Wir brauchen eine Geschlechterforschung, die diesen Namen auch verdient

Markus Meier 3565r76ugj

Interview mit Prof. Dr. Markus Meier

23. Juli 2015

Markus Meier studierte Deutsch, Geschichte, Philosophie und Musik und promovierte 2008 an der Universität in Frankfurt am Main zum Thema „Musikunterricht als Koedukation?“. Er ist heute Professor für Ciencias de Educación an der Universidad Externado in Bogotá in Kolumbien.

Markus Meier 3565r76ugjEr befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema der „gleichen Behandlung von (biologisch) Ungleichen“ im Bildungswesen. Das Ergebnis seiner Studien hat er nun in einem Buch “Lernen und Geschlecht heute” veröffentlicht. Prof. Markus Meier gab Bruno Köhler von MANNdat ein Interview.

„Jungenbenachteiligung als solches ist inzwischen unbestritten“

7687b97n98unp89mu09i09MANNdat: Sehr geehrter Herr Meier, Sie sind Autor des Buches „Lernen und Geschlecht heute“ vom Verlag Könighausen & Neumann. Das Buch haben wir auf unserer Homepage rezensiert. Was war Ihre Motivation, über geschlechterspezifische Pädagogik zu schreiben?

Prof. Markus Meier: Das kam eigentlich eher zufällig, ich wollte erst über AG-Arbeit an der Schule schreiben, da ich das für eine ganz hervorragende Form von Lernen halte, die als „fast Freizeit“ viel zu wenig wertgeschätzt wird in der Erziehungswissenschaft. Dann schlug mir mein Doktorvater das Thema „Die starke Überlegenheit des schwachen Geschlechts“ vor, mit einem Augenzwinkern. So bin ich Anfang des neuen Jahrhunderts bei den Jungen gelandet, das war damals noch ein ganz exotisches Thema, viele fragten ungläubig-abwehrend nach „Wie, Jungen sind benachteiligt? Nee, Mädchen?“ Inzwischen liegen viel mehr Daten auf dem Tisch, das Thema Jungenbenachteiligung als solches ist inzwischen unbestritten, wir haben aber einen – wie die Politik sagen würde – Reformstau, den anzusprechen oder gar aufzulösen sich kein Wissenschaftler oder Bildungspolitiker so richtig traut.

Das Bundesjugendministerium behauptete 2013 auf unsere Anfrage zur Jungenleseförderung, es gäbe keine geschlechterspezifischen Lesekompetenzunterschiede. Wie sieht die Bildungssituation von Jungen wirklich aus? Haben sich Jungen vom PISA-Abseits erholt?

Entweder das Bundesjugendministerium ist schlecht informiert von seiner wissenschaftlichen Abteilung oder es lügt seine Bürger rundheraus an – man weiß nicht, was schlimmer wäre. Aber das ist auch genau das Problem, das ich oben meinte: Das Thema will niemand wahrhaben, und da Politiker v.a. geliebt werden wollen, meiden alle dieses irgendwie „unsympathische“ Verlierer-Thema. Das gibt politisch nichts her, kostet Wähler- und v.a. Wählerinnenstimmen gleichermaßen, von parteiinternen Abseitsfallen mal ganz abgesehen. Das muss man erst einmal so hinnehmen, dass in der Politik manchmal auch viel Unsinn erzählt wird. Haben sich Jungen vom PISA-Abseits erholt? Nein, das hat auch PISA 2012 wieder deutlich gemacht. Aber es interessiert irgendwie auch niemanden, es geht nur um das „Aufholen“ der Mädchen. Als Vater von drei wunderbaren Töchtern sage ich trotzdem: Das ist unseriös. Ich habe fünf Abwehrstrategien aufgelistet in meinem Buch, mit denen sich Politik und leider auch Erziehungswissenschaft um das Thema herumdrücken:

1. Das häufigste Muster ist das Ignorieren von Jungenbenachteiligung. In der neuesten PISA-Studie zum Thema „Ursachen von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungsbereich“ etwa (abrufbar unter http://www.oecd.org/pisa/pisaproducts/pisainfocus/PIF-49%20(ger).pdf), die sich ja explizit diesem Thema widmet, wird der literacy-Nachteil der Jungen (der ja in Deutschland 4-fach höher ist als der Mathenachteil der Mädchen) kaum thematisiert und stattdessen über Mädchen und Mathe „herum philosophiert“.  Dabei ist dieser Nachteil viel geringer und lebenstechnisch viel unbedeutender, aber die OECD muss sich so eben nicht nachsagen lassen, sie habe das Thema Geschlechterunterschiede ignoriert, es gibt ja die Broschüre. Das politisch Opportune siegt über das wissenschaftlich Gebotene – und die OECD ist eben v.a. erst einmal eine politische supranationale Organisation, die es allen irgendwie recht machen muss, damit die beteiligten Staaten sie weiter finanzieren.

2. Man bescheinigt Jungen eine niedrigere Begabung und Intelligenz. Darauf werde ich weiter unten eingehen, denn das ist falsch und richtig zugleich.

3. Man schiebt den Jungen die Schuld für ihre Probleme selbst in die Schuhe. Nicht Jungen haben in dieser Logik ein Problem mit einer jungenfeindlichen Schule, sondern Schule hat ein Problem mit pädagogikinkompatiblen Jungen; die passen einfach nicht, so die Argumentation. PISA etwa hypostasiert, die Leseprobleme lägen pauschal am Videospielkonsum der Jungens – ohne das weiter zu belegen. Die Botschaft: Jungen sind doch selbst schuld!

4. Man verrechnet intern die jeweiligen Benachteiligungen und rundet die beiden ungleichen Leistungsunterschiede (Mädchen in Mathe, Jungen in Sprachen) dann auf Null. PISA macht das sogar grafisch, die heben sich quasi auf, sehr amüsant und völlig unsinnig!  So scheint dann im Großen und Ganzen alles in Ordnung. Unberücksichtigt bleibt, dass Mathe für die meisten von uns (Männer und Frauen) nach der Schule eine kaum noch benötigte Spezialdisziplin wird, während ein unsicherer sprachlicher Auftritt, Schwierigkeiten sprachliche Nuancen beim Gespräch mit dem Gegenüber wahrzunehmen, Schwierigkeiten Texte zu erfassen und korrekt und überzeugend selbst zu schreiben ein echtes berufliches Handikap darstellt, auch schon in einfachem Beruf.

