Gendermedizin ist eine junge, vielleicht 20 Jahre alte Disziplin, die in einer 2010 erschienenen Philosophie der Medizin noch gar nicht aufgeführt ist[1]. Natürlich gab es diese Disziplin schon früher, sogar noch bevor sie so genannt wurde.
Der holländische Psychosomatiker Appels führte 1973 soziale Gründe für eine unterschiedliche Herzinfarktgefährdung bei Männern und Frauen an und nannte das „kulturelle Krankheit“[2]. Der Begriff „kulturell“ setzte sich aber für diese Disziplin nicht durch, sondern der ab circa 1975 vom US-amerikanischen Sexualwissenschaftler John Money benutzte Begriff „Gender“, was seinen Grund im amerikanischen Wissenschaftsimperialismus und in der Soziologisierung der westlichen Gesellschaft haben dürfte.
Gender und seine Abhängigkeit vom Geschlecht
Der Begriff „Gendermedizin“ muss genauer „geschlechts- und genderbasierte Medizin“ heißen. Es handelt sich um eine Medizin, die sowohl die angeborenen biologischen als auch die soziokulturellen Unterschiede zwischen Mann und Frau berücksichtigt. Der israelische Genderforscher Marek Glezermann definiert:
Dieser Beitrag erschien in erweiterter Fassung in dem Buch Gender Studies – Wissenschaft oder Ideologie?
„Der Begriff Gender stammt ursprünglich aus der Soziologie und bezieht sich auf eine Gruppe Menschen in der Gesellschaft, die gemäß bestimmter einzigartiger Merkmale dieser Gruppe – wie Kultur, Sozialgefüge, Bräuche, Verhalten, Werte und Geschlecht – zusammengefasst werden. In diese Genderdefinition fällt auch das soziokulturelle Geschlecht, also die Rolle in der Gesellschaft, Selbstdefinitionen und gesellschaftliche Erwartungen, wie man sich kleidet und viele andere Punkte. Gendermerkmale sind dabei fließend, sie können sich mit der Zeit oder je nach Umgebung ändern. Sie sind nicht biologisch festgelegt, sondern eher vom jeweiligen sozialen Umfeld. Gender ist also kein unveränderliches Kennzeichen, sondern eher etwas, was jemand tut, wie er oder sie handelt und sich in einer bestimmten Umgebung verhält (und nicht was jemand ist). Das Geschlecht hingegen ist (zumindest beim Menschen) biologisch und im Erbgut definiert. Wir unterscheiden zwischen dem genotypischen Geschlecht (ob jemand ein Y-Chromosom hat oder nicht) und dem phänotypischen Geschlecht (die individuelle Ausprägung dieser Chromosomenstruktur und der Gene in Bezug auf die äußere Erscheinung und die Eigenschaften). Die Genexpression, die insgesamt das phänotypische Geschlecht erzeugt, kann auch von weiteren Faktoren wie der Epigenetik und hormonellen Prozessen beeinflusst werden.“[3]
Hier gibt es aber große Abhängigkeiten, denn im Verlauf der Evolution ist das biologische Geschlecht stark von der evolutionär vorteilhaften sozialen Rollenverteilung geprägt worden:
„Im Laufe der sechs Millionen Jahre währenden menschlichen Evolution übernahmen Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben, um das Überleben der eigenen Art zu sichern. Neben einigen anderen Gründen haben sich aufgrund der Spezialisierung der Männer auf Jagd und Kampf sowie der Spezialisierung der Frauen auf Sammeln und die Versorgung von Angehörigen bei den Funktionsweisen der Körpersysteme von Mann und Frau bestimmte genetische Unterschiede herausgebildet. […] Es gibt […] starken Grund zu der Annahme, dass die soziale Rollenverteilung – die im Laufe der menschlichen Entwicklung bemerkenswert statisch blieb – zu signifikanten äußerlichen und physiologischen Unterschieden zwischen beiden Geschlechtern geführt hat. Dieser Unterschied, der in der Medizin gegenwärtig kaum beachtet wird, bildet die Grundlage für die moderne gender- und geschlechtsspezifische Medizin.“[4]
Die Struktur und Interessensgebiete der Gendermedizin beschreibt Glezermann daher folgendermaßen:
„Die Basis bilden die Chromosomen, sozusagen als biologische Hardware. Die nächste Schicht sind die biologischen Veränderungen, denen Männer und Frauen im langen Verlauf der Evolution unterworfen waren. Diese biologischen Anpassungen haben unseren Vorfahren gestattet, bestimmte Bedürfnisse im Zusammenhang mit ihren sozial definierten Genderrollen zu bedienen […]. Diese Veränderungen wurden genetisch von Generation zu Generation weitergereicht, und dieses Erbe bildet die Grundlage für die wichtigsten biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die wir beim Menschen heute beobachten. Abschließend habe ich diese biologischen, im Erbgut verankerten Ebenen um eine zusätzliche Schicht ergänzt, die soziale und umgebungsbedingte Einflüsse enthält, also die Schicht des soziokulturellen Geschlechts (Gender). Alle Komponenten des Gesamtgebildes stehen in engem Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit.“[5]
Das bedeutet natürlich, dass das genetisch festgelegte Geschlecht von den über Jahrmillionen evolutionär vorteilhaften klassischen Geschlechterrollen so geprägt ist, dass diese nun weitgehend im Genom imprägniert sind und damit heute eine Abhängigkeit des soziokulturellen Geschlechts vom biologischen vorliegt. Gendermedizin kümmert sich daher auch wohlweislich nur um die richtige Behandlung von Männern und Frauen je nach ihren unterschiedlichen Eigenschaften und nicht um die Leugnung biologischer Unterschiede oder die soziokulturelle Umdeutung der Frau in einen Mann, wie sie von soziologisch-geisteswissenschaftlicher Seite angestrebt wird. Denn diesen Fehler hat die Medizin bereits in umgekehrter Richtung teilweise begangen. Daher ist sie offenbar klüger geworden als die vergleichsweise unerfahrenen, jüngeren Geisteswissenschaften.
Der ganze Beitrag kann gelesen werden in: Harald Schulze-Eisentraut/Alexander Ulfig, Gender Studies – Wissenschaft oder Ideologie? Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2019.
[1] Klaus Michael Meyer-Abich, Was es bedeutet, gesund zu sein: Philosophie der Medizin. München: Hanser 2010.
[2] A. Appels, „Coronary Heart Disease as a Cultural Disease“. Psychotherapy and Psychosomatics 22:320-324 (1973).
[3] Marek Glezermann, Frauen sind anders krank. Männer auch: Warum wir eine geschlechtsspezifische Medizin brauchen. Mosaik: München 2018 (eBook), Kap. 1, Abs. 2 und 3.
[4] Ebd., Kap. Einleitung, Abstract und Unterkap. „Kultur, Technik und der menschliche Körper“, Abs. 3.
[5] Ebd., Kap. 1, Abs. 7 und 8.