Andreas Ernst ist männlich, bisexuell, weiß – und querschnittsgelähmt. Hier teilt er uns in einem Gastbeitrag seine Gedanken zum derzeitigen Medienthema Nummer eins mit.
Sie macht mich wütend. Die aktuelle Sexismus-Debatte. Nicht wegen dem Thema selbst, das ist wichtig. Eher wie sie geführt wird und wie weit das geht. Lese ich diese Diskussionen im Internet mit, erfahre ich, dass gewünscht wird, Blicke zu sanktionieren. Denn diese sind Sexismus, diskriminierend! Man(n) fragt sich, warum ihm Augen gegeben wurden. Damit er nicht vor Wände läuft, klar. Aber soll er Frauen umrennen? Diese Hysterie halte ich für völlig überzogen. Und wenn aus derlei Nichtigkeiten Diskriminierungen abgeleitet werden, die dann noch sexistisch sein sollen, fühle ich mich ehrlich gesagt verarscht.
Warum? Dazu ein wenig zu meiner Person: Ich bin seit einigen Jahren querschnittsgelähmt, und meine Hörleistung ist herabgesetzt. Dies durch den Ausbruch der Krankheit Neurofibromatose Typ2. Eine Krankheit, die per Zufall Tumore entstehen lässt. Einen hatte ich im Rückenmark. Daher die Querschnittslähmung. Ich war ca. 26, 27 Jahre alt, als dies passierte. Bis dahin war mein Leben relativ normal. Dann wurde der erste Tumor entdeckt, und eine ca. zweieinhalb Jahre andauernde Zeit in verschiedenen Krankenhäusern begann. Der Tumor wurde entfernt, und ich war querschnittsgelähmt.
Konnte ich mir bis zu diesem Zeitpunkt unter dem Begriff nur gelähmte Beine vorstellen, lehrte mich die Realität schnell besseres. Ich wurde inkontinent. Stuhlinkontinent und auch blaseninkontinent. Meine Hüfte war … weg. Für mich. Ich konnte mich also nicht mehr drehen, nicht aufrecht alleine halten. Dies konnte später zum Glück durch intensives Bauchmuskeltraining ein wenig kompensiert werden. Aber ich werde nie vergessen, wie ich mit der Querschnittslähmung das erste Mal abführte.
Man hatte mir eine Windel angelegt. Ich spürte ja nichts, konnte nicht Bescheid sagen. Alle paar Stunden guckte eine PflegerIN mir ungefragt in diese Windel. Prüfte, ob sie voll war. Dies war beim vierten Mal der Fall. Was bedeutete, dass sie mich im Bett – wieder ungefragt – zur Seite drehte, die Windel öffnete und mich sauber machte. Nicht ohne lautstark kundzutun, was sie in der Windel fand, wieviel und welche Konsistenz das hatte. Lautstark genug, dass es die drei anderen Patienten im Zimmer auch hörten. Ein Patient von diesen dreien war übrigens weiblich. Nach mir im Zimmer angekommen. Ich bekam das Aufnahmegespräch mit. Sie wurde gefragt, ob sie einen männlichen oder weiblichen Pfleger wünscht, ob sie es aushalten würde, mit männlichen Patienten im Zimmer zu liegen. Dinge, die ich nie gefragt wurde. Wenn Sie nun denken „War wohl Privatpatientin“, sei Ihnen gesagt: Ich war auch Privatpatient. Im Laufe der nächsten Jahre durfte ich die Erfahrung machen, dass Frauen in jedem Krankenhaus, in dem ich war, wählen durften. Ich in keinem. Nicht weil es nicht genug männliche Pfleger gab. Die waren da. Das Krankenhauspersonal kam gar nicht auf den Gedanken, dass auch Männer das unangenehm finden können. Also schob mir immer eine Pflegerin den Katheter in den Penis – bis ich mich wehrte und das selber machte.