5. Man verrechnet extern die Jungenbenachteiligung. „Das mit den Jungen ist zwar bedauerlich, wir haben auch eigentlich gar nichts gegen Jungen …“, heißt es dann als Subtext, „aber dafür werden ja auch mehr Männer Professoren und Millionäre etc.“  PISA benutzt diesen Kniff jetzt auch, indem etwas blauäugig behauptet wird, Männer holten ihren Lesenachteil im Laufe des Berufslebens sowieso wieder auf, es sei also alles irgendwie OK. Auch der Generalverdacht gegen Jungen und Männer „Ihr seid uns das jetzt einfach mal schuldig, ihr habt uns 2000 Jahre unterdrückt und unterdrückt uns im Sudan etc. noch immer etc. etc.“ ist eine wissenschaftlich zwar völlig haltlose, aber deshalb nicht unbeliebte Abwehrstrategie; externe Verrechnung.

„Wir Pädagogen müssen uns fragen: Wie können wir eine jungengerechtere Schule schaffen“

Die CDU-Bundeskanzlerin meinte, Jungen seien weniger fleißig als Mädchen, der grüne Jürgen Trittin sieht Jungen pauschal weniger begabt als Mädchen und die ehemalige Jugendministerin Bergmann von der SPD war nach dem PISA-Schock der Auffassung, wegen des Hirnbalkens der Jungen könnten diese nicht so gut lesen wie Mädchen. Was halten Sie als Erziehungswissenschaftler von solchen erziehungswissenschaftlichen „Erklärungen“ und worin sehen Sie die wirklichen Ursachen für das geschlechterspezifische Bildungsgefälle zuungunsten der Jungen?

Diese Argumente sind nicht ganz richtig und nicht ganz falsch, denn sie verweisen auf soziale und biologische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Mädchen sind fleißiger in der Schule, investieren mehr Zeit in Hausaufgaben und verhalten sich viel schulkonformer, konkurrieren v.a. in der Regel nicht mit dem Lehrer. Ich würde Merkels Spruch sogar noch verschärfen: Jungen sind einfach  anstrengender – aber gerade deshalb muss die Argumentation anders herum gehen. Wir Pädagogen können nicht immer nur jammern „Die sind nicht so, wie wir sie gern hätten“, sondern müssen uns fragen: Wie können wir eine jungengerechtere Schule schaffen; eine Schule etwa, die weniger reproduktiv ist, sondern viel explorativer und erfahrungsgesättigter; eine Schule, die weniger auf abwartende Anpassung fokussiert, sondern Raum für Bewährungssituationen bietet; eine Schule, in der Stillsitzen nicht die höchste aller Tugenden ist (dafür gibt es in vielen Fällen schon eine zwei-minus, ich war lange selbst Lehrer und weiß, wovon ich rede), sondern überbordende männliche Motorik konstruktiv berücksichtigt wird; eine Schule auch, die nicht von weiblichen Professionellen beherrscht wird, sondern in denen sich Männer den Größenphantasien der Jungens stellen, diese als Herausforderung, aber auch Bereicherung verstehen – und sich nicht wegducken und hämisch auf die nächste Zeugniskonferenz freuen. Das ist anstrengend, sehr anstrengend sogar, ja – aber das ist eben auch die Aufgabe von Schule, diese Generationenkonflikte auszutragen, auszuhalten und positiv zu lenken – Pädagogik heißt ja ursprünglich „Jungenlenkung“. Schule (und Politik und Wissenschaft) sind eben auch konfliktive Orte, nicht nur Orte der Harmonie.

Dass Jungen weniger begabt seien als Mädchen ist falsch und richtig zugleich. Wenn Trittin unter „Begabung“ die General Intelligence g versteht, so streut dieser Wert bei Männern tatsächlich stärker, als bei Mädchen. Es gibt mehr sehr dumme, aber auch mehr sehr intelligente Jungen (Männer) als Mädchen (Frauen), die Mädchen (Frauen) kreisen eher um den Mittelwert. In den letzten Perzentilen (also den untersten und den obersten Abschnitten auf der Gaußkurve) ist die Ratio etwa 1:7 – Frauen:Männer. Das heißt aber, dass auf eine „klügste“ Frau sieben „klügste“ Männer kommen – bei der Besetzung von Professuren ist das sicherlich kein unbedeutendes Argument. Wie gesagt, je nachdem wie man Intelligenz misst (da gibt es unter Psychologen zwar auch verschiedene Ansichten, aber die meisten benutzen g) gibt es darum auch ein Übergewicht der Männer bei den „ganz dummen“. Jürgen Trittin wollte sich mit dem coolen Spruch aber vermutlich eher bei den Parteifreundinnen als Zuverlässiger zurückmelden (ein bisschen hechelnd, wie ich finde), vielleicht auch als „mächtiger Mann“ ein bisschen „lustig“ nach unten treten – und weiß ansonsten offensichtlich nicht, wovon er spricht. Das gleiche gilt für die Bergmann, das ist noch dümmer. Diese Herrschaften ignorieren in der Regel konsequent insbesondere biologische Erklärungen des Geschlechterunterschieds, aber wenn sie dann irgendwo irgendwas aufgeschnappt haben, was ihnen in den politischen Kram passt, dann soll´s auch recht sein. Heraus kommt dann so etwas. Es sei einfach mal ganz unpathetisch darauf hingewiesen, dass cum grano salis alle großen Leistungen in der Sprache und Literatur, der Kunst und der Musik, von Wissenschaft und Technik hier mal zu schweigen, von Männern erbracht wurden – es gibt keinen Grund, uns beschimpfen oder auch nur verunsichern zu lassen, überhaupt keinen!

Was tun? Ich habe da auch kein Pauschalrezept, die Lage ist besorgniserregend, insbesondere bei den männlichen Hauptschülern, unter ihnen v.a. unter den eingewanderten, aber auch an den „genderisierten“ Gymnasien. Das Problem ist zuerst einmal ein Problem der staatlichen Zwangsinstitution Schule, das sie lösen muss – so wie Griechenland seine Finanzämter reformieren muss, so muss Deutschland seine Schulen effizient-jungengerecht machen, beides duldet keinen Aufschub! Dazu muss in der Erziehungswissenschaft eine Geschlechterforschung etabliert werden, die diesen Namen auch verdient, die theoriegeleitet und empiriegesättigt konkret Best practice-Ansätze für Jungenpädagogik entwickelt und erprobt, die selbstbewusst und selbstverständlich dieses Thema aufnimmt und diese Probleme erforscht und löst – statt dort akademisch eher mäßig begabte, ausschließlich Frauen zu parken, die die Probleme, die sie zu lösen vorgeben eher zementieren, und im schlimmsten Fall ihre politischen Grillen auf Kosten der nächsten Generation ausleben, denn auch das gibt es (selbstverständlich nur ganz vereinzelt) unter dem widersprüchlichen Label „Frauen- und Geschlechterforschung“ heute. Hierzu bräuchten wir allerdings auch eine akademische und politische Klimaerwärmung für Jungenthemen, die spüre ich im Moment leider noch nicht, aber diese Dinge verändern sich eben auch sehr langsam und sind komplex.

