Die offene Gesellschaft und ihre falschen Freunde: Ein Monolog für zwei Personen
Die Kampagne „ausnahmlos“ wurde von Feministinnen nach den vielfachen sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht mit erheblicher medialer und politischer Unterstützung lanciert. Vereinzelt fragten Kommentatoren in sozialen Netzwerken auch danach, ob denn die Kampagne ausnahmslos allen Opfern, also auch männlichen Opfern helfen solle.
Das beruht wohl auf einem Missverständnis. Die Initiatorinnen zielen mit ihrer Kampagne auf die sexuellen Übergriffe ausnahmslos aller Männer und stellen sexuelle Gewalt wie die von Köln als ein allgemeines Phänomen dar. Dass Jungen und Männer auch als Opfer sexueller Gewalt, dass möglicherweise gar Frauen als Täterinnen Thema werden, ist offensichtlich nicht beabsichtigt.
Als bei der Aufschrei-Kampagne der Initiatorinnen vor einigen Jahren auch Männer von Erfahrungen sexueller Belästigung zu berichten versuchten, wurde ihnen dies als „Derailing“ ausgelegt, als Ablenkung vom Wesentlichen.
Dass Frauen sich hier auf die sexuelle Gewalt gegen Frauen konzentrieren, ist natürlich völlig legitim. Problematisch aber ist, dass die Formulierungen vage im Allgemeinen bleiben und so den Eindruck erwecken, hier würde ein breiter Konsens (gegen Gewalt, insbesondere gegen sexuelle Gewalt) vertreten – und dass dabei kaschiert wird, wie umstritten einzelne Positionen sind (Rape Culture; die Meinung, Gewalt ginge unterschiedslos von Männern im Allgemeinen aus).
Wer hier nach Jungen und Männern als Opfern von Gewalt fragt, vertritt einen klassischen Liberalismus – mit der Überzeugung, dass Rechte allgemein und in gleicher Weise für alle gelten und dass prinzipiell alle Menschen gleichermaßen einen Anspruch auf Schutz vor Gewalt haben. Er trifft damit jedoch auf eine Position, die zwar dieselben Begriffe verwendet wie dieser klassische Liberalismus (Rechte, Gleichberechtigung, Freiheit, Schutz, …), diese Begriffe aber ganz anders belegt.
So kollidieren hier zwei Positionen, die von Vertretern eines klassischen Liberalismus häufig, und irrtümlich, als eng verwandt verstanden werden. In den Fremdsprachen gibt es dafür den Begriff der false friends – Begriffe, die in zwei Sprachen identisch oder sehr ähnlich sind, aber tatsächlich etwas Unterschiedliches bedeuten.
Daher ist auch die Frage interessant, wie denn wohl ein Gespräch ablaufen würde, in dem die Unterschiede zwischen diesen false friends wirklich deutlich würden…
Bis auf die Grundkonstellation sind alle Bestandteile des folgenden Dialogs realen Diskussionen entnommen, ich habe sie lediglich dann und wann ein wenig pointiert.
Ein Büro im kommunalen Rathaus, ein Mitarbeiter des Bürgermeisters sitzt hinter dem Schreibtisch. Ein Mann betritt den Raum. Er ist groß, dick, trägt einen Vollbart und hat eine durchdringende Stimme. Er setzt sich ächzend in den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Mitarbeiter Ja, Herr M…, mir liegt hier Ihre Bewerbung für den Posten der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten vor. Ich kann Ihnen ehrlich sagen: Meine Sympathien haben Sie. Es wird Zeit, dass auch Männer diese Position wahrnehmen können. Aber leider ist das nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht vorgesehen.
Herr M. Es wäre völlig absurd, wenn ein Mann auf dieser Position arbeiten würde. Aber was hat das mit mir zu tun?
Mitarbeiter Nun ja, sie sind nun einmal ein Mann.
Herr M Sie lesen mich als Mann. Das sagt etwas über Sie aus, nicht über mich.
