Ich hätte nie gedacht, dass es mir mal so gehen würde. Eigentlich bin ich ein optimistischer Mensch. Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten, uns zu entfalten, wie heute. Jeder kann leben, wie er es für richtig hält. Geschichte vollzieht sich in Pendelbewegungen, doch unterm Strich wird das Leben besser. Von alledem bin ich noch immer überzeugt. Aber im letzten Jahr hat sich etwas in mir verändert. Ich bin pessimistischer geworden in Bezug auf die Zukunft.
Häufig werde ich im Anschluss an eine Lesung aus einem meiner Kriminalromane aus der Weimarer Republik gefragt, ob ich Parallelen zwischen damals und heute sähe. Bis vor kurzem habe ich zwar Gemeinsamkeiten, auch erschreckende, benannt, aber immer hinzugefügt, dass man die Ausgangsbedingungen nicht vergleichen kann.
Allein die Tatsache, dass unsere Industrie global ausgerichtet ist, verhindert eine Unterstützung nationalistischen Gedankengutes und erschwert Rassismus, ebenso die Tatsache, dass junge Menschen aufgrund von Internet und Billigflügen Kontakt zu Altersgenossen auf der ganzen Welt haben. Und, für mich immer das wichtigste Argument: Die Menschen, die damals gerade erst der Kaiserzeit entwachsen waren, hatten keinerlei Übung im Umgang mit der neuen Staatsform und waren daher anfällig für totalitäre Propaganda und Obrigkeitshörigkeit. Heute, nach siebzig Jahren Demokratie, würde die Mehrheit der Bürger dieses Landes doch sicher nicht leichtfertig die mühsam erstrittenen Freiheiten wieder fortwerfen.
Eine der Parallelen, die ich immer schon erschreckend fand, ist die Tatsache, dass heute erneut die richtige Gesinnung wichtiger ist als das, was jemand sagt oder gar tut. Dass ein Mensch mit Dreck beworfen oder als rechtsradikal bezeichnet wird und shitstorms über sich ergehen lassen muss, weil er der falschen Zeitung ein Interview gibt oder eine Position vertritt, die als politisch nicht korrekt gilt. Oder weil er sich gegen feministische Umerziehungslager wehrt. Dass Xavier Naidoo aus dem Wettbewerb zum Eurovision Songcontest rausgeworfen wird, weil er mal mit den falschen Leuten geredet hat. Dass den Menschen, die bei Pegida mitlaufen, das Recht abgesprochen wird, an einer Anti-TTIP-Demo teilzunehmen.
Es geht nicht mehr um Argumente. Es geht nicht mehr darum, was jemand zu sagen hat und ob man dieser These zustimmt oder sie ablehnt. Es geht nicht mehr um richtig oder falsch. Sondern um gut oder böse. Hat man jemanden erst mal als böse etikettiert, muss man sich auch nicht mit seinen Argumenten auseinandersetzen. Das ist der augenblickliche Stand unserer Diskussionskultur. Schwarz-weiß-Denken auf dem Niveau von Achtjährigen.
Mittlerweile sehe ich wesentlich mehr Parallelen zwischen damals und heute. Zum Beispiel, dass in der Weimarer Republik die Gefahr durch die Nazis von den meisten Menschen auch nicht ernst genommen wurde. Sind eben Proleten, die gern Krawall machen. Ja, es gibt ein paar unschöne Auswüchse, aber das darf man doch nicht dramatisieren. Dieselbe Reaktion, die man erhält, wenn man heutzutage vor dem Feminismus warnt.
Die Nazis in der Weimarer Republik haben ihre Gegner natürlich anders eingeschüchtert, durch offenen Straßenterror und physische Gewalt. Die jetzigen Demagogen sind da subtiler: Sie nutzen die Macht der Medien und shitstorms, um ein Klima der Angst zu schüren. Sie denunzieren Andersdenkende als rechtsradikal. Sie verleumden. Sie beschmieren die Schaufensterscheibe eines Friseurs, der es wagt, ein Geschäft ausschließlich für männliche Kunden zu eröffnen. Sie verwüsten eine Apotheke, deren Besitzer aus Gewissensgründen die Pille danach nicht verkauft. Sie sorgen mit Trillerpfeifen dafür, dass der damalige Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky nicht aus seinem Buch über missglückte Integrationspolitik lesen kann. Sie versuchen mit Drohungen und massiven Einschüchterungen, einen Kongress zu Geschlechterfragen zu verhindern. „Die Zukunft einer Bewegung wird bedingt durch den Fanatismus, ja die Unduldsamkeit, mit der ihre Anhänger sie als die allein richtige vertreten und anderen Gebilden ähnlicher Art gegenüber durchsetzen.“ (Adolf Hitler: „Mein Kampf“, S. 384).