Es spielen auch außerpädagogische Faktoren wie die Marginalisierung der Männer/Väter in den Familien, Erfahrungen struktureller Gewalt bei Scheidungen, eine allgemeine konfliktscheu-harmonisierende Verweiblichung der Gesellschaft, aber auch unsichere berufliche Aussichten gerade auch für Gering-qualifizierte eine große Rolle.

Ich forsche gerade hier an einer Schule, die zwar räumlich koedukativ, klassenmäßig aber getrennt ist: Jungens und Mädchen fahren also morgens in die gleiche Schule, treffen sich in der Pause, es soll auch schon zu Verabredungen zwischen beiden Geschlechtern gekommen sein – der Unterricht aber ist nach Geschlechtern getrennt. Die Schule ist erstaunlich erfolgreich damit. Wie gesagt, wir brauchen viel seriöse, methodisch saubere erziehungswissenschaftliche Forschung zu dem Thema, aber evtl. gehört die Koedukation auf den Prüfstand.

„Väter haben nicht nur keine Emanzipation erreicht, sie sind völlig marginalisiert worden durch den Gesetzgeber“

Ihr Buch beleuchtet nicht nur Bildungspolitik, sondern kritisiert auch die Einseitigkeit von Geschlechterpolitik, z.B. auch im Hinblick auf eine Väter-Marginalisierungen-Familienpolitik. Das ist gerade im Hinblick auf die neuen Frauenquotengesetze sehr aktuell. Wo sehen Sie hier wichtige Versäumnisse und wichtige Ansätze einer modernen Geschlechterpolitik?

Geschlechterpolitik läuft in Deutschland zu stark nach dem Motto: Wenn Frauen irgendwo einen Nachteil haben, muss etwas geschehen, wenn Männer einen Nachteil haben, so gehört es sich einfach nicht, das anzusprechen, es ist entweder dämonisch oder lächerlich oder beides. Nehmen wir die Beispiele „Mädchen und Mathe“, da ist in den letzten Jahren unglaublich viel Geld rein geflossen, das Thema ist medial perfekt verankert – von der viel dramatischeren Leseschwäche der Jungen spricht kein Mensch. Aber auch die Unterrepräsentanz von Frauen in Aufsichtsräten ist unserer Politik parteiübergreifend ein Herzensanliegen – dass bei den „miesen Jobs“ wie Nachtportier, Fernfahrer oder Maurer kaum Frauen anzutreffen sind, interessiert niemanden. Teilt man unsere Lebenswirklichkeit ganz grob in die Bereiche Arbeit und Familie, so lässt sich konstatieren: Frauen haben im Bereich Arbeit in den letzten Jahrzehnten mit den Männern gleichgezogen, reklamieren v.a. im Öffentlichen Dienst erhebliche Privilegien, der Bereich Familie jedoch ist im gleichen Zeitraum ebenfalls in eine völlige Deutungshoheit der Frauen/Mütter übergegangen, hier haben Männer/Väter nicht nur keine Emanzipation erreicht, sie sind völlig marginalisiert worden durch den Gesetzgeber. Dieses Geschlechtermodell konnte nicht funktionieren und es funktioniert auch nicht, es beflügelt nur weibliche Allmachtsträume.

Eine moderne Gleichstellungspolitik müsste v.a. im Bereich Familie ansetzen und hier eine neue, auch juristische, Balance herstellen. Eine „nachholende Emanzipation“ sozusagen. Dass immer nur auf eine vermeintliche Benachteiligung im Bereich Arbeit hingewiesen wird, ist empirisch fraglich und gerechtigkeitstheoretisch falsch. Zum einen ist Arbeit wohl für die meisten Männer und Frauen eine notwendig-nervige Plackerei, nicht die Wahl zwischen Aufsichtsrat, Lehrstuhl oder Boutiqueeröffnung, wie sich die Politik das so vorstellt. Zum zweiten ist Arbeit für viele notwendiger Gelderwerb, um die Familie zu ernähren, erst so erhält sie lebensweltlich ihren Sinn. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre z.B. Frauenbeauftragte durch Familienbeauftragte zu ersetzen, um die Reproduktionsleistungen, die Männer und Frauen für die Gesellschaft erbringen oder schon erbracht haben, zu berücksichtigen, wenn es um ausbalancierte Personalpolitik zwischen betrieblichen und gesamtgesellschaftlichen Interessen geht. Warum Väter konsequent ignorieren und stattdessen Frauen fördern, die überhaupt keine Reproduktionsleistungen erbracht haben (müssen)? (schüttelt den Kopf)

„Männer verloren 1976 entscheidende Rechte in der Familie, ihre Pflichten wurden jedoch sogar verschärft.“

Nun sind wir aber von einer modernen Geschlechterpolitik, die auch die berechtigten Anliegen von Jungen und Männern berücksichtigt, noch weit entfernt. Geschlechterpolitik kann seit 40 Jahren nur Frauenquote, sonst nichts. Welche Auswirkung hat dies für die Empathie für Jungen und junge Männer, ist doch – pragmatisch gesehen – jeder Junge, der im Bildungssystem scheitert und arbeitslos auf der Straße landet, ein Gewinn für die Frauenquote?

Das ist ein weites Feld. Lassen sie mich auf einige Eckwerte eingehen, da sie das Geschlechterverhältnis auf den Kopf gestellt haben und Jungen heute eine biographische Orientierung sehr schwer machen. Zuerst: Man darf glaube ich die Frauenquote nicht so „gerechtigkeitsidealistisch“ sehen, wie das gern verkauft wird, da spielen sehr handfeste ökonomische, politische, wahltaktische und inzwischen demographische Gründe eine Rolle. Die politische Forcierung von Frauenarbeit war ja in den Nachkriegsjahren eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme; es herrschte jahrzehntelanger Arbeitskräftemangel, der durch „Gastarbeiter“ und eben auch Frauen behoben werden sollte, Frauen waren Arbeits- und Bildungsreserve. Außerdem zahlte nur eine Frau, die arbeitete, auch Steuern. In der DDR war die Situation ähnlich. Diese neue Konstellation verschaffte dem Staat Mehreinnahmen, die er in soziale Wohltaten umsetzen konnte (und sich so Wählerstimmen sichern konnte), sie verschob aber das Kräftegleichgewicht in der Familie, quasi als Nebenwirkung. Die traditionelle eheliche Balance von „Alimentation“ (männlich) gegen „Loyalität und Kinderbetreuung“ (weiblich) geriet aus den Fugen. Der Staat reagierte in den fortschrittsseligen Siebzigern mit einer Eherechtsreform, die die Loyalitätspflicht faktisch abschaffte, die Alimentationspflicht aber ausdehnte auch auf Unverheiratete und Geschiedene und deren Kinder. Anders herum gesagt: Männer verloren 1976 entscheidende Rechte in der Familie, ihre Pflichten wurden jedoch sogar verschärft. Frauen(teil)erwerbstätigkeit wurde zwar zum Regelfall, damit auch eine gesteigerte weibliche Autonomie, im Konfliktfall musste jedoch weiter der Mann auch für die Frau und seine/deren Kinder aufkommen – bald sogar außerhalb und nach einer Ehe. Eine Milchmädchenrechnung!

