Wie man um sich selbst kreist und dabei Widerlinge produziert
Der Komet Tschurjumow-Gerasimenko, genannt Tschuri, ist 510 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Sein Kern ist gerade einmal 4×3,5×3,5 Kilometer groß. Am 12. November gelang Wissenschaftlern trotzdem eine „schwierige und bisher noch nie gewagte Landung„: Sie landeten eine kleine Raumsonde auf dem winzigen Kometen – nämlich den Lander Philae, der zuvor von der Raumsonde Rosetta abgesetzt wurde, die in einer genau berechneten Umlaufbahn den Kometen umrundete.
An der Mission sind siebzehn Länder beteiligt, unter anderem Deutschland – sie kostet etwa eine Milliarde Euro – ihr Ziel ist es, Informationen über die Geschichte des Sonnensystems zu gewinnen. Die beteiligten Wissenschaftler mussten in vielerlei Hinsicht „Neuland betreten“, um die Landung möglich zu machen. Die Namen von Sonde und Lander haben berühmte Vorbilder, und sie weisen darauf hin, welch ein Meilenstein diese Mission ist:
Die Sonde ist nach der ägyptischen Hafenstadt Rosette benannt, der Lander nach der Insel Philae im Nil. Beide Orte sind für dort gefundene ‚Meilensteine‘ der Entzifferung der altägyptischen Schriften bekannt: den Stein von Rosette und einen Obelisken auf der Nilinsel.
Kurz vor der Landung, also kurz vor dem Höhepunkt einer epochalen wissenschaftlichen Leistung, machte einer der wesentlich verantwortlichen Wissenschaftler, Matt Taylor, einen ungeheuren Fehler: Er gab ein Interview, bei dem er ein falsches Hemd trug.
Wie ein Hemd den Fortschritt verhindert
Tatsächlich: Statt seiner Beteiligung an einer gigantischen Leistung stand nun plötzlich Taylors Verletzung der Kleiderordnung im Mittelpunkt. Er erschien vor den Kameras in einem Hemd, das eine Freundin ihm maßgeschneidert hatte – und auf dem erotisch gekleidete Frauen zu sehen waren.
Es interessiert mich nicht, ob Du eine Sonde auf einem Kometen gelandet hast – Dein Hemd ist sexistisch und ausgrenzend
betitelten Chris Plante und Arielle Duheim-Ross daraufhin ihren bitterernst gemeinten Artikel in The Verge.
Ein kleiner Schritt für einen Mann, drei große Schritte rückwärts für die Menschheit
– so kommentierten sie, tatsächlich, in Anspielung auf Neil Armstrong die Kleiderwahl Taylors. (I don’t care if you landed a spacecraft on a comet, your shirt is sexist and ostracizing. That’s one small step for man, three steps back for humankind) Das Hemd sei nämlich typisch für das frauenfeindliche Klima in den Naturwissenschaften – so dass Frauen dadurch auch weiterhin von wissenschaftlichen Karrieren abgehalten würden.
Gleich zwei Hashtags zum Shirt-Skandal wurden bei Twitter lanciert, #shirtstorm und #shirtgate, und Taylor befand sich urplötzlich mitten in einem Shitstorm, in dem er als frauenfeindlicher Sexist dastand – als Paradebeispiel für die Sorte von Männern, die Frauen aus den Naturwissenschaften ausgrenzen würden.
Als er nach der Landung zur Mission befragt wurde, begann er daher seine Antwort einleitend mit einer Entschuldigung für seine Kleiderwahl – und mit Tränen.
