Wissenschaft und Anti-Wissenschaft seit der Aufklärung

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Für die Aufklärung des 18. Jh. war die Wissenschaft das Instrument der Welterklärung. Sie zeigte Wege (Methoden) auf, die Welt rational, d.h. gemäß der menschlichen Vernunft, zu erklären. Die Aufklärung übernahm dabei Vieles von voraufklärerischen Denkern, die Weichen für die neuzeitliche Wissenschaft stellten. Sie fügte ihren Überlegungen jedoch eine praktische Komponente hinzu, und zwar den Anspruch, die Welt nicht nur zu erklären, sondern auch zu verbessern, präziser: die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.

Grundlegend für das Wissenschaftsverständnis der Aufklärung ist die empirische Vorgehensweise: Wenn man über die Welt Aussagen macht, dann müssen diese Aussagen anhand von Beobachtung begründet werden. Die Beobachtung dient als die Basis für wissenschaftliche Forschung.
Seit der Aufklärung haben Wissenschaftler versucht, präzisere Methoden der Realitätserfassung und – erklärung auszuarbeiten. Es gab aber auch Kräfte – und es gibt sie heute immer noch -, die die empirische Vorgehensweise gering schätzten oder gar desavouierten.

Im ersten Schritt werde ich das Wissenschaftsverständnis der Aufklärung skizzieren, wobei die Rolle der Beobachtung im Fokus meiner Aufmerksamkeit stehen wird. Im zweiten Schritt werde ich Hegels Verhältnis zur empirischen Forschung vor dem Hintergrund seiner philosophischen Theologie erläutern. Der Logische Empirismus und der Kritische Rationalismus stehen in der Tradition der Aufklärung. Der Bezug auf die Empirie ist für beide Strömungen zentral. Sie folgen aufklärerischen Idealen wie Klarheit, Anschaulichkeit, Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und logischer Stringenz. Hingegen missversteht die Kritische Theorie, auch „Frankfurter Schule“ genannt, die Grundannahmen der empirischen Vorgehensweise. Sie möchte die empirisch vorgehende Wissenschaft in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellen, begeht dabei jedoch einige Kategorienfehler. Schließlich werde ich das Verhältnis der philosophischen Postmoderne zur Realität und zur empirischen Forschung behandeln.

Die Wissenschaft der Aufklärung

Die Aufklärung ist eine geistig-kulturelle Bewegung, die im 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich (man spricht auch von Französischer Aufklärung), aber auch in anderen Ländern wie z.B. England und Deutschland stattfand. Sie verfolgte das Ziel, auf Tradition und Autorität zurückgreifende Ansichten, vor allem religiöser und politischer Art, einer kritischen, sich an der Autonomie der menschlichen Vernunft orientierenden Prüfung zu unterziehen und diese Ansichten, falls sie der Prüfung nicht standhalten, zu revidieren bzw. durch andere, am Maßstab der Vernunft entwickelte Überzeugungen zu ersetzen.1

Die bekannteste Definition der Aufklärung stammt von Immanuel Kant:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“2

Zu den Aufklärern gehörten neben Wissenschaftlern auch Literaten und Publizisten. Die bedeutendsten Aufklärer waren in Frankreich Alembert, Diderot, Montesquieu, Voltaire, Rousseau und La Mettrie, in Deutschland von Holbach, Kant, Lessing und Wolff.

Die Wissenschaft spielt für die Aufklärung eine ganz besondere Rolle: Sie ist ihr Vorbild. Sie ist das Mittel, mit dem die Aufklärung die Welt erklären und verändern möchte. Mit Hilfe der Wissenschaft soll die Befreiung von dogmatischen oder spekulativen Ansichten, sei es religiöser oder metaphysischer Art, vollzogen werden. An die Stelle von Dogmen, d.h. unbegründeten Prinzipien, und Spekulationen tritt begründetes Wissen.

Als methodologische Vorbilder dienten der Aufklärung bestimmte Wissenschaften. Es waren die Mathematik, die Physik und die Astronomie, also Wissenschaften, die man heute als exakt bezeichnet. Die Aufklärer konnten dabei auf Arbeiten von voraufklärerischen Wissenschaftlern zurückgreifen, Wissenschaftlern wie Kepler, Kopernikus, Bruno, Galilei, Descartes, Leibniz und Newton. Diese Wissenschaftler gelten als Vorläufer der Aufklärung. Mit ihrer rational-wissenschaftlichen Vorgehensweise haben sie Weichen für die Aufklärung gestellt.

Als Vorläufer der Aufklärung können auch die englischen Empiristen (Berkeley, Locke, Hume) angesehen werden. Nach John Locke beginnt jedes Erkennen mit der begriffslosen sinnlichen Erfahrung und soll aufgrund von dieser Erfahrung überprüft werden. Es gibt ihm zufolge keine angeborenen Ideen, d.h. Ideen, die unabhängig von sinnlicher Erfahrung existieren, vielmehr ist menschliches Bewusstsein vor dem ersten Sinneseindruck ein unbeschriebenes Blatt Papier („tabula rasa“). Alle Ideen entstammen der sinnlichen Erfahrung; einfache Ideen sind Sinnesdaten, die sich auf keine einfacheren Sinnesdaten zurückführen lassen, wie z.B. die Wahrnehmung von Farben; einfache Ideen werden vom Verstand zu komplexen Ideen gebildet.