Dass die neue Autonomie der Frauen nicht zu einer Emanzipation von Männern in Familiendingen geführt hat, dass also Frauenerwerbstätigkeit nicht zur Entlastung von Männern im Arbeits- und Stärkung im Familienbereich geführt hat, sondern mit viel akademisch-moralischem Blabla die Familie vollständig in die Deutungsmacht der Frauen überging, das ist glaube ich der eigentliche Knackpunkt des gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses, da hakt es.  Es wäre ja in den Siebzigern durchaus denkbar gewesen, z.B. eine Sorgerechtsquote für Väter einzuführen oder neben der Loyalitätspflicht auch die Alimentationspflicht abzuschaffen, das aber war politisch nicht angesagt. 

Dazu muss man wissen, dass in der Geschlechterpsychologie davon ausgegangen wird, dass Frauen eher empathisch, Männer hingegen eher systemisch denken und agieren – politisch z.B. wählen Frauen nachweislich eher Gesichter, Männer Programme. Frauen werden eher sich über Wahlgeschenke freuen und dem sympathischen Politonkel wenn schon nicht ihr Herz, so doch ihre Stimme schenken, Männer werden kühler fragen „Wer bezahlt das eigentlich?“ Deshalb muss die Politik, um Mehrheiten zu gewinnen, von Männern zu Frauen umverteilen. Man wird jetzt denken „Aber die Hälfte der Wähler sind doch Männer, wieso lassen die sich das bieten?“ Dem ist aber nicht so. Durch die um 7 Jahre längere Lebenserwartung und das exponentielle Anwachsen des Altenüberschusses in der Bevölkerungspyramide werden die Interessen von alten Frauen das politische Klima in den nächsten Jahren zunehmend beherrschen, bei der letzten Hamburgwahl z.B. wählten schon 10% mehr Frauen als Männer! Menschen unter 18 Jahren sind sowieso wahltechnisch nicht existent, steuerzahlende Männer zwischen 25 und 55 Jahren halten zwar ökonomisch das Rad in Schwung, sie entscheiden aber keine Wahlen (mehr).

Im Gegenteil, selbst eine Politik, die diese leistungsfähigen Männer abhängt kann sich darauf verlassen, dass die ihre Steuern trotzdem gesetzeskonform schön an den Staat abführen werden; Männer und Väter sind als Wähler einfach uninteressant. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat das schon vor Jahren erforscht: „Wie kann die CDU der Gefahr entgehen, durch die kommende Welle eher linksalternativ geprägter Babyboomer, die jetzt alt werden, politisch an den Rand gedrängt zu werden?“, war die Frage. Die Antwort war eindeutig: „Auf die alten Frauen setzen!“ Auch deshalb funktioniert die GroKo ja so lautlos effektiv männerfeindlich, das Ganze dem Wähler und der Wählerin natürlich verkauft als kleine Aufmerksamkeit nach jahrhundertelanger Benachteiligung etc. Der scheiternde junge Mann ist kein Gewinn für die Politik. Politik ist nicht per se jungen- und männerfeindlich, aber seine Wählerstimme ist uninteressant, das macht sie völlig unempfindlich gegenüber seiner Situation.

Wie leben junge Männer und Frauen damit? Sie gehen das finanzielle, emotionale und soziale Risiko Ehe und/oder Kinderkriegen einfach nicht mehr ein, eine Gesellschaft stirbt sich selbst aus. Hat es noch nie gegeben …

„Wer die Propheten und Prophetinnen der Neuen Zeit kritisch befragt, ist schnell Frauen- und Menschenverachter, Rechtsradikaler“

Das Marginalisieren von Jungen und deren Anliegen ist heute allerdings gesellschaftlich und politisch en vogue. Leben wir heute in einer jungenfeindlichen Gesellschaft?

(Pause) Junge Männer waren und sind in vielen Gesellschaften immer schon eine ganz besondere Gruppe. Auf der einen Seite ruht die Zukunft des Stammes (oder sein modernes Äquivalent) auf ihnen, die Gesellschaft ist auf starke Männer angewiesen, auf der anderen Seite ist ihre ungerichtete soziale Kraft und ihr kreatives, aber evtl. auch destruktives Potential abschreckend, „die Jugend von heute …“ war immer schon irgendwie suspekt. Viele Gesellschaften kennen „Initiationsphasen“ für junge Männer (kaum für junge Frauen), in denen getestet wird, ob der junge Mann stark genug ist, ein Gewinn zu werden für den Rest, oder nicht. Das ist oft lebensgefährlich und einige junge Männer bestehen diese existentiellen Prüfungen dann auch nicht, aber diese Mitleidlosigkeit gegenüber jungen Männern prägt diese Gesellschaften und die Jungen lernen seit ihrer Kindheit noch in den Armen ihrer Mütter davon.  

Die pädagogische Literatur seit der Antike und durch die Jahrhunderte ist darüber hinaus voll von Klagen über die Stränge schlagende junge Männer, die die Alten nicht mehr achten, die Regierung nicht ehren, im Bus nicht für die Oma aufstehen, masturbieren, feige, verweichlicht, verhärtet oder faul sind und nur an Sex denken und viel schlimmes mehr; da spielt natürlich auch ein gewisser Neid auf die „jungen Spritzer“ seitens der „müden Alten“ eine Rolle.

Trotzdem sehe ich seit etwa 40 Jahren eine neue Qualität bei diesem Topos. Seit den 70ern Jahren wird das Thema geradezu utopisch-messianisch aufgeladen, und zwar von Frauen, das ist neu. Und zwar zunehmend nicht mehr nur in irgendwelchen esoterischen, oft universitär-geisteswissenschaftlichen Frauenzirkeln, wie anfangs, wo das dann meist von Lesben getragen wurde (die naturgemäß ein anderes Verhältnis zu Männern haben als Heterofrauen), sondern „nach ´89“ weit darüber hinaus: Seit dem Verlust der sozialistisch-kommunistischen Utopien gerade auch der Intellektuellen haben die sich in so eine Anti-Männer-Utopie verrannt, die immer absurdere Züge annimmt. „Die mächtige Mutter kommt zurück, das weibliche Zeitalter bricht an, der große Mittag steht bevor, endlich wird alles gut und heil, frohlocket …“  Und wie so oft in der Geschichte töten Utopien Mitmenschlichkeit – wo so viel Großartiges wächst, da darf man/Mann nicht zimperlich sein. Die Jungen sollen es sportlich nehmen, sobald der Feminismus die Welt verwandelt (konservativ) und revolutioniert (progressiv) hat, ist sowieso alles für alle gut, bis dahin ist es jetzt nur noch eine kleine Zeit …