Trotzdem habe ich in der Zeit einige männliche Pfleger kennen gelernt (diese durften das Mittagessen verteilen). Dabei ist mir eins aufgefallen: Die männlichen Pfleger interessierten sich öfter für mich als Person. Mit manchen bin ich noch gut befreundet. Für die meisten weiblichen Pflegekräfte war ich nur Patient XY, den es abzuarbeiten galt. Ich merkte sehr deutlich, dass sie nur ihre Schicht hinter sich bringen wollten. Das machte es nicht angenehmer. Ist man lange im Krankenhaus, immer nur im Bett, nicht in der Lage raus zu kommen, baut man geistig ab. Ich habe irgendwann nicht mehr viel mitbekommen, war einfach nicht mehr so ganz da. Einem männlichen Pfleger schien das aufzufallen. Er spielte von da an täglich mit mir Memory. Freiwillig, aus Eigeninitiative – nach seinem Feierabend. Dieses Spiel hat mir enorm geholfen und ich bin endlos dankbar. Von seinen Kolleginnen wurde dieser Pfleger meist süffisant abwertend belächelt. Einmal wurde er sogar gefragt, ob ihm sein Feierabend nichts bedeutet. Er antwortete mit „Doch. Deshalb sitze ich hier.“
Aber wie sieht mein Leben heute aus, einige Jahre später? Ich bin an den Rollstuhl gebunden und brauche morgens wie abends einen ambulanten Pflegedienst. Diesen konnte ich zum Glück selbst wählen und bin zufrieden. Ich fahre ein umgebautes Auto und führe meine kleine IT-Firma. Also recht normal, sollte man meinen. Doch der Sexismus in meinem Leben hat nicht aufgehört. Er hat sich nur verlagert. Zum Beispiel zu Müttern. Wenn ich einkaufen fahre oder im Park den Sommer genieße, treffe ich oft auf Eltern mit Kindern. Kinder kommen recht schnell zum Rollstuhl, ohne Berührungsängste, mit viel Neugier. So sind Kinder, und ich liebe diese Neugier. Mütter tun dies größtenteils anscheinend nicht. Sie zerren ihre Kinder weg, oft begleitet mit dem Kommentar „Guck da nicht so hin, das gehört sich nicht!“. Warum eigentlich? Wieder sind es Blicke, die sanktioniert werden. Meiner Meinung nach ohne Grund.
Väter sind da oft anders. Sie sprechen mich oft an, stellen Fragen, sind teils genauso neugierig wie die Kinder. Wo kommt dieser Unterschied her? Bisher war es mir egal. Doch im Zuge der Sexismus-Debatte, gibt mir das zu denken. Ich komme immer mehr zu dem Schluss, das Mütter mich oft diskriminieren. Auch weil ich beobachte, dass sie häufig (wenn auch nicht immer) ihre Kinder bei weiblichen Rollstuhlfahrern nicht derart zurechtweisen. Von männlichen Rollstuhlfahrern scheint eine Gefahr auszugehen. Ich weiß nicht welche, merke es aber immer wieder. Wie die Straßenseite (nur von Frauen) gewechselt wird, dass Frauen an der Supermarktkasse weder vor noch hinter mir stehen möchten, dass weibliche Ärzte wie selbstverständlich eher mit meiner Begleitung über mich reden statt mit mir. Eine gute Freundin nannte mir mal als möglichen Grund das Klischee, dass Rollstuhlfahrer angeblich keinen Sex hätten und deshalb Frauen vergewaltigen könnten. Damals habe ich über diese Theorie gelacht – im Wissen, dass mein Sexualleben ganz okay ist. Im Sinne der Sexismus-Debatte müsste ich mich heute als Opfer fühlen. Als mehrfaches Opfer. Quasi mit Abo, seit einigen Jahren.
Wenn nun also sanktionierbarer Sexismus bei Blicken anfängt, wie soll ich dann das Erlebte bezeichnen? Bisher bezeichnete ich es als „dumm gelaufen“ und kam nicht im Ansatz auf die Idee, damit ein ganzes Geschlecht negativ zu verurteilen. Weil ich immer wusste, dass selbst 100 DeppInnen nicht für alle Frauen stehen. Selbst tausend würden es nicht. Wenn dies nicht auch umgekehrt greift, frage ich mich, ob wirklich ich der „Behinderte“ bin. Der Unterschied ist, dass ich in manchen Bereichen Hilfe brauche. Es nicht ohne geht. Sonst bin ich physisch verletzt. Können Blicke das auch? Warum braucht eine Frau Hilfe, wenn sie angeguckt wird? Darf man von erwachsenen Frauen kein erwachsenes Handeln erwarten? Dazu würde gehören, sich verbal zu wehren oder die Blicke zu ignorieren. Ist diese Erwartungshaltung sexistisch? Wird deshalb so oft von „Frauen und Kindern“ gesprochen? Ich jedenalls fühle mich diskriminiert, wenn Frauen bei solchen Kleinigkeiten eine Extra-Hilfe einfordern können. Weil ich Frauen auf Augenhöhe sehe. Es wäre schade wenn Frauen sich selbst nicht dort sehen.