Der jüngere Prozess der europäischen Einigung zielte darauf ab, im Interesse der Exportwirtschaft für zunehmende industrielle Kapazitäten einen hinreichend großen Wirtschaftsraum zu schaffen, und die Welthandelspolitik verfolgte daneben ebenfalls das Ziel, die Exporte der Ökonomien zu ermöglichen und gegen staatliche Belastungen und Einschränkungen abzusichern.
Das ökonomie-strategische Konzept dahinter heißt Export-Basis-Konzept, und dieses bestimmte und bestimmt, unter dem Stichwort „Exportweltmeister“ nach wie vor die Außenwirtschaftspolitik Deutschlands.
Der Kostenhebel hierfür wurde durch eine von der SPD gestellten Regierung in der politischen Herstellung eines Niedriglohnsektors gefunden, der im EU- Raum ein Lohndumping ermöglichte, das zu einem angestrebten dauerhaften Exportüberschuss und zu komplementären Defiziten in den Importländern führte, die nach der EURO-Einführung nicht mehr über die Ausgleichsmöglichkeit der Währungsabwertung verfügten und daher wachsende Defizite hinnehmen mussten.
Das waren die ökonomischen Ungleichgewichte, als, ausgehend von den USA, die Finanzmarktkrise einsetzte und das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Es war dann der Staat, der in undurchsichtiger Art und Weise unter Berufung auf die „Systemrelevanz“ großer Banken diese vor der Insolvenz bewahrte, ohne dass bis heute die unterliegenden Probleme gelöst worden wären (siehe hierzu auch:
https://le-bohemien.net/2014/12/18/quo-vadis-europa-2/).
Infolge der nahöstlichen Kriege der USA und der daraus folgenden Flüchtlingsproblematik im Irak, in Syrien und den umliegenden Ländern (mit Ausnahme der Golfstaaten) baute sich ein Migrationsdruck auf, der so lange gestaut blieb, bis die Balkanroute für eine Massenimmigration in die EU genutzt wurde. Dieser Immigrationsprozess hat europaweit gesellschaftspolitische Auswirkungen, und er hat, nachdem die Aufnahmekapazitäten erschöpft waren, zu begrenzenden nationalstaatlichen Reaktionen geführt, die dem europäischen Einigungsprozess schaden, aber nicht mehr vermeidbar sind. Diese Situation setzt die europäische Einigungspolitik als solche auf die Agenda. Es geht um nicht weniger als um die Frage des Ziels dieses Prozesses.
Das politische Mehrheitskonzept der Eliten, nicht ein „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle), sondern in Anlehnung an das Modell USA die „Vereinigten Staaten von Europa“ anzusteuern, dürfte angesichts der Renationalisierungstendenz, die durch die ungesteuerte und unerwünschte Massenimmigration vorangetrieben wird, vor dem Scheitern stehen.
Das bedeutet, Brüssel würde von einer jetzt relativ starken zu einer relativ schwachen Zentrale werden, und die nationalen Parlamente und Regierungen würden entsprechend gestärkt. Wegen des Demokratiedefizits der EU wäre das demokratiepolitisch sogar ein Gewinn, wenn nicht national-autoritäre Tendenzen ihrerseits die Demokratie gefährdeten, was sich leider deutlich abzeichnet (https://le-bohemien.net/2014/12/22/ein-autoritares-europa/)
Der schlimmste Fall wäre der völlige Zerfall der EU, deren Konsequenzen im einzelnen zwar noch nicht absehbar, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ bis sehr negativ wären. Es besteht, wenn das zutrifft, guter Grund, die europäische Einigung zu überdenken und zu modifizieren, keinesfalls aber, sie aufzugeben.
Daher kommt es darauf an, das Macht- und Zuständigkeitsverhältnis zwischen Brüssel und den Nationalstaaten rechtlich und faktisch neu zu justieren, und zwar so, dass nur die politischen Funktionen, die der europäischen Koordination zwingend bedürfen, in Brüssel konzentriert würden, während alle anderen Funktionen den Nationalstaaten überlassen blieben.
Europa würde sich durch die Verwirklichung eines solchen Modells in der Weltpolitik zwar bewusst zurücknehmen und sich gewissermaßen auf eine defensive und eher passive als aktive Rolle beschränken, aber mit dem Vorteil, dass die europäischen Bevölkerungen ein solches „Europa der Vaterländer“ mittragen würden, was beim europäischen Elitenkonzept offensichtlich nie der Fall gewesen ist: Es ist dies eine zentrale, kaum je ausgesprochene Lebenslüge der Europapolitik.
Die deutsche Austeritäts- und Immigrationspolitik haben die vorher vorhandene politische Konsensualität in Europa zersetzt und aufgelöst, und die Renationalisierung ist die Antwort der Bevölkerungen auf diesen Zersetzungsprozess. Tatsächlich kann auf eine andere Institution als den Nationalsstaat zur Schließung der Steuerungsdefizite gar nicht zurückgegriffenen werden.
Die – m. E. sehr erhebliche – Gefahr besteht darin, dass dieser Prozess überschießt und von einer begrenzten Stärkung nationaler Strukturen mit fließenden Übergängen zu einer nationalistischen Politik überleitet, die latente nationale Gegensätze aktualisieren könnte. Nach Titos Tod war zu sehen, was in Jugoslawien geschehen ist und wie der Staat gewaltförmig zerfallen ist. So etwas kann für Europa niemand wollen. Aber das Risiko ist zweifellos da. Insbesondere die Nato-Frontstellung zu Russland, wie sie in der Ukraine-Politik sichtbar wird, gibt m. E. zu den größten Besorgnissen Anlass.
Das Problem der EU-Politik besteht darin, dass sich eine neue innereuropäische Balance vermittelt über den Konflikt zwischen der Zentrale und renationalisierten Einzelstaaten herausbildet, dass aber das handelnde politische Personal ganz überwiegend den alten Eliten angehört, die sich der Zielvorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“ verpflichtet fühlen. Allerdings bröckelt das, und abgesehen von Osteuropa sind besonders die Briten höchst skeptisch.
Die EU erodiert rasch, und die Versuche, die alte politische Linie erneut durchzusetzen, sind zum Scheitern verurteilt, weil die Machtressourcen nicht mehr gegeben sind, und weil die Einigkeit dafür nicht mehr vorhanden ist.
Die Alternative besteht wahrscheinlich darin, das bisherige europapolitische Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ aufzugeben, oder es deutlich zu modifizieren oder ein „Europa der Vaterländer“ anzusteuern, was vermutlich ein Ziel wäre, das eine sehr hohe Zustimmungschance in ganz Europa hätte.
Gelänge es Europa, sich trotz der offenbar zunehmenden weltpolitischen Spannungen und Konflikte zurückzuhalten und sich ihnen gegenüber so weit wie möglich abzuschirmen, dann wäre die EU zwar kein global wirksamer politischer Akteur, oder sie hätte global jedenfalls kein großes Gewicht, könnte dafür aber eine relativ hohe gesellschaftliche Stabilität absichern. Und das zu erreichen, wäre angesichts der chaotisierenden globalen Prozesse bereits eine große Leistung.
Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.