Und wer dann die Propheten und Prophetinnen der Neuen Zeit kritisch befragt, ob sie vielleicht einfach nur ihre eigenen Interessen messianisch aufblasen, wer auch fragt „Was kostet das eigentlich alles und wer zahlt das?“, der ist dann schnell nicht nur kritisch, sondern „hate-speecher“, Frauen- und Menschenverachter, Rechtsradikaler, ein Feind Gottes fast etc. Mit der Distanz des Atlantiks vor meinem Bildschirm denke ich beim Anblick dieser luftpumpenden Frauen und ihrer säuselnden männlichen Kollegen oft an ein Wort von Friedrich Nietzsche: „Sie halten schöne Gefühle für Argumente und ihr moralisch geschwellter Busen dünkt sie der Blasebalg der Gottheit!“ (lacht)

Gibt es Dinge, die der Feminismus zu Recht im Bereich „Jungen und Bildung“ kritisiert?

Ja. Und es ist wichtig das anzusprechen. (ernst) Jungen sind anstrengend und einige verhalten sich insbesondere gegenüber Lehrerinnen respektlos, manchmal beleidigend, das sind leider oft Migrantenjungen, manche bereits mit jugendkriminellem Hintergrund. Das ist nicht hinzunehmen, und es würde in deren Heimatland definitiv nicht toleriert, es hat also mit Multikulti-Verstehensseligkeit überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil. Eine inzwischen auch schon über 50 Jahre alte Bildungsreform-Schulgesetzgebung, die den Lehrer/Lehrerin als natürlichen Feind des kreativen Schülers sah, bietet hier keine ausreichende Handhabe (mehr) für den juristischen Schutz der Integrität der Staatsdienerinnen. Wir brauchen eine Schulgesetzreform, die Lehrerinnen und Lehrern echte Sanktionsmittel an die Hand gibt, und Direktoren und Schulämter, die das dann auch anwenden – Schule ist keine Quasselbude und kein Kinderparkplatz, sondern eine staatliche Institution, die über Lebenschancen leistungsbezogen und personenindifferent entscheiden muss, dazu hat sie klare Regeln aufgestellt. Wer ihre Regeln missachtet, der missachtet Regeln des Staates und wird entsprechend dafür zur Rechenschaft gezogen. Es kann nicht sein, dass ein „Blödmann!“ gegenüber einer Polizistin mit 2000 Euro geahndet wird, in der Schule jedoch als Höchststrafe den Mediations-Stuhlkreis nach sich zieht – anerkennende Blicke in der Klasse wären diesen Jungen sonst hinterher sicher, das nützt niemandem, am wenigsten ihnen selbst! Unsere Kolleginnen und Kollegen zu schützen ist hier noch die zu lösende Aufgabe; das nützt der Berufsgesundheit der Kollegen, es wirkt generalpräventiv auf das Klassenklima, und spezialpräventiv auf den Rüpel oder die Rüpelin ein. Rauhere Bedingungen in den Schulen verlangen nach einer Adjustierung der Disziplinargesetze. 

Aber auch hier gilt, dass es sich um eine kleine Minderheit von Jungen handelt, die sollten nicht „herhalten“ müssen für eine generelle Jungenfeindschaft, bei der man das Kind mit dem Bade ausschüttete.

„Der Vatertag ist in Kolumbien keine blödelnde Juxveranstaltung“

Sie arbeiten an der Universität von Bogotá in Kolumbien. Ist die Politik, Gesellschaft und Wissenschaft in Südamerika empathischer gegenüber Jungen und Männern als in Deutschland?

Nun, Kolumbien hat einen gewissen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den USA, so dass wir hier alles gern kopieren, was von dort kommt – aber wir lassen uns dafür auch viel viel Zeit (imitiert ein Schnarchen). So etwa ist die Situation auch in Bezug auf das Geschlechterthema: Im akademischen Umfeld gibt es durchaus „Emanzen“, die sich lautstark bemerkbar machen und die auch schon ihre männlichen Wasserträger haben, es herrscht aber doch auch noch eine große Männersolidarität – das ist ja in Deutschland eher eine Ausnahme. In der Politik wird verstärkt auch hier schon auf die Frauen als Wähler gesetzt (das Thema Häusliche Gewalt ist schon „angekommen“). Die Gesellschaft ist allerdings nicht so von dieser Bitterkeit in Geschlechterdingen durchzogen, die ich in meinen letzten Jahren in Deutschland als bedrückend empfunden habe, diese schuldbewusst-resignierten Blicke der Friedenshosen-Männer und dieser hilflos-laute Narzissmus der Power-Frauen. Das sieht man z.B. an Kleidung und auch Körperpflege von Männern und Frauen, das spielt hier eine viel größere Rolle und ist viel geschlechterspezifischer.

Dazu kommt, dass Kolumbien zwar in den letzten zehn Jahren ein riesiges Wirtschaftswachstum erlebt hat, aber nach wie vor viele Familien einfach darauf angewiesen sind, dass sie zusammenhalten, anders gesagt: Bei einem Lehrergehalt von 400 Euro/Monat bleibt für psychologische Luxusthemen einfach zu wenig übrig, da ist man froh, wenn man irgendwie gemeinsam durchkommt, zumal es eben keinen Sozialstaat gibt, von dem man sein Geld direkt oder indirekt „sowieso“ bekommt. Das bedeutet aber auch eine größere Wertschätzung dessen, was z.B. Väter in und für Familien leisten. Der Vatertag z.B. ist hier keine blödelnde Juxveranstaltung von und für Besoffene, an dem diese sich selbst jeder Würde berauben, sondern ein Tag, an dem Väter wirklich ge- und verehrt werden von ihren Kindern, Frauen und in meinem Fall Schwiegereltern – das hat mich in den ersten Jahren total überrascht und sehr, sehr berührt.

Dazu kommt der nach wie vor große gesellschaftliche Einfluss der traditionell männerbündischen Jesuiten gerade in der Familien- und Bildungspolitik. Um es nicht idyllisch werden zu lassen: Auch hier sinken Geburten- und steigen Scheidungsraten, aber eben viel viel langsamer (die Scheidungsrate liegt bei 9%, die Geburtenrate bei 2,3 pro Paar).

Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Punkte für eine Jungenbildungsförderung?

Da muss ich spekulieren, denn wie gesagt, das Thema ist vom schulpädagogisch-erziehungswissenschaftlichen Standpunkt kaum existent, spielt höchstens in der Sozialpädagogik eine Rolle, oft nicht unter Bildungs-, sondern Präventionsgesichtspunkten.