Untersuchungen haben gezeigt, dass die ständige Rückkoppelung innerhalb einer gleichgesinnten Gruppe zu immer extremeren Positionen führt. Und wir haben, zumindest innerhalb der „Elite“ und der Leitmedien, fast nur noch Einheitsmeinung und keinen Widerspruch mehr.
Vielleicht ist es ein Fehler, mögliche Parallelen zwischen damals und heute nur unter dem Blickwinkel von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu beleuchten. Die nächste Diktatur wird sich möglicherweise links gebärden („gebärden“ sage ich, denn diejenigen, die diese Entwicklung vorantreiben, haben so ziemlich alles verraten, wofür „links“ mal stand: eine soziale Wirtschaftspolitik, die Ablehnung militärischer Eskapaden, das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen). Das nächste totalitäre System wird sich möglicherweise nicht auf Nation und Rasse, Klassenzugehörigkeit oder Religion berufen, sondern auf das Geschlecht.
Wir lernen nichts aus der Geschichte. Und ich glaube, ich verstehe allmählich, weshalb. Weil wir uns von den individuellen Ausprägungen einer historischen Katastrophe so blenden lassen, dass uns deren Prinzipien entgehen. Sodass wir nur Ausschau halten nach wieder genau derselben Art von Katastrophe und nicht nach den Demagogen, die sich vielleicht gerade unserer Angst davor bedienen.
Das alles bedeutet übrigens keineswegs, dass es nicht auch eine Gefahr von rechts gäbe und man nicht auch nach rechts wachsam sein müsse. Selbstverständlich gibt es Rassisten in diesem Land, selbstverständlich gibt es Brandstifter, selbstverständlich gibt es die Mörder von der NSU und die Demagogen von der NPD, die jede Steilvorlage der herrschenden Kaste zu nutzen verstehen, um sich als Rebellen zu inszenieren. Der Unterschied ist nur, dass die Öffentlichkeit wachsam ist, was rechtes Gedankengut angeht, während sie auf dem linken Auge blind ist. Weil die linken Antidemokraten die richtige Gesinnung zeigen. Auch das könnte man aus der Weimarer Republik ebenso lernen wie von solchen Gestalten wie Horst Mahler und Alice Schwarzer: dass die politischen Extreme einander näher stehen, als sie uns glauben machen wollen.
Was hat nun meine Wahrnehmung im vergangenen Jahr so stark verändert? Die oben beschriebene Radikalisierung der Antidemokraten innerhalb der letzten zehn, zwanzig Jahre. Die Maßlosigkeit des Anspruchsdenkens nicht weniger Vertreterinnen des verwöhnten Geschlechts. Das Ausmaß an Empathielosigkeit gegenüber Männern, die heutzutage als so normal gilt, dass sie nicht einmal mehr auffällt. Ein falsches T-Shirt kann eine männliche Karriere ebenso leicht beenden wie ein Witz. Männer sind Schweine, wenn sie Frauen mit Komplimenten belästigen, und Schweine, wenn sie Frauen ignorieren. Jeder Sex, bei dem die Frau nicht nüchtern ist, ist eine Vergewaltigung. Klimaanlagen sind frauenfeindlich. Das Wort „zu“ ist frauenfeindlich. Mikroaggressionen überall. Die Zeit fürs Schminken sollte Frauen bezahlt werden. Freundschaft ist unbezahlte Arbeit, jedenfalls wenn sie von Frauen geleistet wird.
Zudem ist mir erst in diesem Jahr klargeworden, in welchem Umfang deutsche Politiker und meinungsbildende Journalisten und Verleger transatlantischen Bündnissen angehören und daher amerikanischen Interessen das Wort reden, die sich nicht nur auf die Aufweichung des Begriffs „Verteidigung“ und das Forcieren von „Freihandelsabkommen“ erstrecken, sondern eben auch auf die Protegierung feministischer Positionen. Und jeder, der den eingeschlagenen Weg kritisiert, muss sich anhören, dass der „alternativlos“ sei. Über mögliche Optionen wird nicht nachgedacht. Nicht nur, dass unsere Politiker keine Visionen haben, nein, sie machen nicht einmal mehr den Versuch, Politik noch aktiv zu gestalten.