Nicht alle Aufklärer waren Empiristen; sie nahmen nicht alle an, dass empirische, d.h. durch Beobachtung gewonnene Daten, das Fundament des Wissens bilden. Viele von ihnen und ihren Vorläufern versuchten noch, einen absoluten, nicht-empirischen Ursprung der Erkenntnis (siehe z.B. René Descartes mit seinem „cogito ergo sum“) zu finden. Doch die empirische Sichtweise setzte sich immer mehr durch. Wer Wissenschaft betrieb, musste auf die Empirie auf die eine oder andere Weise Bezug nehmen.

Grundlegend für die Aufklärung und für die gesamte neuzeitliche Wissenschaft ist die Beobachtung. Beobachten ist das bewusste Wahrnehmen eines Gegenstandes, Sachverhaltes oder Ereignisses. Die Wissensbildung in der Wissenschaft erfolgt über die Reihe: zufällige Beobachtung, wiederholte Beobachtung, qualitative Beobachtung (Messung und darauf aufbauend die Berechnung), Beobachtung unter künstlichen Bedingungen (Experiment).3 Die Beobachtung kann nicht nur als ein Grundelement, sondern auch als die Basis des Wissens bzw. der wissenschaftlichen Erkenntnis betrachtet werden.

Durch wiederholte Beobachtung werden Regelmäßigkeiten und weiterhin Gesetzmäßigkeiten festgestellt. Der Schluss von Einzelbeobachtungen auf Regelmäßigkeiten, vom Einzelnen auf das Allgemeine wird als Induktion bezeichnet. Sie ist das herrschende Verfahren in der neuzeitlichen Wissenschaft. Als ihr Begründer gilt Francis Bacon.

Beobachtbare Sachverhalte (genauer: Dinge, Eigenschaften von Dingen und Verhältnisse zwischen Dingen) können gezählt und gemessen werden. Das ist wiederum die Grundlage für Berechnungen. Für die Aufklärung ist deshalb die Mathematik von zentraler Bedeutung.

Das Experiment ist die geregelte Herstellung von Bedingungen zum Zweck der Beobachtung bestimmter Phänomene. Experimente können wiederholt werden. Das Experiment verfolgt u.a. den Zweck, die Gültigkeit von Hypothesen zu überprüfen (zum Begriff der Hypothese siehe unten). Eine Hypothese kann durch das Experiment bestätigt oder widerlegt werden. Als Begründer der experimentellen Methode gilt der Vorläufer der Aufklärung Galileo Galilei.

An dieser Stelle möchte ich noch Folgendes anmerken: Die weltanschauliche Grundlage der Aufklärung und der gesamten neuzeitlichen Wissenschaft ist der Materialismus. Das Materielle, die Materie, hat einen Vorrang vor dem Ideellen, Seelischen, Geistigen, genauer: Das Materielle liegt dem Ideellen, Seelischen und Geistigen zugrunde.4

In der neuzeitlichen Wissenschaft wird Materie als materielle Körperwelt aufgefasst. Der materielle Körper wird von Galilei anhand der Begriffe Masse und Bewegung bestimmt. Die Welt der materiellen Körper kann gemessen werden und ist dem experimentellen Zugriff zugänglich.

In der Französischen Aufklärung erlebt der Materialismus einen Höhepunkt. Bewusstseinsprozesse werden auf materielle Prozesse zurückgeführt. Auch der Mensch ist ein Teil der materiellen Welt. Er ist eine „lebende Maschine“ (La Mettrie), d.h. ein Mechanismus, der rein materieller, physiologischer Natur ist.5 Zu den wichtigsten Repräsentanten des Materialismus gehören La Mettrie, von Holbach, Diderot und Helvetius.

Ein zentrales Element der Wissenschaft ist das Aufstellen und Überprüfen von Hypothesen. Hypothesen sind Aussagen über die Realität, Annahmen, Vermutungen, um mit Karl Popper zu sprechen, die anhand von empirischen Daten, d.h. durch Beobachtung gewonnene Daten, entweder bestätigt oder verworfen werden. Allerdings muss hier hervorgehoben werden, dass die Denker der Aufklärung nicht ausdrücklich vom hypothetischen Verfahren sprechen, doch der Sache nach verwenden sie es; es bildet einen zentralen Bestandteil ihrer Methodik.6

Doch außer der theoretischen, auf die Erkenntnis der Welt ausgerichteten, hatte die Wissenschaft für die Aufklärung eine praktische Funktion. Der Mensch soll sich mit Hilfe der Wissenschaft von allem, was ihn behindert, befreien, sich selbst bestimmen und seine Lebensbedingungen verbessern. Sie soll es ermöglichen, in die Natur einzugreifen und sie zu beherrschen (als Vorbild gilt dabei das Experiment, das ja planmäßig in die Natur eingreift). Das geht mit einem ungebrochenen Glauben an die Technik und den Fortschritt zusammen.

Die Aufklärung legte mit ihrem rational-wissenschaftlichen Weltbild Weichen für einen säkularen Staat und eine republikanische Staatsverfassung.7 Ihr großes Verdienst besteht nicht zuletzt in der Formulierung und Propagierung der Menschenrechte. Sie sind als unveräußerliche Grundrechte des Einzelnen, des Individuums, gegenüber dem Staat zu verstehen (siehe die Erklärung der Menschenrechte von 1776 in Nordamerika und 1789 in Frankreich). Sie sind an keine Bedingungen gebunden, unverhandelbar, sie werden dem Individuum nicht verliehen, sondern kommen ihm von Geburt aus zu.