Ich denke, es wäre zuerst einmal an der Zeit, das Problem „Jungen und Bildung“ überhaupt als Problem zu benennen und im akademischen, (bildungs-)politischen und medial-gesamtgesellschaftlichen Rahmen auf die Agenda zu setzen. Aus meiner Forschung kann ich nur einige wenige Anregungen geben. Zuerst einmal kommt es auf das Alter an: Ich sehe in der Grundschule weniger Probleme für Jungen als auf den weiterführenden Schulen (von Extremfällen mal abgesehen), auch sind in der Grundschule die Leistungsunterschiede viel weniger dichotomisiert. Während der Pubertät wird es schwierig, da klaffen die Geschlechter entwicklungspsychologisch zwei Jahre auseinander, Mädchen schminken sich und haben einen Freund (oder träumen zumindest davon), Jungen spielen noch mit Fischertechnik. In dieser Zeit spielt das Ziehen von Grenzen für Eltern und Pädagogen eine Riesenrolle. Meiner Erfahrung nach verstehen Jungen und Mädchen diese Grenzziehungen aber ganz anders: Mädchen lieben Grenzen, weil sie ihnen Sicherheit zum Lernen geben, die sie dann genau ausfüllen wollen, von innen heraus. Jungen lieben ebenfalls Grenzen, sind vielleicht noch stärker auf sie angewiesen für ihren Bildungserfolg, weil man sie übertreten und damit überwinden kann, sie suchen außerhalb dieser Grenzen grandiose Erfahrungen von Heldenmut und Groß werden, und sie müssen sich darauf verlassen können, dass jemand sie auffängt, wenn diese Grenzüberschreitungen viel ambivalentere Erfahrungen (und Enttäuschungen) bringen.

Lassen sie mich ein Beispiel bringen: In einer Unterrichtseinheit „Musik und Bewegung“ sollte eine Jungen-, eine Mädchen- und eine Gemischtklasse, die ich aus drei 8. Realschulklassen so zusammengestellt hatte für Forschungszwecke, jeweils einen Tanz zu selbstgewählter Musik einstudieren. Die Mädchenklasse wählte eine sanfte Musik, zu der sie eine Formation entwarf, die alle Mädchen einschloss und die sich synchron-kollektiv im Raum bewegte, das sah toll harmonisch aus. Die Jungenklasse stellte sich im Kreis auf und machte rappigen Breakdance, im Rund der Schulkameraden tanzte jeweils ein Schüler allein unter den kritischen Augen der Mitschüler, hinterher wurde gepufft, gefeixt und gelacht, auf den Zuschauer wirkte es wie eine gebändigte Aggression. Die Gemischtklasse brachte keine gemeinsame Produktion zustande, Mädchen und Jungen segregierten sich spontan, fühlten sich unwohl, konnten sich auf keine Musik einigen, die blockierten sich gegenseitig. Jungen suchen in diesem Alter Bewährungssituationen, träumen grandios, bilden Hierarchien, haben Schwierigkeiten mit den (natürlich viel zu engen) Grenzen, die Eltern und Institutionen ihnen setzen, und sind doch darauf angewiesen, dass sie hinter diese Grenzen sicher und ohne Gesichtsverlust zurückkehren können, gerade wenn sie sich verletzt und einsam fühlen, damit sie den Mut gewinnen, wieder aufzustehen.

In der Oberstufe und der Universität sehe ich die Situation wieder anders, da spielen entwicklungspsychologische Ungleichzeitigkeiten keine so große Rolle mehr (ab 30 Jahren kippt das dann ja sowieso zugunsten der Jungen), eher evtl. institutionelle Ungerechtigkeiten durch Frauenquoten.

„Wir haben Geschlecht erlernt“

Die Gretchenfrage: Koedukation oder Segregation – was ist besser für Jungs?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Es gibt in der evolutionären Psychologie ein Prinzip, das „male competition versus female choice“ heißt, Männer kämpfen miteinander und Frauen wählen sich dann den besten aus. Dieses Verhaltensprinzip ist in der Evolution entstanden und es spricht einiges dafür, dass es auch das Verhalten von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen zumindest mitbestimmt – sowohl was Verhalten von Männer „unter Männern“, von Frauen „unter Frauen“, aber auch von „Männern gegenüber Frauen“ und „Frauen gegenüber Männern“ angeht. Männer stellen unter sich meist recht schnell eine Hierarchie her, die sie dauerhaft verbindet (oder eben trennt …), und die das Herstellen großer sozialer Strukturen ermöglicht. Aggressionen direkt „territorial-direkt“ auszutragen, ist Teil dieses Verhaltens. Egal, ob es um eine Schülerfußballmannschaft oder einen Parteitag geht, der Chef kriegt das größte Stück vom Kuchen, er sagt an, was geht. Das Selbstbild hängt entscheidend vom erreichten sozialen Rang ab.

Frauen suchen untereinander v.a. Intimität, die sie dauerhaft verbindet, die ihrer Natur nach aber begrenzt ist und nicht wirklich für große soziale Strukturen (z.B. einer Institution) taugen. Aggressionen werden „indirekt-beziehungsmässig“ ausgetragen, durch ausplaudern, lästern, schneiden, Gerüchte streuen etc. wird der Gegner oder die Gegnerin in seinem sozialen Umfeld getroffen und isoliert. Hierarchien sind diffuser, veränderlicher und schwerer zu durchschauen, und der eigene soziale Status gehört weniger zum Selbstbild.    

Männer suchen Frauen v.a. zu imponieren durch den Sozialrang, den sie erreicht haben – da wird gern auch mal etwas dick aufgetragen. Attraktiv sind für Männer v.a. Frauen mit körperlich vorteilhaften „Fruchtbarkeitsattributen“. Frauen hingegen versuchen Männer zu verführen – die Attraktivitätsattribute werden dabei durchaus gern auch etwas aufgemotzt mit „Make-up“. Attraktiv sind für Frauen v.a. Männer mit hohem sozialem Status, dieser entspricht in modernen Gesellschaften im Großen und Ganzen dem Einkommen und dieses korreliert stark mit dem erreichten Bildungsabschluss.