Auch ohne Verschwörungstheorien zu bemühen, wird allmählich deutlich, dass viele der katastrophalen Veränderungen in unserem Leben politisch gewollt sind: die Herrschaft des Feminismus’, die Unterwerfung der Presse unter die offizielle Politische Korrektheit, deren Sprach- und Denkverbote in der gesamten westlichen Welt immer bizarrere Formen annehmen, die Tatsache, dass sich die Profitgeier seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr zurückhalten und einen immer hemmungsloseren Kapitalismus betreiben, weil sie ihr System nicht länger als das überlegene präsentieren müssen, die systematische Zerstörung der Familien, um die Menschen noch besser ausbeuten zu können.
Was mich jedoch am nachhaltigsten erschüttert hat, ist dies: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal erlebe, dass unsere Demokratie, dass Aufklärung und Humanismus und all die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte leichtfertig preisgegeben werden.
Einem großen Teil der Bevölkerung bereitet es laut Umfrage keine Probleme, wenn Grundrechte zum Zwecke der Terrorismusbekämpfung eingeschränkt werden. Sobald irgendein krimineller Vorfall hochgekocht wird, fordert die Volksseele stärkere Videoüberwachung. Jugendliche machen sich keine Gedanken über die Datensammelwut internationaler Konzerne, sondern arbeiten ihnen durch Offenlegung intimster Details in die Hände. Der Aufschrei wegen der Bespitzelung durch die Geheimdienste hat sich längst gelegt und dem nächsten Aufreger Platz gemacht. An den Unis geht es nur noch um ein Kuschelstudium in „safe spaces“, ein offener Meinungsaustausch oder gar Kritik sind verpönt. Um das zu erreichen, sind sie in Amerika sogar bereit, die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Und die Medien, meilenweit entfernt von jener Kontrollinstanz, die sie als „vierte Macht im Staate“ mal waren, sind zu Hofberichterstattern verkommen und machen mundtot, wer immer denen im Weg steht, die bestimmen, wo es langgeht. Webdienste wie Twitter haben zwar große Probleme, Seiten zu schließen, die Terrororganisationen unterstützen, sind jedoch erstaunlich flink, wenn es gilt, Feminismuskritik zu verhindern. Die Wikipedia ist von feministischen Ideologen unterwandert. In Kanada kann man für Kritik am Feminismus, selbst aus den eigenen Reihen, ins Gefängnis kommen, weil die armen Feministinnen beim geringsten Widerspruch bereits „um ihre Sicherheit fürchten“. Die Vorfälle zu Silvester in Köln werden von Heiko Maas und den Demagogen und Männerhasserinnen in diesem Land benutzt, um die von ihnen erwünschten Änderungen im Sexualstrafrecht durchzupeitschen, die Männer im Bereich Sexualität faktisch rechtlos machen.
Und weit und breit kein nennenswerter Widerstand gegen diese Entwicklung in Sicht. Nicht einmal von der jungen Generation, die doch unter den Auswüchsen des Feminismus’ mehr zu leiden hat als jede andere Generation vor ihr. Niemand scheint die Gefahr wahrnehmen zu wollen, die da direkt vor ihrer Nase wächst und wächst und wächst. Und man kann ja nicht mal auswandern, weil zumindest in den westlichen Industrienationen überall dasselbe Klima herrscht.
Eigentlich sollte mich das alles nicht überraschen. Mir hätte klar sein müssen, dass meine unhinterfragte Annahme – Je länger die Menschen in einer Demokratie leben, desto weniger sind sie bereit, sich diese wieder nehmen zu lassen – naiv ist. Schließlich weiß ich doch: Was ein Mensch nicht unter Mühen erringt, ist ihm nichts wert.
Es sind nicht die Vertreterinnen eines totalitären Feminismus’, die mir Angst machen. Sondern ihre Speichellecker. Diejenigen, die sie hofieren und ihnen nach dem Mund reden. Eine Demokratie scheitert nicht an einer Handvoll Extremisten. Eine Demokratie scheitert daran, dass niemand ihre Prinzipien verteidigt.
Der Artikel erschien in dem Blog Das Alternativlos-Aquarium.
Gunnar Kunz hat vierzehn Jahre an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet, überwiegend als Regieassistent, ehe er sich 1997 als Autor selbstständig machte. Seither hat er etliche Romane und über vierzig Theaterstücke veröffentlicht, außerdem Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Musicals und Liedertexte. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.