Mitarbeiter (immer noch freundlich lächelnd, wenn auch etwas verwirrt) Nun ja, ich… „lese“ Sie ja nicht völlig zufällig als Mann, sondern ich sehe Sie deshalb als Mann an, weil Sie typisch männliche Eigenschaften haben. Einen Bart…eine sehr männliche Erscheinung, wenn ich das so sagen darf…. Oder passiert es Ihnen häufig, dass Menschen Sie für eine Frau halten? (lacht höflich)
M Details, baby, details. Die etwas über ihre Männlichkeitskonzeption verraten, aber nichts über mich. Hätte ich zum Beispiel keinen Bart – dürfte ich dann Gleichstellungsbeauftragte werden?
Mitarbeiter Naja, es gibt ja auch andere Unterschiede, die nicht so einfach zu ändern sind. Einen Uterus zum Beispiel … oder eine monatliche Menstruation. (ist nun sichtlich peinlich berührt von seinen eigenen Worten)
M Im Gesetz steht, dass die Funktion an eine Frau zu vergeben ist. Der Gesetzgeber hat hier ganz bewusst nicht von „Menschen mit Uterus“ oder „Menschen mit Menstruation“ gesprochen. Wollen Sie behaupten, der habe sich nichts dabei gedacht?
Herrje, das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Sie verweigern mir ausgerechnet den Posten der Gleichstellungsbeauftragten, weil ich nicht Ihren Vorstellungen von Weiblichkeit entspreche…. (tippt etwas in sein Smartphone)
Mitarbeiter (irritiert) Nein, nicht weil Sie nicht meinen Vorstellungen entsprechen…. Irgendeinen erkennbaren Unterschied zwischen Mann und Frau müssen selbst Sie doch machen, sonst hätte der Gesetzestext gar keinen Sinn.
M Selbstverständlich. Männlichkeit konstituiert sich durch Ausübung von Herrschaft. Ich herrsche aber nicht. Also bin ich kein Mann im Sinne des Gesetzes.
Mitarbeiter (denkt nach, zögert, dann) Ich habe einen Freund. Der wird regelmäßig von seiner Frau geschlagen. Ist der deshalb kein Mann?
M Doch, er ist ein Mann. Er ist nur kein Opfer von Herrschaft oder Gewalt.
Mitarbeiter Und woher hat er dann die blauen Flecken?
M Ist doch kein Grund, jetzt polemisch zu werden. Gewalt ist ja nicht einfach so Gewalt, sondern muss im Kontext gesehen werden. Wenn ein Mann eine Frau schlägt, reproduziert er damit Herrschaftsstrukturen und ist also gewalttätig. Wenn eine Frau einen Mann schlägt, interveniert sie in Herrschaftsstrukuren. Das eine ist offensichtlich das glatte Gegenteil vom anderen, aber Sie verwischen da völlig beliebig die Unterschiede.
Mitarbeiter Und woran sehen Sie dann, dass der Mann herrscht und die Frau nicht?
M Das sieht man daran, dass Männer Gewalt ausüben und Frauen nicht. Herrje, es ist so anstrengend, immer wieder alles von vorne erklären zu müssen…. (tippt wieder)
Mitarbeiter (hat eine Idee) Und wie ist das mit Gewalt in lesbischen Partnerschaften. Wo interveniert die?
M Gewalt in lesbischen Partnerschaften ist ein Beleg dafür, wie durchdringend die heterosexuelle Matrix wirkt. Selbst lesbische Partnerschaften sind nicht frei davon, männlich-weibliche Dominanzmuster aufzubauen. Die Frau, die eine andere schlägt, reproduziert damit zwangsläufig männliche Muster – sonst würde sie ja nicht schlagen.
Das hat man ja jetzt in Köln gesehen, wie ungeheuer verbreitet diese Muster sind. Sie betreffen im Endeffekt alle.
Mitarbeiter Ich war entsetzt über das, was ich von der Kölner Silvesternacht hörte und las. Ich finde es aber trotzdem falsch, jetzt von den Tätern einfach auf alle Migranten oder auf alle arabischen Männer zu schließen.
M Wer macht denn auch so was, außer den dummen Rassisten, die diese Situation nutzen? Patriotische Gruppen, die sich die Selbstbestimmung über den Körper der Frau aneignen. Ekelhaft. Da wird das Entsetzen über sexuelle Gewalt nur vorgeschoben, um nun eine rassistische Agenda anzuheizen. Tatsächlich regen sich die Leute, die jetzt so entsetzt tun, nur darüber auf, dass sexuelle Gewalt gegen deutsche Frauen nicht mehr allein das Vorrecht deutscher Männer war.
