Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt sind viele Bücher und Sonderausgaben von Zeitungen und Magazinen erschienen. Auch Fernsehen und Hörfunk erinnerten ausführlich an den bedeutenden Staatsmann und SPD-Vorsitzenden.
Wirklich Neues konnte kaum mehr mitgeteilt werden, es sei denn, man hätte zuvor eine Persönlichkeitsstudie aus der Perspektive seiner Haut vermisst, die nun in der biografischen Publikation „Die Familie Willy Brandt“ 25 Seiten lang nachgereicht worden ist.
Umso herausragender die Ausarbeitung von Gertrud Lenz. Denn wer kennt schon Gertrud Meyer, die „im Schatten Willy Brandts“, so der Untertitel dieses Buches, lebte und arbeitete? Diese Frau hat Willy Brandt persönlich und politisch in den Anfangsjahren seines Wegs in Lübeck begleitet und unterstützt und dann nach seiner Flucht vor den Nazis und während seines Exils in Norwegen. Mit ihm stand sie, unter Lebensgefahr, im Widerstand gegen die NS-Diktatur. Nachdem sie im Mai 1933 als Mitglied der verbotenen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) verhaftet worden war, folgte sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im Spätsommer Willy Brandt nach Oslo. Beide führten eine Ehe ohne Trauschein, denn Gertrud Meyer sicherte ihren Aufenthalt im Exil durch eine „Passehe“ mit einem Norweger ab.
Für den Lebensunterhalt sorgte zunächst vor allem sie, anfangs als Haushaltshilfe, bald als Geschäftsführerin der SAP. Nicht zuletzt dank ihrer organisatorischen Fähigkeiten, so bei der Beschaffung von Ressourcen, entwickelte sich Oslo bald zum wichtigen Stützpunkt der SAP. Schließlich fand sie eine gut bezahlte Anstellung bei den nach Norwegen emigrierten Medizinern und Psychoanalytikern Otto Fenichel und Wilhelm Reich, Schüler Sigmund Freuds. 1939 folgte sie berufsbedingt Wilhelm Reich in die USA. Politisch aktiv und weiterhin in enger Verbindung mit Willy Brandt blieb sie auch von dort aus.
Politisch entwickelten sich ihre Positionen jedoch auseinander. Sie blieb ihren ursprünglichen linkssozialistischen Überzeugungen weitgehend treu. Brandt dagegen wandelte sich vom revolutionären Sozialisten zum sozialen Demokraten und fand den Weg von der SAP im Herbst 1944 mit weiteren Mitgliedern seiner SAP-Gruppe im Exil zur 1930 verlassenen SPD zurück.
Die persönliche Beziehung zerbricht 1942, Brandt ist seit 1941 mit der Norwegerin Carlota Thorkildsen verheiratet. Als diese Ehe scheitert, will Gertrud Meyer erneut Kontakt mit Brandt aufnehmen. Brandt jedoch verband inzwischen eine feste Beziehung mit der Norwegerin Rut Bergaust, beide heirateten 1948.
Trotz ihrer Bedeutung für die Arbeit im Exil und im Widerstand mit Willy Brandt, außerdem über die persönliche Beziehung hinaus aber auch in eigenständiger Position als Leiterin der SAP-Gruppe, gab es bisher keine Rekonstruktion ihres Lebens und Wirkens. Für ihr bisheriges Schattendasein hatte zum einen Willy Brandt selbst gesorgt, der an sie in seinen beiden Autobiographien lediglich als Partnerin im privaten Bereich erinnerte. Diese Sichtweise übernahmen durchweg auch Brandts Biographen (Jugendliebe, Freundin, Lebensgefährtin, Frau Willy Brandts).
Aber auch Gertrud Meyer selbst wollte sich über diesen biographischen Abschnitt öffentlich nicht äußern, nicht allein bedingt durch ihre charakterliche Zurückhaltung und Bescheidenheit. Vor allem wollte sie Willy Brandt schützen, als er von politischen Gegnern unterschiedlicher Couleur wegen seines Exils diffamiert wurde. So misslang der Versuch, ihre Identität zu ermitteln und sie für Kampagnen auszuforschen, selbst vor Ort in Oslo, wo Gertrud Meyer bis zu ihrem Tod 2002 lebte. Der „Kundschafter“ wusste sich schließlich mit Stasi-Material zu versorgen.
Gertrud Lenz hebt hervor, mit ihrer Forschungsarbeit „auch die Forderung des Genderansatzes an die Geschichtswissenschaft“ umzusetzen, „die kulturellen, sozioökonomischen und politischen Lebensleistungen von Frauen sichtbar zu machen und in die Geschichtsforschung einzubeziehen“ (S. 9). Mit ihrer Pionierarbeit zu Gertrud Meyer gelingt es der Autorin, ein bisher von der großen Persönlichkeit Brandt zu Unrecht verdecktes Leben und Wirken aus dessen Schatten endlich ins Licht zu holen.
Gleichzeitig gewinnt aber die Rekonstruktion der Biographie Willy Brandts durch die Einbeziehung seiner in der frühen politischen Lebensphase bedeutenden Partnerin „an Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit“ (S. 10). Mit diesen bisher weitgehend verborgenen Neuentdeckungen und Ergänzungen wird deutlich, wie voreilig es war, die Publikation eines Historikers zu Willy Brandt bereits 2001 als „Die Biographie“ zu deklarieren.
Nach mehrjährigen Recherchen in Archiven und unter Auswertung wohl sämtlicher Fundstücke in der Literatur ist Gertrud Lenz, Wissenschaftlerin im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, eine umfassende, wohl vollständige Rekonstruktion von Leben und Wirken Gertrud Meyers gelungen. Wie sorgfältig sie ihre Ausführungen belegt, beweisen fast 100 Seiten Anmerkungen im Anhang, außerdem ein 24seitiges Literaturverzeichnis. Trotz Verfolgung und Krieg – nach der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht musste Brandt nach Schweden fliehen – konnten doch erstaunlich umfangreiche Primärquellen vor dem Zugriff der Nazis gerettet werden. Ein Personenregister erleichtert späteres Nachschlagen. Auch buchtechnisch ist dem Verlag eine exzellente, sehr sorgfältig lektorierte Publikation gelungen.
Gertrud Lenz: Gertrud Meyer 1914-2002, Ein politisches Leben im Schatten Willy Brandts, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013, 394 S., davon XX S. Anmerkungen und XX S. Quellen- und Literaturverzeichnis, gb.; ISBN 978-3-506-77569-6; 39,90 €