Man wird jetzt einwenden, das seien doch Stereotype, darüber seien wir als moderne Menschen doch längst hinweg, aufgeklärt-vernünftig wie wir sind, das gelte doch nur noch für den feisten CSU-Politiker und das rückständige Dummchen von der Aldi-Kasse, wir hätten doch studiert etc. Vielfältige Forschungen zeigen jedoch: Diese im Laufe einer 300 Millionen Jahre währenden Evolution der bimorphen Lebewesen erworbenen Strategien lassen sich weder durch eine konservativ-klösterliche noch eine progressiv-feministische Erziehung einfach „abschalten“; wir haben Geschlecht erlernt, aber eben nicht im Laufe unserer Biographie, schon gar nicht im genderawareness-Seminar, sondern im Laufe der Evolution der höheren Organismen (siehe auch meinen Beitrag auf www.ide-journal.org) 

Das aber bedeutet für die Debatte um Koedukation: Es kommt drauf an, was man will. Koedukation bereitet evtl. auf ein gemischtes Miteinander leben von Männern und Frauen in Arbeits- und Familienwelten besser vor. Dem stehen Nachteile gegenüber, v.a. in der Pubertät. Jungen versuchen Mädchen zu imponieren, rivalisieren dabei schnell mit dem Lehrer, allerdings wenig aussichtsreich, spätestens auf Zeugniskonferenzen oder bei Bewerbungsgesprächen erhalten sie die Quittung. Mädchen schauen sich das Ganze an und wirken gegenüber dem Lehrer (durchaus auch selbstironisch) als ruhend-verständiger Pol, das honoriert die Institution. Trennt man die beiden, so erhält man in Mädchenklassen schnell eine etwas leistungsfern-gemütliche Lerneinstellung, verbunden mit einem für Lehrer schwer zu durchschauenden Intrigengeflecht. Jungenklassen hingegen werden sich stärker hierarchisieren, das wirkt stabilisierend und evtl. motivierend, die Abwesenheit von Mädchen verhindert den „männlichen Präsentationsimperativ“, der sonst zu so vielen Störungen in Gemischtklassen führt. Auch das Geschlecht des Lehrers muss berücksichtigt werden, Lehrer fokussieren eher personenindifferent auf die Leistung, Frauen verständnisvoll auf die Beziehung zum Schüler, beides hat Vor- und Nachteile.

Generell gilt: Es gibt nicht das geschlechtstypische Verhalten (freche Jungens, soziale Mädchen etwa), sondern Verhalten ist immer Verhalten zu jemandem in einem bestimmten Kontext. Nach meinen Forschungen profitieren sowohl v.a. Jungen als auch Mädchen von einer Trennung der Klassen in der Pubertät.

„Alphabetisierung sollte über Texte erfolgen, die viele Jungens ansprechen“

Welche Ansätze sehen Sie speziell im Bereich der Jungenleseförderung für vielversprechend?

Da muss man unterscheiden zwischen Alphabetisierung und Textkompetenz. Für einen Großteil der Jungen ist es wichtig, erst einmal eine ausreichende Lesegeschwindigkeit zu erreichen, um funktionell im öffentlichen Leben und in der Arbeitswelt zu bestehen. Diese Alphabetisierung sollte über Texte erfolgen, die viele Jungens ansprechen: Warum eigentlich nicht mal den Testbericht des neuen Audi 8 aus Automotorsport kopieren und lesen? Das VW-Werbevideo konzentriert anschauen und nach einer ganz spezifischen Information daraus suchen? Ein Interview mit Franz Beckenbauer aus der BILD? (Ich weiß, da freuen sich die Kollegen …) Wettbewerbssituationen spornen Jungen an: Welche Klassenseite liest/schreibt/versteht am schnellsten, Fenster oder Tür? Lesen muss hier trainiert werden, wie eine Sportart.

In der sekundären Bildung muss dann das Textverstehen im Vordergrund stehen. Hier wird Sprache m.E. zu sehr aus empathischer Sicht behandelt. Eine Anekdote: In meinem Deutschkurs in der 12 habe ich seinerzeit – natürlich – Effi Briest lesen müssen. Ich habe da dann ordentlich mitgequatscht über die bürgerliche Gesellschaft, das arme Mädchen, die bösen Männer etc. (das ging ja in den 80ern los). Was mir überhaupt nicht klar war: Effi war fremdgegangen! Unsere Lehrerin hatte das einfach als selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir alle das kapiert hatten; hatte ich aber nicht. Der weibliche Seitensprung lag einfach jenseits meiner evangelisch-kleinstädtischen, jünglinghaften Empathiefähigkeit … (lacht) Ich schlage vor, auch systematische Elemente im Literaturunterricht zu berücksichtigen, formale, epochenspezifische, gattungsspezifische, auch linguistische – wie hat Fontane das gemacht, wie funktioniert dieses seltsame Phänomen Sprache, warum weinen wir über raschelndes Herbstlaub im Hof von Hohen-Cremmen? Auch Rhetorik und logisches Argumentieren sollten gelehrt werden.

Es bleibt aber auch hier eine biologische Komponente zu berücksichtigen: Mädchen reden früher, schneller und mehr als Jungen, schon als ganz kleine Kinder. Ein jungengerechter Ansatz muss sich immer auch bewusst sein, dass er kompensatorisch gegenüber den sprachbegabteren Mädchen arbeiten muss – die Mathedidaktik macht es umgekehrt ja vor. Auch hier darf Segregation kein Tabu sein. Und: Es gab mit Shakespeare und Goethe durchaus auch Männer, die Sprache meisterlich beherrschten …  

Sie haben im Bereich der Musikpädagogik promoviert. Wie wichtig ist musikalische Früherziehung für die Entwicklung, insbesondere bei den schulischen Kompetenzen, der Kinder?

Da ist in den letzten Jahren ja unglaublich viel geforscht und noch viel mehr, auch unseriöses und verkürztes, publiziert worden. Musik macht nicht klug (wer also ein Hochleistungskind züchten will, sollte die Finger von der Musik lassen …), aber sie hat sehr positive Wirkungen im Bereich von Emotionen, sozialem Selbstsicherheitsgefühl und Motorik. Musizierende Kinder (gerade auch in Brennpunktschulen) sind emotional stabiler, ausgeglichener, prügeln sich weniger und grenzen sich seltener aus und haben eine feinere Motorik. Musik verringert Schulangst und integriert Kinder sehr gut. Singen Sie mit einer (Grundschul-)Klasse ein Liedchen vor der Mathearbeit, werden die Ergebnisse besser, obwohl das Liedsingen von der reinen Arbeitszeit abgeht! Der Hirnforscher Manfred Spitzer sagte gar, wissenschaftlich gesehen seien Musik, Tanz, Sport und Kunst die wichtigsten Schulfächer bei den Kleinen.

„An Jungen und Männer werden heute sehr paradoxe Ansprüche herangetragen“

Wenn ich in die Musikschulen reinschaue, sehe ist nur sehr wenige Jungen dort. Was können Musikschulen tun, um mehr Jungs für musikalische Früherziehung zu gewinnen?