Das Hemd, das ich diese Woche getragen habe…ich machte einen großen Fehler und habe viele Menschen beleidigt…und das tut mir sehr leid. (weint)
Arne Hoffmann kommentiert bei Genderama:
An demselben Tag, an dem die #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek in einem ARD-Interview heuchelte, wie sehr der Feminismus für Toleranz stehe, brachte ein feministischer Shitstorm im Internet den britischen Physiker Matt Taylor dazu, unter Tränen für die Kleidung um Verzeihung zu bitten , die er an diesem Tag getragen hatte. Er habe einen großen Fehler begangen, und das tue ihm sehr Leid. Ebenfalls am selben Tag masturbierten Feministinnen oben ohne auf dem Petersplatz mit Kruzifixen .“
Die Doppelmoral dieser Aufregung ist tatsächlich offenkundig. Wer beispielsweise Jessica Valentis triumphierend getragenes „Ich bade in Männertränen“-T-shirt mit dem Hemd Taylors vergleicht, wird dieses Hemd vermutlich recht geschmacklos finden, aber anders als Valentis Kleiderwahl nicht bösartig.
Schlimmer noch als diese eigentlich schon gewohnte Doppelmoral ist hier jedoch die Erwartung, dass alle Anerkennung für die wissenschaftliche Leistung hinter der Empörung über den Fauxpas bei der Hemdenauswahl zurückzustehen habe.
Keine Sekunde verschwenden die rechtschaffen Empörten an den Gedanken, dass möglicherweise eben gerade diese Fixierung auf Nebensächlichkeiten, die aggressiv zur Hauptsache erklärt werden, Klischees über Frauen bestätigen. Oder dass die demonstrative Verachtung gegenüber der wissenschaftlichen Leistung Taylors Frauen weiter von den Naturwissenschaften distanziert, als es ein geschmackloses T-Shirt je tun könnte.
Dass es im Internet Bullies und Trolle gibt, die aus Neid oder Beschränktheit andere gerade dann angreifen, wenn die etwas Besonderes geleistet haben – das ist nicht überraschend. Wie aber ist es möglich, dass solch ein Verhalten so weit akzeptiert, geteilt und verbreitet wird, dass ein Wissenschaftler sich beim Höhepunkt einer dekadenumspannenden wissenschaftlichen Leistung vor allem anderen zu einem verpflichtet fühlt: sich nämlich für eine als unpassend empfundene Hemdenwahl öffentlich und tränenreich zu entschuldigen?
Die feministische Wende
Natürlich hat diese Situation viel damit zu tun, dass die Vorwürfe massiv moralisierend sind. Denn einer der größten Vorteile des Moralisierens ist es ja, dass es beliebig komplexe Situationen beliebig vereinfachen kann. Ganz gleich, wie vielschichtig, kompliziert, folgenreich, ambivalent, bedeutsam, voraussetzungsreich etwas auch ist – wer moralisiert, kann es auf einen einfachen binären Code eindampfen:Ist es gut, oder ist es böse?
Besonders praktisch ist dabei, dass das moralische Register mit dem Anspruch gezogen werden kann, dass es dabei um ein ganz besonders herausgehobenes Ordnungsmuster ginge. Es kommt ja beispielsweise nicht darauf an, etwas sowohl moralisch als auch naturwissenschaftlich, ökonomisch, ästhetisch oder politisch zu bewerten und dann beide Bewertungen gegeneinander abzuwägen. Das moralische Register übertönt alle anderen: Was moralisch verachtenswert, böse ist, kann wissenschaftlich noch so herausragend sein – es ist trotzdem abzulehnen.
Diese herausragende Bedeutung der moralischen Bewertung hat gute Gründe. Es ist natürlich richtig, dass nicht jede Handlung erlaubt ist, wenn damit nur eine besondere wissenschaftliche oder künstlerische Leistung möglich wird. Es ist aber offenkundig auch verführerisch, das Moralisieren als gigantische Vereinfachungsmaschine zu benutzen:Wir müssen die Welt gar nicht verstehen – wir müssen sie nur moralisch bewerten können.
Beispiele dafür gibt es massenhaft auch jenseits geschlechterpolitischer Diskussionen, besonders im religiösen Bereich. Unvergessen ist die Fatwa , die Ajatollah Chomeini gegen den muslimischen Autor Salman Rushdie ausgesprochen hatte – ein Tötungsaufruf, der den Autor über Jahre hinweg zu einem Versteckspiel zwang.