Hegels Antiwissenschaft

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel kritisiert den Empirismus (Hauptvertreter: John Locke und David Hume). Für den Empirismus ist die sinnliche Wahrnehmung, die Beobachtung, und das auf der Wahrnehmung beruhende Wissen grundlegend. Nach Hegel zeichnet sich der Empirismus durch „Endlichkeit der Form“ aus „und außerdem ist auch noch der Inhalt endlich“.8 Endlichkeit ist für ihn das Hauptmerkmal des Empirismus und der mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Erkenntnis: endlicher Gegenstand, endliche Wahrnehmung und endlicher Verstand – im Gegensatz zur Unendlichkeit der Metaphysik (Gott).9

Hegel kritisiert in diesem Zusammenhang auch Immanuel Kant, denn Kant möchte in Anlehnung an die Empiristen die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzeigen, d.h. das benennen, was erkennbar und was nicht erkennbar ist.

Weitere Merkmale des Empirismus und somit der empirisch ausgerichteten Wissenschaft sind neben Endlichkeit Diesseitigkeit und Konkretheit. Sinnliche Wahrnehmung (Beobachtung) ist per se auf das Diesseits, auf die Gegenstände in der Welt bezogen, der Inhalt ist zunächst konkret, nicht abstrakt. Hegel schwebt offensichtlich ein anderes, „höheres“ Wissen vor: ein auf Unendlichkeit und Jenseits gerichtetes, absolutes Wissen.
Hegel zufolge ist das empirische, auf sinnlicher Wahrnehmung (Beobachtung) beruhende Wissen nur eine Phase in der Entwicklung des Wissens, ein „Moment des Wissens“, über das man hinausgehen muss, um zur Wahrheit zu gelangen.

Ferner kritisiert Hegel am Empirismus und der empirisch vorgehenden Wissenschaft, dass sie Allgemeinbegriffe wie „Kraft“, „Substanz“, „Materie“ usw. bilden und verwenden sowie Verallgemeinerungen (Bildung von Klassen und Gattungen) vornehmen, d.h. über das Konkrete und Sinnliche hinausgehen, ohne aus diese Denkleistungen zu reflektieren.10

Dieser Einwand ist berechtigt, denn die Empiristen thematisierten in der Tat kaum die „Theoriebeladenheit“ der Hypothesenbildung und -überprüfung. Doch Hegel möchte auf etwas Anderes hinaus: Für ihn ist – wie oben bereits festgestellt wurde – empirisches Wissen nur die erste Phase in der Entwicklung des Wissens: ein defizitärer Modus der Erkenntnis. Mittels empirischen Wissens können wir die wahre Realität niemals erkennen. Die wahre Realität ist eine höhere, absolute, göttliche. Ich interpretiere daher Hegels Position in Anlehnung Wilhelm Weischedel11 als eine philosophische Theologie: „So ist Gott der eine und einzige Gegenstand der Philosophie; mit ihm sich zu beschäftigen, in ihm alles zu erkennen, auf ihn alles zurückzuführen, so wie aus ihm alles Besondere abzuleiten“, ist ihre Aufgabe. „Die Philosophie ist daher Theologie, und die Beschäftigung mit ihr oder vielmehr in ihr ist für sich Gottesdienst.“12

Und an einer anderen Stelle heißt es: Der Gegenstand der Philosophie ist

„die ewige Wahrheit, nichts als Gott und seine Explikation. Die Philosophie expliziert nur sich, indem sie die Religion expliziert, und indem sie sich expliziert, expliziert sie die Religion. (…) So fällt Religion und Philosophie in eins zusammen.“13

Philosophie und Religion haben denselben Gegenstand: Gott als den absoluten Geist. Der Unterschied liegt bloß in der Form. Die Religion vermittelt Gott in „Form der Vorstellung“, die Philosophie hingegen verwandelt das, was in Form der Vorstellung ist, in die „Form des Begriffs“. Philosophie ist begriffliches Denken und steht im gewissen Sinne über der Religion. Erst begriffliches Denken kann die Wahrheit der Religion erfassen.14

In seinen Werken stellt Hegel die „Momente“ und die Entwicklung des absoluten Geistes als der eigentlichen, wahren und höchsten Wirklichkeit dar. „Das Geistige (im Sinne des absoluten Geistes, A.U.) ist allein das Wirkliche.“15 Komplementär dazu heißt es über Gott: „Die einzige absolute Wirklichkeit ist allein Gott.“16 Was von Gott getrennt ist, dem kommt keine Wesentlichkeit zu. Es kann als ein bloßer Schein betrachtet werden.

Hegels Geringschätzung der empirischen Wissenschaft gründet in seinem philosophisch-theologischen Konzept. Das empirische Wissen ist Hegel zufolge „endliches Bewusstsein“. Es ist nicht in der Lage, die wahre Wirklichkeit, den absoluten Geist/Gott zu erfassen. Nur eine höhere „Wissenschaft“ kann dies vollbringen.

In der Tradition der Aufklärung: Der Logische Empirismus

Der Logische Empirismus gehört zu den bedeutendsten philosophischen Strömungen des 20. Jh. Er wird auch als „logischer Positivismus“, „Positivismus“, Neopositivismus“ oder „Philosophie des Wiener Kreises“ bezeichnet. Zu den wichtigsten logischen Empiristen gehören: Moritz Schlick, Otto Neurath, Rudolf Carnap, Viktor Kraft, Hans Reichenbach und Herbert Feigl.