Mitarbeiter rutscht unruhig hin und her, kommt aber nicht zu Wort
M Sie kümmern sich erst um Gewalt, wenn’s eben Männer mit Migrationshintergrund, geflüchtete Männer sind. Ich sage nein, wir müssen uns da um alle Menschen kümmern, die sexualisierte Gewalt ausüben.
Im Endeffekt geht es hier um Machtstrukturen. Sexuelle Gewalt wird benutzt, um Macht auszuüben, und nicht um Sex zu haben. Das ist eine Sache aller Männer.
Mitarbeiter Was macht denn die Sache besser, wenn Sie nicht auf alle arabischen Männer, sondern auf Männer generell verallgemeinern?
M (nun offensichtlich wütend über die Begriffsstutzigkeit) Weil das Strukturen freilegt. Strukturen männlicher Herrschaft. Eine Kultur der Vergewaltigung, letztendlich.
Mitarbeiter Ich kenne überhaupt niemanden, der Vergewaltigung nicht als schlimmes Verbrechen ansehen würde.
M Jeder, der die Rape Culture leugnet, ist ein neuer Beleg dafür, dass es sie gibt. Sieht man ja am Oktoberfest. Da werden jedes Jahr 2.000 Frauen vergewaltigt – aber weil die Täter weiße Männer sind, wird alles vertuscht.
Mitarbeiter Aber woher wollen Sie denn wissen, dass da etwa vertuscht wird?
M Haben Sie etwa was davon erfahren? Sehen Sie, ich auch nicht. Da dringt nichts durch. Da wird vertuscht.
Mitarbeiter Aber woher wollen Sie dann wissen, dass überhaupt etwas vorgefallen ist?
M (seufzt) „Vorgefallen“, allein schon dieses Wort. Als würde Gewalt vom Himmel fallen. …
Wenn nichts „vorgefallen“ wäre, dann müsste ja auch nichts vertuscht werden. Es ist wirklich anstrengend, jemandem erst einmal die Grundzüge der Logik erläutern zu müssen.
Mitarbeiter (sarkastisch) Aber warum dann nicht gleich 3.000 Opfer? Oder 30.000? Oder 2 Millionen?
M Kommt mir so vor, als ob Sie sich das wünschen würden…. Finden Sie, dass Vergewaltigungen das richtige Thema sind, um darüber schlechte Witze zu machen?
Mitarbeiter Nein, natürlich nicht, und auch eine einzige Vergewaltigung ist sehr sehr schlimm. Aber….
M …wer Sätze mit einem „Aber“ fortsetzt, dementiert sie…
Mitarbeiter …aber das heißt doch nicht, dass wir einfach mit irgendwelchen Zahlen arbeiten können, die gar nicht belegt sind.
M So ist das eben. Ich spreche von Vergewaltigung, Sie sprechen von Zahlen. Und Sie machen die Opfer damit unsichtbar.
Mitarbeiter Nein, nein, ich sage nur, dass wir uns gar nicht sicher sein können, ob es die Opfer gibt, wenn wir keine Belege haben.
M Unsichtbarer kann man Menschen ja gar nicht machen, als schon ihre bloße Existenz anzuzweifeln.
Mitarbeiter (wütend) Das hab ich nicht gemeint. Das hab ich nicht gemeint!! Es reicht mir jetzt. Das lass ich mir so nicht sagen.
Ich bin mein ganzes Leben lang für Gleichberechtigung eingetreten…ich hab Frauen unterstützt, wo ich konnte, hab Posten freiwillig nicht angetreten, um Platz für Frauen zu machen
M trocknet sich demonstrativ Tränen ab
Mitarbeiter …und jeder Mann, JEDER MENSCH, der einem anderen Menschen sexuelle Gewalt antut, hat meine volle Verachtung. Und Sie nutzen sexuelle Gewalt einfach nur, weil sonst niemand Ihre bekloppte Position ernst nehmen würde. Und weil Sie damit an eine Stelle kommen wollen.