Rushdies Feinden war es völlig gleichgültig, wie komplex und vielfältig er in seinem Roman The Satanic Verses die Position von Muslimen zwischen Indien und Großbritannien, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Tradition und Modernisierung durchspielte.
Wichtig war ihnen lediglich, dass er den Propheten Mohammed auf eine ungehörige Weise – übrigens als pragmatischen Geschäftsmann, der seine Version der Religion den Bedürfnissen des Publikums anpasste – darstellte. Dafür war es selbstverständlich nicht nötig, das Buch auch zu lesen, für das sie den Autor gern ermordet hätten – es wäre sogar schädlich gewesen und hätte vom vermeintlich Wesentlichen abgelenkt.
Dieselbe anmaßende Komplexitätsverachtung findet sich auch in der anti-religiösen Aktion der Femen, auf die Arne Hoffmann in der oben zitierten Passage aufmerksam macht. Im Protest gegen eine Rede des Papstes vor dem europäischen Parlament präsentieren sie sich halbnackt auf dem Petersplatz und benutzen öffentlich Kruzefixe als Hilfsmittel bei der simulierten Masturbation.
Das komplexe Wechselverhältnis zwischen politischen und kirchlichen Strukturen, die Bedeutung des Platzes, die Bedeutung religiöser Symbole – all das verschwindet gleichsam in den Hintern der Femen-Frauen, an denen sie publikumswirksam die kleinen Kreuze reiben.
Eben das ist ein Hinweis auf einen besonderen Beitrag feministischer Ansätze zur moralisierenden Komplexitätsvernichtung. Hier geht es nicht einmal mehr darum, dass Menschen gemeinsame moralische Maßstäbe aushandeln müssen, die dann auch für wissenschaftliche, ökonomische, politische oder künstlerische Leistungen verbindlich wären. Gewalt sei nämlich so grundsätzlich in das Geschlechterverhältnis eingelassen, dass es eine offene, freie, gemeinsame Aushandlung zwischen Frauen und den herrschenden Männern gar nicht geben könnte. Eine haltbare Perspektive, die nicht lediglich Herrschaftsansprüche reproduziere, könne allein die Perspektive der Opfer sein.
Dieser Ansatz führt die moralisierende Komplexitätsvernichtung in ein Extrem. Nun geht es nicht mehr nur darum, wissenschaftliche und andere Register einem moralischen Register unterzuordnen – noch dazu hat sich dieses moralische Register ganz an dem subjektiven Empfinden der Einzelnen auszurichten. Übrig bleibt am Ende eine einzige gültige Beurteilung der Welt:Fühle ich mich wohl, oder fühle ich mich nicht wohl?
So kann dann eine gigantische wissenschaftliche Leistung problemlos hinter der Aufregung über ein Hemd verschwinden, von dem sich einige Frauen angegriffen fühlen. Die kopernikanische Wende? Ob sich die Erde um die Sonne dreht, oder die Sonne um die Erde – ganz egal. ICH drehe mich um meinen Hintern – und nur das zählt.
Wer sich in dieser Weise tagaus tagein um sich selbst dreht, kann dann eben auch von der Welt erwarten, dass sie gefälligst in dieselbe Umlaufbahn einmünden sollte – weil sich diese Welt ansonsten schließlich marginalisierend verhalten würde, oder ausgrenzend (ostracizing), oder diskriminierend.
Die tränenreiche Selbstbezichtigung Taylors ist eben das notwendige Gegenstück zu diesem konsequenten Selbstbezug. Es gibt hier keine gleichberechtigte Verständigung verschiedener Positionen, in der beide Seiten sich zunächst einmal gegenseitig anerkennen müssten. Es gibt lediglich auf der einen Seite eine Position, die sich als absolut setzt – und auf der anderen eine, die diese Setzung anerkennen muss und sich dabei selbst vernichtet.
Wie es möglich ist, solche antizivilen Verhältnisse überhaupt zu etablieren, lässt sich an einem Artikel aus einer Jugendzeitschrift zeigen.