Der Logische Empirismus strebt nach möglichst großer Klarheit, Anschaulichkeit, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit. Dementsprechend lehnt er Ungenauigkeit, Vagheit, ungeprüfte und dogmatische Erkenntnis sowie spekulatives Denken ab. Insofern steht der Logische Empirismus in der Tradition der Aufklärung.17

Wie der Name „Logischer Empirismus“ sagt, sind es zwei Elemente, die für diese Strömung zentral sind: die moderne Logik und die empirische, d.h. auf Beobachtung basierende Erkenntnis. Konzentrieren wir uns auf den empirischen Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Basis der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die sinnliche Erfahrung, insbesondere die Beobachtung.

Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis sind die beobachtbaren räumlich-zeitlichen Gegenstände. Verallgemeinerungen und Naturgesetze werden auf der Grundlage von räumlich-zeitlichen Gegenständen rekonstruiert (induktive Methode).18

Vertreter des Logischen Empirismus bemühen sich, eine Wissenschaftssprache aufzubauen, also eine Sprache, die so exakt wie möglich die Realität darstellen, den Gesetzen der Logik folgen würde und deren Aussagen intersubjektiv überprüfbar wären. Wichtig war dabei die Unterscheidung zwischen der Beobachtungssprache, in der sinnlich wahrnehmbare Gegenstände und Sachverhalte erfasst, und einer Theoriesprache, in der theoretische Begriffe bestimmt werden.19

Des Weiteren suchen die Repräsentanten des Logischen Empirismus nach einem Sinnkriterium, d.h. nach einem Kriterium, anhand dessen man zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen unterscheiden könnte. Nur solche Sätze sind sinnvoll, die empirisch überprüft werden können, deren Wahrheit anhand der empirischen Realität festgestellt werden kann. Darüber hinaus sind Sätze der Logik und Mathematik sinnvoll. Sätze, die das Sinnkriterium nicht erfüllen, sind sinnlos.20 Sätze, die dem Sinnkriterium nicht entsprechen, sollen aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden.

So sind metaphysische Sätze, d.h. Sätze, die empirisch nicht überprüft werden können, sinnlos. Solche Sätze enthalten Begriffe, deren Bedeutung man nicht im Rückgriff auf die empirische Realität, auf beobachtbare Sachverhalte, bestimmen kann. Es sind Begriffe wie „das Absolute“, „das Unbedingte“, „das Notwendige“, „der Geist“ oder „Gott“.

Folgerichtig lehnen die logischen Empiristen das von Immanuel Kant postulierte Konzept des synthetischen Apriori, d.h. einer Erweiterung der Erkenntnis vor der Konfrontation mit der empirischen Realität, ab.

Für den Logischen Empirismus sind zwei Urteilsarten sinnvoll: synthetische Urteile a posteriori, also Urteile, die sich auf die empirische Realität beziehen, und analytische Urteile a priori, die nur aufgrund von Definitionen und logischen Festlegungen und somit immer vor der Konfrontation mit der Realität aufgestellt werden, d.h. Urteile, die in Logik und Mathematik vorkommen.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper ist kein logischer Empirist. Seine Position wird als Kritischer Rationalismus bezeichnet, doch auch für ihn ist der Bezug auf die empirische Realität von entscheidender Bedeutung.

Nach Popper gibt es keine reine Beobachtung. Sie ist immer schon „theoriegeladen“, d.h. dass in sie Erfahrungen, Erwartungen usw. hineinfließen. Sätze über Beobachtungen sind „Interpretationen der beobachtbaren Tatsachen“.21

Deshalb ist für Popper die Methode der Induktion nicht angebracht, um die Logik der Forschung zu erklären. Er schlägt stattdessen die Methode der Deduktion vor: Ein Wissenschaftler stellt generelle Hypothesen (allgemeine Sätze über die Realität, meist in Form von Annahmen bzw. Vermutungen) auf und konfrontiert diese Hypothesen mit empirisch feststellbaren Sachverhalten (Tatsachen). Dabei soll es nicht um die Verifikation (die Feststellung der Wahrheit), sondern – der kritischen Haltung folgend – um die Falsifikation (die Feststellung der Falschheit) von Hypothesen gehen. Hypothesen sind prinzipiell widerlegbar. Und sie sind durch empirisch feststellbare Sachverhalte widerlegbar. Popper spricht in diesem Zusammenhang von Basissätzen, die sich auf Beobachtungen stützen und mit deren Hilfe generelle Hypothesen widerlegt werden können.22

Die Methode der Falsifikation soll die Forscher dazu veranlassen, nach neuen, besseren Hypothesen zu suchen. Des Weiteren gilt die Falsifikation als Abgrenzungskriterium für wissenschaftliche Sätze: Sätze (und Theorien) sind wissenschaftlich, wenn sie sich falsifizieren lassen, sie sind nicht wissenschaftlich, z.B. dogmatisch, wenn sie sich der Falsifikation verschließen.
Ich wiederhole: Trotz aller Unterschiede zum Logischen Empirismus ist der Kritische Rationalismus Poppers auch eine sich an der empirischen Überprüfung orientierende Theorie.

Die Geringschätzung der empirischen Forschung durch die Kritische Theorie

Die Kritische Theorie, auch „Frankfurter Schule“ genannt, ist eine weitere wichtige philosophische Strömung des 20 Jh. Sie hatte und hat bis heute eine große Wirkung nicht nur auf die Philosophie und die Gesellschaftstheorie, sondern auch auf meinungsbildende intellektuelle Eliten und dadurch auf das gesellschaftspolitische Leben der Bundesrepublik. Sie entwickelte ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis und eine Wissenschaftskritik. Doch wie ist das Verhältnis der Hauptrepräsentanten der Kritischen Theorie zur empirischen Forschung und somit zur empirisch arbeitenden Wissenschaft? Wie ist ihr Verhältnis zum Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus, für die die empirische Forschung zentral ist?