Ich lasse mir jetzt nicht von einem Clown wie Ihnen nachsagen, dass ich Ihnen den Posten der Gleichstellungsbeauftragten nur deshalb vorenthalte, weil ich eigentlich insgeheim die sexuelle Gewalt gegen Frauen befürworte. Das lass ich mir nicht sagen, ist das klar?
M (tippt und grinst) Sie kennen doch das Sprichwort, dass getroffene Hunde bellen. Sexismus….Ableismus…Drohungen….Und ich finde es ja interessant, dass Sie mich hier als „Clown“ bezeichnen. Ich sag doch, für Sie ist die ganze Sache ein Witz. Sie können antisexistisches Engagement gar nicht ernst nehmen. Und Whitefacing ist das auch noch.
Mitarbeiter Was ist denn das schon wieder?
M Whitefacing bezeichnet den Versuch, eine Person of Color als Weißen in den Diskurs einzulesen und damit ihre Unterdrückungsgeschichte unsichtbar zu machen.
Mitarbeiter Sie sind aber keine „Person of Color“…
M Sehen Sie, genau das meine ich. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich überhaupt keine Bedenken habe, Strafanzeigen zu stellen oder Dienstaufsichtsbeschwerden einzureichen. Gerade hab ich eine Anzeige eingereicht gegen eine Firma für Schlankheitspräperate.
Mitarbeiter Was haben die Schlimmes getan? Sie nicht als Fotomodel akzeptiert?
M Ganz genau. Sehen Sie, das finden selbst Sie absurd.
Mitarbeiter Ich möchte Ihnen gewiss nicht zu nahe treten – aber sie sind nun einmal recht füllig…
M Was hat denn das damit zu tun?
Mitarbeiter Stimmt. Wie kommt jemand, der Schlankheitsmittel bewerben soll, auf die absurde Idee, das mit schlanken Menschen zu machen…
M Da sehen sie mal, wie durchdringend diese Konstruktionen verbreitet sind. Tatsächlich hat die Firma verpasst, mit mir eine gesellschaftliche Diskussion darüber in Gang zu bringen, was wir unter „Schlanksein“ eigentlich verstehen.
Mitarbeiter Großes Übergewicht ist nun mal einfach ungesund….
M Im Endeffekt, weil Menschen, die den gängigen Schlankheitskonstruktionen nicht entsprechen, unter einem permanenten Druck gesellschaftlicher Ächtung leben. Die dann auch noch selbst für ihr Leid verantwortlich zu machen ….das macht Gewaltstrukturen nicht nur unsichtbar, sondern betreibt Täter-Opfer-Umkehr. Fat shaming…victim blaming….
Mitarbeiter (murmelt vor sich hin) Nicht alles, was sich reimt, ist deshalb schon wahr….
M Ich hab das Gefühl, Sie führen hier bloß Selbstgespräche. Das hat so keinen Sinn.
Ich weiß aber, wie wir aus dieser Situation wieder rauskommen.
Mitarbeiter Indem Sie einfach durch diese Tür da gehen?
M (gelassen) Indem Sie mich für meine Mühen bezahlen. Schließlich habe ich hier jetzt seit fast einer halben Stunde emanzipatorische Arbeit geleistet und ihnen sogar Grundsätzliches von Anfang an erklären müssen. Ich hab es so satt, dass alle erwarten, Vertreter einer emanzipatorischen Politik müssten so was ständig für lau erledigen.
Mitarbeiter (sucht nun nach einer versteckten Kamera)
M Ich hab gerade ein paar Slots frei für Vorträge, Teach Ins, Workshops etc. Da hatten Sie Glück, sonst hätt ich das hier gar nicht machen können. Sagen wir: Sie organisieren mir ein Awareness-Weekend für Ihre Abteilung, zum üblichen Tarif. Dann vergessen wir die ganze Angelegenheit hier.
Mein Freund aus der Lokalredaktion hat mich eh schon gefragt, ob ich auch den Eindruck habe, dass der Bürgermeister taub für emanzipatorische Ansprüche ist. Wär doch gut, wenn ich ihm sagen könnte, dass das so nicht stimmt. Als Gleichstellungsbeauftragte hätt ich da übrigens ganz andere Möglichkeiten… (steht auf, tippt in sein Smartphone, geht zur Tür) Wir hören voneinander, so oder so!
Der Beitrag erschien zuerst auf man tau.