Wie man Jungen beibringt, dass sie Widerlinge sind
Im Jugendmagazin jetzt der Süddeutschen Zeitung schreibt der Autor Jan Stremmel über ein virales Video, das eine angetrunkene Frau und die Reaktionen von Männern auf sie zeigt. Angeblich hätten sämtliche Männer, die sie anspricht, versucht, ihre Situation auszunutzen und ihr körperlich nahezutreten.
Stremmel kommt gar nicht erst auf die Idee, dass das Video ein Fake ist und sowohl das Handeln der Frau als auch die Reaktionen der Männer einstudiert sind.
Er wird aber wütend und denkt zurück an das Hollaback-Video, das kurz zuvor den Gang durch die Stadt New York als Spießrutenlauf einer Frau durch sexistische Männerkommentare hindurch präsentiert hatte.
Ich kam mir als Mann ungerecht behandelt vor. Alle Videos, die da in letzter Zeit kursieren, wurden auf einen Zweck hin produziert und geschnitten (…:) zu zeigen, dass alle Männer potentiell Raubtiere sind. Dass man sich das Leben als Frau wie einen Spießrutenlauf zwischen sexhungrigen Hyänen vorzustellen hat.
Er möchte zunächst mit einem „Fickt euch“ auf das Video reagieren, redet aber zuvor noch mit ein paar Frauen. Und er erfährt: Der alltägliche Sexismus falle Männern nicht auf, weil Frauen sich daran gewöhnt hätten und gar nicht mehr darüber reden würden. Tatsächlich aber seien sie zu einer beständigen Kapitulation „vor einer subtilen männlichen Dominanz“ gezwungen.
Die sich zum Beispiel auch in einem Kompliment äußert: Wenn ein Mann ‚Tolle Haare!‘ ruft, ist das eine Bewertung, die eine Reaktion verlangt. Und wer reagiert, macht das Spiel mit.
Schließlich kommt Stremmel zu dem Schluss, dass sein Ärger wohl gerechtfertigt ist – dass er sich aber nicht über die Videos, sondern über den beständigen sexistischen Druck der Männer auf Frauen ärgern sollte. Und so beendet er den Artikel, den er mit dem Wunsch zur Gegenwehr begonnen hatte, mit einer Selbstbezichtigung:
Ach so, und dass ich am Anfang das Sommerkleid der angeblich Betrunkenen erwähnt habe, ist übrigens auch kacke. Im Englischen nennt man das ‚victim blaming‘.
Wir Widerlinge ist dieser Artikel überschrieben – und das wäre, zumal da es ein Text aus einer Jugendzeitschrift ist, nur dann legitim, wenn diese Überschrift im Text relativiert, ironisiert oder gebrochen würde. Tatsächlich aber mündet der Artikel in ihrer Bestätigung: Es gäbe eine allgegenwärtige männliche, sexistische Dominanz gegenüber Frauen – und auch die Männer, die wie Tremmel glauben, sie hätten daran keinen Anteil, müssten schließlich ihre Schuld anerkennen.
Es ist verrückt, dass ein Text in einer Jugendzeitschrift erscheint, der es Jungen nahelegt, sich als Angehörige des Geschlechts derWiderlinge zu identifizieren. Nach der Logik der Selbstbezichtigung gibt es hier schließlich nur einen einzigen Ausweg aus der Schuld, der Schuld, der großen Schuld, männlich zu sein: Nämlich diese Schuld offen anzuerkennen und sich nicht von ihr auszunehmen.
Warum eigentlich wird solch ein Text nicht als jugendgefährdend eingestuft? Was Stremmel schreibt, ist schließlich tatsächlich widerlich, und es ist auch sexistisch. Es trifft aber nicht Frauen und Mädchen, sondern Jungen.
Es ist aber auch in der unverhohlenen Bereitschaft zur moralischen Selbstvernichtung das notwendige Gegenstück, das eine Kultur der moralisierenden Selbstverherrlichung braucht – eine Kultur, die sich gerade an einem Mann austobt, der an einer der erstaunlichsten wissenschaftlichen Leistungen der Gegenwart beteiligt ist.
Der Artikel erschien zuerst auf man tau.