15. Mai 2014, von Prof. Günter Buchholz
Ein Aufstand (welch ein Wort!) der Wirtschaftsstudenten ist es zwar nicht, der von den in der „Gesellschaft für Plurale Ökonomik“ organisierten Studenten ausgeht, aber ein kräftiger Hinweis auf einen bedenklichen Missstand ist es sehr wohl.
Eingefordert wird mit Blick auf Wirtschaftstheorien: Vielfalt statt Einfalt! Konkurrenz statt Monopol! Das ist ein klassischer ordoliberaler Standpunkt, mehr nicht. Aber begründet ist er, dieser Einspruch!
„Letzte Woche wurde ein Manifest für mehr Vielfalt in der Wirtschaftswissenschaft von einem Zusammenschluss aus über 40 Studierendengruppierungen aus 19 Ländern veröffentlicht, um sich gegen die neoklassische Vorherrschaft an den Unis zu wehren. Die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien ist Teil dieser Initiative. Auch Peter Mooslechner, Direktor der Österreichischen Nationalbank, unterstützt die Initiative: „Viele Aspekte der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass es neuer, innovativer und methodisch breiterer Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften bedarf, um eine relevante Wirtschaftspolitik entsprechend zu fundieren. Dafür ist es entscheidend, dass Volkswirtschaftslehre fundamental als multiparadigmatische Wissenschaft verstanden, gelehrt und ‘gelebt’ wird“.“
Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn hat in seinem berühmt gewordenen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen am Beispiel der Paradigmen in den Naturwissenschaften erläutert, wie sich wissenschaftliche Entwicklung bzw. idealerweise wissenschaftlicher Fortschritt tatsächlich vollzieht, nämlich nicht durch Poppers Falsifizierung, sondern durch die kreative Etablierung neuer Paradigmen und deren eher unkreative, normalwissenschaftliche Fortführung und bloße Detaillierung (normal science), die solange weitergeht, bis sich das Paradigma erschöpft hat und neue reale Probleme entstehen, für deren Lösung ein neues Paradigma notwendig ist, das, im günstigen Fall, auch gefunden wird.
Es gab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Physik eine Situation, in der die community of science der Auffassung war, dass das Newtonsche Paradigma der Mechanik die Physik abschließend erkläre. Dafür sprach damals tatsächlich sehr viel, bis überraschend einige Erfahrungstatsachen auftauchten, die nicht ins theoretische Bild passten und störten.
Ausgehend von diesen empirischen Störungen entwickelte sich im frühen 20. Jahrhundert ein völlig neues, ein relativistisches Weltbild der Physik, das u. a. mit den Namen Einstein, Planck und Heisenberg verknüpft ist und die Newtonsche Mechanik verallgemeinerte und erweiterte. Ohne diesen paradigmatischen Durchbruch wären wichtige Teile unserer heutigen Technologie überhaupt nicht existent.
Es ist nun interessant, dass sich in der Ökonomik etwas ähnliches vollzogen hat. Die Begründer der Neoklassik strebten in bewusster Distanzierung zur bürgerlichen Arbeitswerttheorie der ökonomischen Klassik (Adam Smith, David Ricardo) sowie jener der „Kritik der Politischen Ökonomie“ (Karl Marx) nach einem theoretischen Neuansatz, der in der fundierenden Nutzen- und der späteren Preistheorie gefunden wurde. Die Neoklassik wurde als Analogon zur Newtonschen Physik konstruiert; sie war das große Vorbild. Eine ökonomische Physik wurde angestrebt, ebenso wie in der Soziologie eine soziale Physik durch Auguste Comte; das Gesellschaftliche sollte naturalisiert werden oder als natürlich erscheinen. Dem entspricht wissenschaftstheoretisch der Positivismus. Angesichts der bestehenden wissenschaftlichen und politisch-praktischen Kritik entsprach diese Tendenz einem mächtigen affirmativen Bedürfnis und Interesse in der bürgerlichen Gesellschaft.