Max Horkheimer, einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie, unterscheidet zwischen der traditionellen und der kritischen Theorie. Der oben dargestellte Logische Empirismus – von den kritischen Theoretikern meist als „Positivismus“ bezeichnet – ist nach Horkheimer ein Paradebeispiel für traditionelle Theorie. Er orientiert sich an Tatsachen und beachtet dabei nicht den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang („Totalität“). Er ist ferner an dem gesellschaftlichen status quo, d.h. an der Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, „Verewigung des gegenwärtigen Zustands“, und nicht an ihrer Veränderung bzw. Aufhebung interessiert.23

Darüber hinaus ist der Positivismus wertfrei, was für Horkheimer – und andere Vertreter der Kritischen Theorie – ein starker Vorwurf ist. Dadurch, dass er statisch und wertfrei ist, dient er der Stabilisierung und Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die von Horkheimer propagierte Kritische Theorie möchte hingegen die Totalität, das gesellschaftliche Ganze, erfassen. Sie dient nicht der Stabilisierung und Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse, sondern zeigt Wege auf, die Gesellschaft zu verändern. Sie strebt nach einem
„Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung, in dem tatsächlich ein umfangreiches Subjekt, das heißt die selbstbewusste Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theoriebildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann …“24

Die Kritische Theorie möchte das „gesellschaftliche Unrecht“ aufheben, d.h. einen „gerechten Zustand unter den Menschen“ herstellen.25 Folgerichtig strebt sie nach „Frieden, Freiheit und Glück“.

Entscheidend ist, dass mit der Kritischen Theorie auch eine politische Praxis verbunden ist. Um politische Veränderungen zu bewirken, sind Aktivitäten notwendig. Wie diese Praxis aussehen sollte, wird von Horkheimer nicht genau ausgeführt, sondern nur angedeutet.

Ethische und gesellschaftspolitische Ansprüche und Forderungen sollen Horkheimer zufolge die Theoriebildung und die wissenschaftliche Forschung bestimmen. Anders formuliert: Wissenschaft soll von vornherein und durchgehend von ethischen und gesellschaftspolitischen Imperativen bestimmt sein. Damit hängt zusammen, dass Horkheimer die Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft, nach der wissenschaftliche Aussagen keine Werturteile enthalten sollten, ablehnt.

Ähnlich wie Horkheimer argumentiert der zweite Hauptvertreter der Kritischen Theorie Theodor Wiesengrund Adorno. Der Positivismus nimmt die Tatsachen hin, ohne nach ihrem Wesen und den hinter ihnen wirkenden Mechanismen zu fragen. Somit bejaht er das Bestehende.

„Positivismus heißt nicht nur eine Gesinnung, die ans positiv Gegebene sich hält, sondern auch eine, die dazu positiv steht, gewissermaßen durch die Reflexion das ohnehin Unvermeidliche ausdrücklich sich zueignet.“26

Positivismus heißt beides: Bejahung der Tatsachen und ihre Legitimierung, also die Legitimierung der bestehenden Verhältnisse.

Ähnlich wie Horkheimer wirft Adorno dem Positivismus vor, dass er nicht das gesellschaftliche Ganze und somit die Abhängigkeit der Wissenschaft von wissenschaftsexternen Faktoren berücksichtigt. Auch für Adorno bestimmen ethische und gesellschaftspolitische Wertungen die Theoriebildung und die wissenschaftliche Forschung. Daher ist die Forderung nach der Wertfreiheit der Wissenschaft für ihn unhaltbar:

„Die Dichotomie von Sein und Sollen ist so falsch wie geschichtlich zwangahft.“27

Die Bildung von Hypothesen und ihre Überprüfung anhand von Tatsachen, d.h. ihre empirische Überprüfung, ist für Adorno von „nachrangiger Bedeutung“, denn sein eigentliches Vorhaben ist der „Entwurf eines politischen Programms“.28

Dabei schwebt Adorno eine neue Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung vor, eine Gesellschaft, in der Individuen nach Freiheit und Emanzipation streben würden.

Daher sollte Wissenschaft im Sinne der empirischen Forschung von vornherein und durchgehend im Dienste des genannten gesellschaftspolitischen Entwurfs und der damit einhergehenden gesellschaftspolitischen Praxis stehen.

1) Horkheimer und Adorno, aber auch andere kritische Theoretiker wie Jürgen Habermas, gehen davon aus, dass ethische Forderungen und Wertungen in die Theoriebildung, die konkrete wissenschaftliche Arbeit und sogar in die Konstitution von Tatsachen, aller Tatsachen, also auch der naturwissenschaftlichen, eingehen.29

Wie genau dieses Eingehen, diese Konstitution vonstattengeht, wird von ihnen nicht genau ausgeführt. Es bleibt alles bei Andeutungen, wenn Horkheimer von „planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung“, von der „Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation“, der „Veränderung zum Richtigen“ bezüglich der Theoriebildung und der wissenschaftlichen Forschung schreibt.30