An Jungen und Männer werden heute sehr paradoxe Ansprüche herangetragen: Sie sollen einerseits sich zurücknehmen, in immer größere und anonymere Organisationen sich einfügen, funktionieren, leisten, aufsteigen, gut verdienen etc. – gleichzeitig wird dieser Imperativ, nicht zu viel von sich selbst zu zeigen, dann gegen sie gewendet: Jungen und Männer haben Probleme, Gefühle zu zeigen, hören nicht aktiv zu, sind egoistisch, wenig kreativ, unsozial, unempathisch etc. Kucklick hat das in einer interessanten Studie vor kurzem die „Negative Andrologie“ der Moderne genannt.  Je mehr Männer real in Fabriken, AGs, Verwaltungen etc. quasi anonym und austauschbar verschwinden (müssen), um beruflich halbwegs klarzukommen, desto mehr wird ihnen genau das als charakterliches oder biologisches Defizit angekreidet. Jungen lernen: Männer schuften brav, um Familien und den Staat zu ernähren, dafür müssen sie sich dann beschimpfen lassen. Sehr motivierend ist das nicht. Es erinnert fast ein bisschen an die Spätphase des ancién regime, als Marie-Antoinette angeblich aus dem Fenster des Palastes in Paris auf die wütenden Massen schaute und den Hinweis, die hätten kein Brot konterte, dann sollten sie doch Kuchen essen.

Es ist wohl auch deshalb, dass Jungen nicht in den Künsten erzogen werden (sollen). In der Ballettklasse meiner Tochter im Kindergarten (wo die letztlich ein bisschen Bewegungstraining und Gymnastik machen) sind 20 Mädchen und kein Junge! Singen, musizieren, malen, tanzen, Theaterspielen … alles das waren früher völlig normale Bildungsziele für Jungen und Mädchen gleichermaßen, heute gelten sie im Jungenfall als Luxus. Ich habe in den 90ern in Hessen noch Männerchöre geleitet, auf den Dörfern hieß es früher „Wenn ein Mann nicht in einem Chor singt, ist er feige!“, der hatte bei den Dorfschönen keine Schnitte. Heute sind diese Männerchöre völlig überaltert und zusammengeschmolzen, Frauenchöre schießen aus dem Boden – singende Männer hingegen gelten als schwul und/oder peinlich. Blödsinnig und traurig.

Auch hier kann man die Tendenz sehen, dass ehemalige Jungenbereiche (der geradezu fetischisierte Mädchenfußball z.B., aber auch Kampfsportarten etc.) Mädchen zugänglich gemacht werden, während Jungen aus (warum auch immer) weiblich konnotierten Bereichen verschwinden. Da müssten Musikschulen und Politik gegensteuern und neue Leitbilder verkaufen, die über das „Lastesel“-Modell des Mannes hinausginge.

„An langfristigen Strategien fehlt es der Politik völlig“

Unsere letzte Umfrage bei 41 Bildungspolitikern in Deutschland ergab ein kollektives Desinteresse der politisch Verantwortlichen an der Bildungssituation von Jungen. Welche Konsequenzen hat diese Vernachlässigung des Bildungspotentials und damit des Fachkräftepotentials von Jungen mittel- und langfristig für ein Land wie Deutschland?

Ja, diese Frage müsste sich Politik mal stellen! Die fragt sich aber „Wie kann ich Mehrheiten für die nächste Wahl gewinnen“ – was danach kommt, sehen wir dann. Und so wird ja auch (nicht nur Bildungs-)Politik gemacht, an langfristigen Strategien fehlt es völlig. Jeder weiß: Ein hoch technologisiertes, lohnintensives Land wie Deutschland braucht, u.a. um sich seinen sozialen Apparat leisten zu können, eine innovative Industrie. Jungen interessieren sich mehr für technische Berufe? Da würde doch jeder normale Mensch sagen „Ja, Mensch, dann lasst uns diese Jungen suchen und aufbauen, die brauchen wir …“ Was macht die Politik? Sie sagt „Das ist skandalös, wir brauchen mehr Frauen in diesen Berufen!“ Warum eigentlich?

Wo sehen Sie konkrete positive Ansätze einer Jungenbildungsförderung aus Ihrer Praxis?

Generell muss man unterscheiden in der Pädagogik zwischen Erziehung und Wissensvermittlung. Erziehung wird dann ganz schwierig, wenn die Jungens aggressiv werden, weil die Familien dysfunktional geworden sind (die Mädchen reagieren eher autoaggressiv, aber nicht weniger schlimm auf diese Erfahrungen). Anders herum gewendet: Die Scheidungsfreudigkeit der Gesellschaft ist für die Schulen ein Problem, wo hingegen Vater und Mutter an einem Strang ziehen, da gelingt in den Familien die Erziehung und in den Schulen die Wissensvermittlung. Dafür gibt es keinen Ersatz, da kann Schule und Schulsozialarbeit nur Feuerwehr spielen, mehr ist leider nicht drin, das muss sie von sich weisen.

Auch habe ich oft erlebt, dass Väter ganz überrascht und erleichtert sind, wenn man ihnen auf Elternabenden oder -sprechtagen sagt, dass man sich freut, dass sie prima Kinder haben und darüber, dass sie sich als Väter in diesen „Weiberhaufen“ Schule „getraut“ haben. Schwierig ist es, im Kollegium Jungenfreundliches anzubringen, da ist man schnell der „lächerliche Dämon“ – die Männer schweigen ängstlich, die Frauen bekommen blitzende Augen, da habe ich kein Rezept dagegen außer „Verbündete suchen“. An der Universität ist es noch schlimmer in den Erziehungswissenschaften, da das Thema „Jungen“ so stark verquast zwischen Wissenschaft und Moral durchhängt, da muss man in Deutschland sehr sehr vorsichtig sein, sonst ist die Karriere vorüber, bevor sie begonnen hat. 

Ich habe mit meiner eigenen Forschung gute Erfahrungen mit der Trennung der Geschlechter gemacht, das bezog sich auf eine 8.-10. Realschulklasse auf dem Lande, ob das übertragbar ist, müsste ein Flächenversuch zeigen, von der getrennt-koedukativen „Vermont“-Schule hier habe ich weiter oben berichtet.

Insgesamt gilt: Männer müssen sich solidarisieren und bei diesem Thema und für ihre Söhne (und Töchter), ihre Schüler (und Schülerinnen), ihre Studenten (und Studentinnen) zusammenstehen. Männer müssen Jungenthemen genauso selbstbewusst und selbstverständlich artikulieren, wie dieses für Frauen und Mädchenthemen inzwischen comme il faut ist. Der Vorteil der Feministen bei dem Thema ist ihr 40-jähriger Vorsprung, ihre Bereitschaft, wissenschaftliche Standards politischer Agitation unterzuordnen, ihre Utopiebeseeltheit mit entsprechendem Marschiertrieb und, damit zusammenhängend, inzwischen ihre pure Masse aus Überzeugten und Mitläufern. Was es den Männern schwer und leicht zugleich machen sollte: Es gibt keine Alternative! Dann bleibt mir nur noch übrig, Ihnen für dieses interessante und solidarische Interview zu danken.

Das Interview erschien in einer gekürzten Fassung zuerst auf MANNdat.

Foto: Copyright Prof. Dr. Markus Meier

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Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.

Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".

In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.