Was in der Ökonomik, hier beginnend und dann ein Jahrhundert fortentwickelt, begründet wurde, das war die „Allgemeine Gleichgewichtstheorie (AGT)“. Sie stieß in der Weltwirtschaftskrise von 1929-32 an eine Grenze. Diese zeigte sich wirtschaftsgeschichtlich daran, dass eine neoklassisch gebotene und praktizierte Austeritätspolitik unter Reichskanzler Brüning sich nicht als Lösung erwies, sondern zur Vertiefung der Krise beitrug. In diesem Sinne wurde die neoklassische Theorie wirtschaftspolitisch überprüft und falsifiziert.
Sie war also – im Sinne von Karl. R. Popper und seinem Kritischen Rationalismus – falsch; oder jedenfalls als Fundierung der Wirtschaftspolitik ungeeignet. Nun gab es einen Neoklassiker, einen Schüler von Alfred Marshall, der sich seit Ende des I. Weltkrieges ständig mit den wichtigsten ökonomischen Problemen beschäftigte und dem unter dem enormen Druck dieser Krise eine theoretische Kritik der Neoklassik und ein wirtschaftspolitischer Ausbruch aus dem neoklassischen Paradigma gelang.
1936 veröffentlichte John Maynard Keynes, der in Cambridge (UK) lebte und arbeitete, seine „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, seine berühmte „General Theory“ (GT). Daraus entwickelten sich im Anschluss an sein Lebenswerk theoriegeschichtlich zwei Zweige, zum einen der neoklassisch orientierte „Bastard-Keynesianismus“ (Joan Robinson), aus der der heutige Neu-Keynesianismus hervorgegangen ist, zum anderen der Postkeynesianismus (vgl. hierzu: Jesper Jespersen. Macroeconomic Methodology, Edward Elgar: Cheltenham (UK) 2009, S. 3 – 18). Von seinen Vertretern sei hier Hyman P. Minsky hervorgehoben, dem es in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gelang, eine keynesianische Theorie der finanziellen Instabilität zu formulieren, die leider erst nach seinem Tode und angesichts der Weltfinanzkrise ab 2007 eine gewisse Anerkennung gefunden hat (vgl. hierzu: Stefan Voß, in: Die Wirtschafts- und Finanzkrise mit Blick auf Marx und Keynes – Teil I).
Diese bis heute nicht überwundene Finanzkrise ist ähnlich wie die Krise von 1929-32 eine historische Grenze, die die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Monetarismus (Milton Friedman) zurückgekehrte neoklassische Theorie wiederum, nun speziell auf dem Gebiet der Finanztheorie, falsifizierte. Für eine Theorie, die nach drei Jahrzehnten fast unangefochten – in Deutschland bis an den Rand eines Monopols – dominiert, ist das ein erhebliches Problem, das seinerseits entweder verleugnet oder als solches erkannt werden kann. Die in der Gesellschaft für Plurale Ökonomik organisierten Studenten haben das Problem erkannt und anerkannt, und sie fordern zu Recht, dass auf theoretischer und dann auf wirtschaftspolitischer Ebene Konsequenzen gezogen werden. Gefragt ist nicht länger das empirische mehrfach falsifizierte neoklassische Paradigma (die Mikroökonomik), gefragt ist e i n e, nicht eine bestimmte Alternative. Und das ist ein Aufruf an kritisch-kreatives Denken und Handeln, und es ist eine Absage an die neoklassische normal science.
Für diese ist das schmerzlich. Besonders aber für einige Wirtschaftsnobelpreisträger aus Chicago, jene, die von Robert Skidelsky als „Süßwasserökonomen“ bezeichnet werden.
Vgl. hierzu: Robert Skidelsky, Die Rückkehr des Meisters: Keynes für das 21. Jahrhundert, übersetzt von Thomas Pfeiffer und Ursel Schäfer, Verlag Antje Kunstmann, München 2009. ISBN 3-88897-647-2
und ergänzend:
Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt: Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise, Münster 2013
Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.