Ein Aufruf zu unvoreingenommenem und kritischem Denken
Kein Mensch kommt ohne Makel zur Welt, und ebenso wenig stirbt irgendein Mensch ohne Makel, auch wenn das gegenwärtig herrschende kulturelle Milieu uns etwas anderes glauben lassen möchte. Wie der ehemalige US-Präsident Barack Obama einmal betonte, scheint kaum noch jemand davor gefeit zu sein, wegen seiner heutigen oder vergangenen Ansichten und Taten beschämt, beleidigt, gemobbt oder ausgegrenzt zu werden – insbesondere in der Online-Welt.
Diese Denkweise stützend lässt sich bei einigen dieser Online-Akteure die folgende übliche Argumentation beobachten: Ihrer Meinung nach sei es unerheblich, was ein Individuum tatsächlich denkt oder beabsichtigt. Entscheidend seien vielmehr die Auswirkungen seines Handelns. Sicherlich verdient diese Sichtweise eine gewisse Anerkennung, doch sie veranschaulicht auch die Heuchelei hinter unserem Zeitgeist. Es handelt sich sowohl um eine Halbwahrheit als auch um eine übermäßige Simplifizierung der Wirklichkeit, die soziale Konsequenzen zur Folge hat.
Im Gegenteil ist sehr wohl beides von Bedeutung: was eine Person denkt und was sie tut. Beide Wahrheiten koexistieren in einem bestimmten Kontext und müssen Berücksichtigung finden, sofern wir ein besseres Verständnis für eine Situation entwickeln möchten.
Natürlich sind auch die Auswirkungen einer Handlung von Belang, und rassistische, misogyne, homophobe, transphobe sowie andere sozial und moralisch inakzeptable Verhaltensweisen werden verdienterweise die eine oder andere Form sozialer oder moralischer Bestrafung nach sich ziehen. Doch wollen wir wirklich unbegrenzt, auf unbestimmte Zeit eine Person auf eine eingefrorene Teilmenge ihrer Ansichten oder Handlungen reduzieren und sie dafür verurteilen und mobben? Eine Ebene tiefer gedacht: wer von uns möge hier den ersten Stein werfen? Wer genau soll darüber richten, was als inakzeptable Ansichten und Verhaltensweisen zu gelten hat und welches Gericht soll über diese Verfehlungen urteilen?
Als klinischer Psychologe behandle ich nicht nur Missbrauchsopfer sondern ebenso Menschen, die gewalttätige, sexuelle Übergriffe und andere ungeheuerliche Taten begangen haben. Ich behandle auch Menschen, die in ihrer Agonie aus Sucht, Psychose und Depressionen andere mutwillig oder unabsichtlich verletzt haben. In der Tat begegnen mir Menschen in einer Therapie angesichts ihrer Vergangenheit oftmals mit Scham und Schuldgefühlen. Sie suchen nach Antworten und Wegen, sich zu ändern.
Nun stellen Sie sich vor, ich würde als klinischer Psychologe Menschen ohne Empathie, ohne Unvoreingenommenheit und ohne Neugier begegnen und somit die Komplexität dessen ignorieren, was sie zu Menschen macht. Stellen Sie sich vor ich würde statt dessen diese Menschen aus einer selbstgerechten Position heraus beschämen, sie als moralisch unzulänglich und hoffnungslose Fälle aburteilen und sie über nur ein einzelnes Bruchstück ihres Lebens definieren. Klinische Psychologen tun so etwas nicht, da Therapie per se auf der Vorstellung fußt, dass Veränderungen sowohl des Verhaltens als auch auf kognitiver Ebene möglich sind und dass Menschen mehr sind als die Summe ihrer Taten. Warum also wird in unserer Kultur ein derart kaltes, tribalistisches, simplifiziertes Denken zunehmend akzeptiert?
Niemand, am wenigsten ich selbst, entschuldigt rassistische, misogyne, homophobe, transphobe oder anderweitig sozial und moralisch verletzende Gesten und Handlungen, da sie reale, weitreichende und zerstörerische Auswirkungen auf Individuen und Gruppen haben können. Doch gleichzeitig zeugt es von einer erstaunlich ignoranten und naiven Haltung, sofern man glaubt, es könne je Menschen geben oder gegeben haben, die ohne Fehler sind. So funktioniert die menschliche Natur nun mal nicht.
Der schlichte Zweck dieses Beitrags ist die Ermutigung zu einer kritischen Sicht auf etwas, was sich als „Cancel Culture“, Ausgrenzungskultur, Empörungskultur oder Beschämungskultur bezeichnen lässt. Ich habe keine Antworten, doch ich schließe mich Obamas Empfindung an, dass scheinheiliges Steinewerfen gewiss keine solche Antwort ist.
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Der Beitrag erschien zuerst bei „Psychology Today″ – übersetzt aus dem Englischen von Kevin Fuchs
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