Nur nebenbei sei hier angemerkt, dass die Richtigkeit der von den kritischen Theoretikern genannten ethischen Forderungen und Wertungen von ihnen nicht weiter begründet wird. Die Forderungen und Wertungen werden als Imperative des Denkens und Handels (bessere, gerechtere Gesellschaft, Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, Emanzipation des Menschen) nicht in Frage gestellt, d.h. dogmatisch angenommen. Allenfalls wird an einigen Stellen anthropologisch argumentiert. So behauptet Horkheimer, dass „das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft … in jedem Menschen wirklich angelegt“ ist.31

2) Horkheimer und Adorno behaupten, dass logische Positivisten und kritische Rationalisten auf ihre eigenen Forschungsstandards nicht reflektieren. Das ist falsch, denn logische Positivisten, insbesondere aber der kritische Rationalist Popper thematisieren ausführlich die Standards der wissenschaftlichen Forschung.32 Sie entwickeln elaborierte Methodologien, in denen diese Standards analysiert werden. Logische Empiristen und kritische Rationalisten sprechen von Faktoren, die unsere Erkenntnis der Welt beeinflussen. Zu ihnen gehören: Annahmen, Erwartungen, Hintergrundwissen, Theoriebeladenheit der Beobachtung, Vermitteltheit durch Sprache, Kontextabhängigkeit usw. Doch entscheidend ist für sie der Realitätsbezug, genauer: der Bezug auf die empirische Realität.

In der Formulierung einer Hypothese legt der Forscher seine Vermutungen offen und unterzieht sie einem kontrollierten Test an der Realität. Die Hypothese wird in der Konfrontation mit der Realität bestätigt oder widerlegt. Dieses Verfahren gilt sowohl für die Natur- als auch die Sozialwissenschaften.

3) Im sog. Positivismusstreit, an dem Repräsentanten der Kritischen Theorie (vor allem Adorno und Habermas) auf der einen und die des Kritischen Rationalismus (vor allem Popper und Albrecht) auf der anderen Seite teilnahmen, geht es um den Einfluss von Werten (z.B. in Form von politischen Vorstellungen, Interessen und Zielen) auf die Überprüfung von wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien. Der Positivismusstreit geht auf Ausführungen des Soziologen Max Weber zurück.33 Er vertritt die These, dass der Auswahl von Forschungsfragen Wertungen zugrunde liegen. Die Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten soll jedoch wertfrei durchgeführt werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dürfen wiederum für politische, soziale oder wirtschaftliche Ziele verwertet werden. Aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung folgen jedoch logisch keine Anweisungen darüber, wie diese Ergebnisse verwertet werden sollten.
In Anlehnung an Max Weber kann zwischen dem Entstehungszusammenhang, dem Begründungszusammenhang und dem Verwertungszusammenhang unterschieden werden:

– Im Entstehungszusammenhang werden Untersuchungsgegenstände nach Relevanzgesichtspunkten ausgewählt. Die Auswahl kann von wissenschaftsexternen Faktoren, z.B. von politischen oder wirtschaftlichen Interessen, abhängen.
– Im Begründungszusammenhang sollen wissenschaftsexterne Wertungen ausgeschlossen werden. Sie dürfen den Prozess der Überprüfung bzw. Begründung von Hypothesen nicht beeinflussen. Das Postulat der Wertfreiheit soll demnach nur für den Begründungszusammenhang gelten.
– Im Verwertungszusammenhang können die gewonnen Erkenntnisse für politische Zwecke verwendet werden. Hier kann z. B. darüber entschieden werden, wie die Ergebnisse der Genforschung verwertet werden können.

Vertreter der Kritischen Theorie treffen nicht die von Max Weber und in Anlehnung an Max Weber vorgeschlagenen Unterscheidungen. Für sie steht Wissenschaft von vornherein und durchgehend, d.h. in allen hier genannten Zusammenhängen, unter dem Diktat von ethischen Forderungen und Wertungen, die weitgehend einen weltanschaulichen und politischen Charakter haben.

Neben der Geringschätzung der empirischen Forschung hat die Nicht-Beachtung der genannten Differenzierungen noch weitere Konsequenzen: Die in der Wissenschaft herrschenden Ideale der Neutralität, Unparteilichkeit und Objektivität werden über Bord geworfen, die Unabhängigkeit der Wissenschaft, also das, worum die Wissenschaftler immer schon gekämpft haben, wird negiert.

Das gestörte Verhältnis der Postmoderne zur Realität und zur Wissenschaft

Die philosophische Postmoderne ist eine einflussreiche geistig-kulturelle Strömung der Gegenwart. Ihre Wirkung erstreckt sich nicht nur auf geisteswissenschaftliche Fakultäten an den Universitäten, sondern mittlerweile auf alle relevanten Bereiche unserer Gesellschaft, auch auf die Politik.34

Die Postmoderne lehnt die Ideale und Ansprüche der Aufklärung ausdrücklich ab; sie wendet sich gegen den Anspruch, sich an der Vernunft zu orientieren, die Welt rational zu erklären, ferner gegen den Anspruch, Fakten festzustellen und ihr Zusammenwirken zu erklären, darüber hinaus gegen den Anspruch, Thesen methodisch und anschaulich zu begründen, sie wendet sich grundsätzlich gegen logisches, systematisches und methodisches Denken. Es kann keine festen Beurteilungskriterien, Standards und Methoden, es kann kein allgemeingültiges Wissen geben. Folgerichtig werden wissenschaftliche Ansprüche auf Wahrheit, Allgemeingültigkeit und Objektivität von den Vertretern der Postmoderne abgelehnt.35

