolitischer, „maskulistischer“ Literatur anscheinend kaum näher beschäftigt hat. Denn als Therapievorschlag fällt ihr, im Gegensatz zur Frauenförderung im Beruf, wenig Konkretes ein. Sie beklagt lediglich, dass das elementare Bedürfnis von Jungen nach Bewegung und körperlicher Erkundung überall beschränkt und ihnen der Drang, körperliche Aggression spielerisch auszutesten, mehr ideologisch als pädagogisch ausgetrieben werde. Diese Darlegungen Erlers sind keineswegs falsch. Das Tragische ist, dass man sie fast bis in einzelne Formulierungen hinein schon vor zwölf Jahren beispielsweise bei Karin Jäckel lesen konnte und sie seitdem in zahllosen Veröffentlichungen anderer Autoren wiedergekäut wurden (was Erler anscheinend nicht weiß, da sie die entsprechende Literatur weitgehend ignoriert hat). Neue, weiterführende, darauf aufbauende Gedanken hat Erler nicht zu bieten. Stattdessen diskutiert sie mit sich in dem ohnehin schon vergleichsweise kurzen Teil ihres Buches, in dem es um Jungenprobleme geht, über viele Seiten hinweg, ob der Weg zur Monoedukation (also nach Geschlechtern getrenntem Unterricht) nicht eine Lösung darstellen könne. Unberücksichtigt bleibt bei diesen Gedankengängen beispielsweise eine Studie Analia Schlossers, die klar dagegen spricht: Schlosser wies nach, dass sich die Noten sowohl der Mädchen als auch der Jungen verbesserten, wenn sich in einer Klasse ein Mädchenanteil von mehr als 55 Prozent befand und auch Störungen im Unterricht seltener sowie die Beziehungen zu den Lehrern besser waren. (Erler kann auf ähnliche Erkenntnisse verweisen, wenn es um die Geschlechterverteilung am Arbeitsplatz geht, aber sobald es um Jungenprobleme geht, hat sie die vorliegende Literatur eben nur kursorisch zur Kenntnis genommen.)
An einer Stelle heißt es bei Erler sogar, dass „die typischen Mädchen“ noch immer „die am stärksten benachteiligte Gruppe“ an unseren Schulen darstelle. Dabei – wie auch bei ihren anderen Erörterungen zu diesem Thema – lässt sie vollkommen außen vor, dass seit der Hamburger Lern-Ausgangs-Untersuchung (LAU) vom Jahr 1996 Studien immer wieder bewiesen haben, dass Jungen für dieselbe Leistung schlechtere Noten erhalten als Mädchen, weshalb der Aktionsrat Bildung im März 2009 erklärte, dass die Benachteiligung der Jungen inzwischen „die Grenzen des rechtlich und moralisch Hinnehmbaren“ überschreite. Ich glaube nicht, dass Erler solche Brandbriefe gezielt außen vor lässt. Sie entziehen sich schlicht ihrer Kenntnis, weil sie in einer bemerkenswert unbekümmerten Arroganz meint, fast sämtliche vorliegende maskulistische Literatur, in der solche Informationen zu finden sind, ignorieren zu können und im Gegensatz zu Regalen zitierter feministischer Literatur die Lektüre zweier Bücher über Männer- bzw. Jungenanliegen vollkommen ausreicht.
Aus diesem Grund kommt das Jungenthema bei Erler zwar mit aufs Buchcover, als ob es für sie ein mit Frauenförderung gleichwertiges Thema sei, hier aber bleiben die Lösungsvorschläge vergleichsweise dürr. Erler stellt hier auch schon mal Fragen in den Raum, die sie für unbeantwortet hält, obwohl Männeraktivisten längst die ersten Lösungsansätze entwickelt haben. Hätte sie die existierende Literatur gründlicher gesichtet, sich dazu auch bei Initiativen wie MANNdat, Internet-Seiten wie den Webjungs oder dem Rosenheimer Sozialpädagogen Wolfgang Wenger kundig gemacht, wäre ihr der etwas peinliche Ausfall beim Jungenthema erspart geblieben. Es gibt nämlich inzwischen durchaus vernünftige Vorschläge, wie Jungen schneller lesen lernen, wie man ihnen auch in der heutigen Zeit noch „Helden“ als Vorbilder zeigen kann undsoweiter undsofort. (AGENS geht aktuell daran, die Jungen selbst zu befragen, was ihnen fehlt und was sie sich zur Verbesserung ihrer Situation wünschen – eine eigentlich sehr naheliegende, aber trotzdem noch nie dagewesene Aktion.) Man fragt sich bei Erlers begrenzten Interesse wirklich, warum Jungen im Untertitel ihres Buches scheinbar gleichberechtigt mit Frauen erscheinen, wenn dann faktisch ein enormes Ungleichgewicht bestehen bleibt.
Es bieten sich nun zwei Sichtweisen an, was geschehen könnte, wenn Erlers Beispiel Schule macht. Die zynische Prophezieung lautet: Nachdem Feministinnen, dabei insbesondere die Grünen, alles getan haben, um die bereits vorliegenden Erkenntnisse von Männerrechtlern auszugrenzen und die entsprechenden Forscher zu dämonisieren, werden sie sich ähnlich wie Erler in den nächsten Jahrzehnten alles noch einmal selbst erarbeiten und dann als Ergebnis der eigenen Arbeit vorstellen. Vielleicht wird dann beispielsweise im Jahr 2045 die Beobachtung, dass Männer ähnlich stark wie Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind, als genuin feministische Erkenntnis ausgegeben, und zahllose Medien werden darauf hinweisen, dass solche verblüffenden Einsichten jener höheren Empathie zu verdanken sind, wie sie vor allem und gerade Frauen bei ihren Forschungen mitbringen. Die wohlwollendere Sichtweise würde lauten, dass Erler mit ihrem Buch im feministischen Lager immerhin einen allerersten, lange überfälligen Schritt tut, um auch Benachteiligungen des männlichen Geschlechts anzusprechen. Vielleicht benötigt Erlers Zielgruppe ja solche Babyschritte, würde sich von größerem Ausschreiten überfordert zeigen und darauf nur mit Abwehr und Aggression reagieren können.
Den erhofften großen Wurf einer integrativen Geschlechterpolitik für Frauen und Männer gleichermaßen liefert Erlers Buch damit also nicht. Auf ein solches Buch warten wir alle noch. Auch die Marktschreierei von wegen „Wir müssen die Geschlechterfrage neu denken!“ erweist sich als überzogen. Es gab in den letzten beiden Jahrzehnten ohnehin nur einen Autor, der seine Leser die Geschlechterfrage neu denken ließ: Warren Farrell mit Mythos Männermacht – ein Buch, das zwar zu einer Männerrechtsbewegung und vielen Nachfolgetiteln führte, aber wie die meisten dieser Titel kommerziell erfolglos blieb, eben weil Farrell neu dachte und damit dem, was zahllose Medien bis heute täglich predigen, massiv zuwiderlief. Erlers Buch würde sich auf dem Markt aber auch nicht durchsetzen, wenn man es realistischer bewerben würde (etwa mit: “ bedenkenswerte und zukunftsweisende Vorschläge zur Frauenförderung im Beruf“). So wie das Buch nun einmal ist, ist seine Lektüre zur Hälfte eine Enttäuschung, zur anderen Hälfte aber durchaus ein Gewinn.
Bildnachweis: Gisela Erler