Auch in praktischer Hinsicht wird Ähnliches behauptet: Es kann keine allgemeingültigen Normen und Werte geben, es kann keine Begründung von Normen geben. Führende Postmodernisten sind gegen das Ideal der Befreiung des Menschen (Emanzipation) und das seiner Selbstbestimmung.36

Als Alternative zur Allgemeingültigkeit wird Partikularität und Singularität, zum systematischen, geordneten Ganzen das Fragmentarische, zur Objektivität Subjektivität aufgefasst.37

Die Realität löst sich gemäß den Postmodernisten in Interpretationen, Deutungen und Diskurse auf:

„Die Realität soll sich im Prozess einer ´unendlichen` Interpretation und eines ziellosen Fragens in einer Nebelwelt von Übergängen, Differenzen, Verschiebungen, Spaltungen etc. auflösen. (…) Nichts ist eindeutig erfassbar und zusammenhängend ´lesbar`, kein Unterschied zwischen ´Text` und Kontext zu bezeichnen.“38

Michel Foucault, der wohl prominenteste Postmodernist, schreibt darüber:

„Es gibt kein absolutes Erstes, das zu interpretieren wäre, denn im Grunde ist alles immer schon Interpretation, jedes Zeichen ist an sich nicht die Sache, die sich der Interpretation darböte, sondern eine Interpretation anderer Zeichen.“39

Alles spielt sich auf der Ebene von Interpretationen/Diskursen ab. Zeichen verweisen auf Zeichen, Interpretationen auf Interpretationen. Daher spielt in der postmodernistischen Weltanschauung die empirische Überprüfung von Thesen, ihre Überprüfung anhand von Tatsachen keine Rolle.
Die Interpretationen bestehen nebeneinander und sind miteinander inkompatibel, d.h. unvergleichbar, ineinander nicht übersetzbar. Es gibt demnach keine Kriterien, anhand derer man sagen würde, eine Interpretation wäre besser als die andere.

Für den Postmodernisten Jean Baudrillard verschwindet die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Die Wirklichkeit ist imaginär geworden. Zeichen und Symbole haben sich von äußerem Einflüssen gelöst und verselbständigt. Die Relation zwischen Tatsachen und Interpretationen hat sich aufgelöst.40 Nicht die empirisch feststellbaren Sachverhalte, sondern die Fiktion stellt die eigentliche Wirklichkeit, „die einzig relevante Orientierungsdimension“, dar. Deshalb hat sich Baudrillard zufolge die Unterscheidung zwischen Wahrheit (als Übereinstimmung zwischen Aussage und Realität) und Lüge überlebt.

Das gestörte Verhältnis der Postmodernisten zur Realität und zur empirischen Forschung gründet auch darin, dass sie eine besondere Form des Konstruktivismus vertreten. Das gilt insbesondere für Feministinnen, die sich auch als Postmodernistinnen verstehen, wie z.B. Judith Butler und Donna Haraway.

Judith Butler knüpft an postmoderne Philosophen, vor allem an Michel Foucault und Jacques Derrida, an. Geschlecht wird von ihr als eine soziale Konstruktion aufgefasst, und zwar nicht nur das soziale (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex).41

Das Geschlecht wird immer wieder erzeugt und gestaltet. Die Realität wird durch Sprache, präziser: durch Deutungen im Rahmen von „Diskursen“ und durch „diskursive Praktiken“, hergestellt.

Auch Genderkonstruktivistinnen lehnen die Ideale der Wissenschaft wie Unparteilichkeit, weltanschauliche Neutralität, Ergebnisoffenheit und Objektivität ab. Nach Donna Haraway ist die Erkenntnis der Welt sozial situiert, verortet, kontextabhängig, durch Diskurse vermittelt, von Interessen und Macht geleitet.42

Der Genderkonstruktivismus stellt die Wissenschaft in einen positiven Kontext. Wissenschaft soll demnach von vornherein und durchgehend politischen Interessen dienen. Parteilichkeit gilt als das Prinzip der wissenschaftlichen Arbeit. Kernpunkte der genderkonstruktivistischen/postmodernen Ansätze können folgendermaßen charakterisiert werden:

„- Jeder Aspekt der Unternehmung ´Wissenschaft` kann nur durch seinen lokalen und kulturellen Kontext verstanden werden;
– auch Naturgesetze sind soziale Konstruktionen;
– wissenschaftliche Theorien sind gleichberechtigte ´Texte` oder ´Geschichten` neben anderen;
– da vermeintliche Tatsachen keine eindeutigen Aussagen über wissenschaftliche Ergebnisse ermöglichen, kann über die Wahrheit von Sätzen nicht innerhalb von ´Wissenschaft` entschieden werden;
– da es keine objektive Wissenschaft geben kann, ist es umso wichtiger, explizite Ziele ´emanzipatorischer Wissenschaft` in den Prozess wissenschaftlicher Forschung aufzunehmen.“43

Nach Rainer Schnell haben solche Ansätze keinen empirischen Gehalt und sind insofern nicht nachprüfbar. Postmoderne Ansätze enthalten ihm zufolge keine empirisch nachprüfbaren Theorien. Es handelt sich in ihrem Fall entweder um „selbst-ironische Texte“ ohne jeglichen empirischen Gehalt oder ausdrücklich um „politisch motivierte Texte“.44

Postmodernisten und Genderkonstruktivistinnen unterscheiden nicht zwischen den oben genannten Zusammenhängen bzw. Ebenen, d.h. zwischen dem Entstehungs-, dem Begründungs- und dem Verwertungszusammenhang. Die drei Ebenen werden miteinander vermischt. Beispielsweise wird aus der Tatsache, dass die meisten wissenschaftlichen Theorien von Männern aufgestellt wurden (Entstehungszusammenhang) auf die Falschheit oder Revisionsbedürftigkeit dieser Theorien (Begründungszusammenhang) geschlossen. Dass die meisten wissenschaftlichen Theorien bisher noch von Männern aufgestellt wurden, sagt aber gar nichts über die Gültigkeit dieser Theorien aus.45

Postmodernisten und Genderkonstruktivistinnen sehen nicht ein, dass die empirische Realität die Grenze jeglichen Konstruierens bildet, und zwar in doppelter Hinsicht: Wir können nicht – insofern wir Wissenschaft betreiben – ins Unendliche konstruieren, sondern müssen früher oder später auf die empirische Realität stoßen. Außerdem muss sich jegliches Konstruieren – insofern wir einen Konstruktionsbegriff überhaupt akzeptieren – an der empirischen Realität ausweisen.46

Literatur:
1) Alexander Ulfig, „Aufklärung“, in: Ders., Lexikon der philosophischen Begriffe, Wiesbaden 19992, S. 46.
2) Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, Stuttgart 1980, S. 5.
3) Peter Janich, „Beobachtung“, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 281.
4) Alexander Ulfig, „Materialismus“, in: Ders., op. cit. 19992, S. 256ff.
5) Alexander Ulfig, „La Mettrie“, in: Ders., Große Denker, Köln 2006, S. 229.
6) Wolfgang Wieland, „Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung – Zur Tragweite des hypothetischen Denkens“, in: Rainer Enskat (Hrsg.), Aufklärung und Wissenschaft, Stuttgart 2011, 99-130.
7) Ebd., S. 125f.
8) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830, Erster Teil, Frankfurt am Main 1986, S. 110.
9) Jannis Kozatsas, Hegels Kritik am Empirismus, München 2016, S. 73ff.
10) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, op. cit. 1986, S. 106ff.
11) Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Bd. I, Darmstadt 1971, S. 283ff.
12) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. I, Georg Lasson (Hrsg.), Hamburg 1966, S. 30.
13) Ebd., S. 29.
14) Ebd, S. 295ff.
15) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1980, S. 28.
16) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, op. cit 1966, S. 191.
17) Rainer Hengselmann/Uwe Czaniera, „Empirismus, logischer“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1999, S. 322ff.
18) Otto Neurath, Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien 1931, S. 425.
19) Rudolf Carnap, „Beobachtungssprache und Theoretische Sprache“, Dialectica 12, 1958, S. 236-248.
20) Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Thomas Mormann (Hrsg.), Hamburg 2004.
21) Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, Tübingen 19662, S. 72.
22) Ebd., S. 17.
23) Max Horkheimer, „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“, in: Der., Gesammelte Schriften Bd. 4, Alfred Schmidt (Hrsg.), Frankfurt am main 1988, S. 154.
24) Max Horkheimer, „Traditionelle und kritische Theorie“, ebd., S. 214.
25) Ebd., S. 216.
26) Theodor W. Adorno u.a., „Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie“, in: Ders., Gesammelte Schriften 8, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1972, S. 508.
27) Theodor W. Adorno, „Zur Logik der Sozialwissenschaft“, in: Ders. u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Frankfurt am Main 1972, S. 139.
28) Herbert Keuth, „Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie: ein wissenschaftlicher oder ein politischer Streit?“, in: Reinhard Neck (Hrsg.), Was bleibt vom Positivismusstreit?, Frankfurt am Main 2007, S. 46.
29) Herbert Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, Tübingen 1989, S. 149.
30) Eine Ansammlung dieser Andeutungen findet man in: Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt am Main 1994, S. 159f.
31) Max Horkheimer, op. cit. 1988, S. 224.
32) Karl Raimund Popper, op. cit. 19662.
33) Max Weber, Methodologische Schriften. Studienausgabe, Frankfurt am Main 1968.
34) Alexander Ulfig, Wege aus der Beliebigkeit. Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, Baden-Baden 2016.
35) Jean-François Lyotard, Postmodernes Wissen: ein Bericht, Peter Engelmann (Hrsg.), Wien 19943.
36) Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971, S. 412.
37) Alexander Ulfig, „Das Elend der Postmoderne“, Cuncti 2016: https://www.cuncti.net/wissenschaft/950-das-elend-der-postmoderne
38) Werner Seppmann, Das Ende der Gesellschaftskritik? Die „Postmoderne“ als Realität und Ideologie, Köln 2000, S. 43.
39) Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx“, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. I, Frankfurt am Main 2001, S. 734.
40) Vgl. die Darstellung von Baudrillard in: Werner Seppmann, op.cit. 2000, S. 79f.
41) Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursive Grenze des Geschlechts, Berlin 1995, S. 21.
42) Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main/New York 1995, S. 61ff.
43) Rainer Schnell u.a. (Hrsg.), Methoden der empirischen Sozialforschung, München 20119, S. 108.
44) Ebd., S. 109.
45) Harald Schulze-Eisentraut/Alexander Ulfig (Hrsg.), Gender Studies – Wissenschaft oder Ideologie? Baden-Baden 2019, S. 8
46) Alexander Ulfig, „Der Mythos von der ´sozialen Konstruktion`“, in: Ders., op. cit. 2016.

Buch von Alexander Ulfig, Wege aus der Beliebigkeit. Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, Baden-Baden 2016,

 

 

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Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.

Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".

In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.