Seit der Finanzkrise haben Politiker keine Gelegenheit ausgelassen, um Spekulanten, Banker, Kapitaleigner, Aktionäre, um alle, die mit Finanzmitteln handeln, zu diskreditieren.
Steigen die Nahrungsmittelpreise, dann sind Spekulanten schuld, wird kein privates Kapital in die Wirtschaft investiert, dann sind Steueroasen schuld, gibt es einen Crash an Börsen, dann sind Hedge-Fonds oder andere Börsen-Spekulanten schuld, und geraten Staaten aufgrund exzessiver Ausgaben in Schieflage, dann sind die Rating-Agenturen schuld.
Der ganze Finanzsektor ist eine Ansammlung von politisch Abgeurteilten, die nur deshalb in Freiheit sind, weil sie in Freiheit nützlicher sind als in Gefangenschaft, so könnte man formulieren. Eine Möglichkeit, Akteure in Finanzmärkten zu benutzen, wurde mit der Finanztransaktionssteuer umgesetzt. Die Finanztransaktionssteuer ist für José Manuel Barroso eine „Frage der Fairness“. Die Zocker, der derzeit gebräuchlichste derogative Begriff, der eingeführt wurde, weil der Begriff des Spekulanten nicht mehr negativ genug war, die Zocker, so titelt die ARD voller Freude, sollen die Zeche zahlen. Längst hat die Mythe der Spekulanten, die für alle Probleme der Welt verantwortlich sind, Eingang in die öffentliche Kultur gefunden und entsprechend ist jedem Politiker, der gegen die Zocker, die Spekulanten, die Kapitalisten zu Felde zieht, Unterstützung sicher. Dies vor allem dann, wenn er sich dafür einsetzt, Kapitalisten, Banker, Besserverdiener, Zocker oder Spekulanten zu bestrafen, z.B. durch (höhere) Steuern.
Die affektiven Gefühle vieler Deutscher gehören dem Heldenpolitiker, der sich gegen das internationale „Großkapital“ stemmt, und entsprechend kann der Feldzug gegen das „Großkapital“ trefflich dazu genutzt werden, die eigenen Interessen unter einem ganz anderen Rubrum durchzusetzen.
So inszeniert sich José Manuel Barroso gerne als Robin Hood, der für Fairness kämpft und gegen die Spekulierer, die Zocker an den Börsen: „Es ist Zeit“, so zitiert ihn die ARD, „dass der Finanzsektor der Gesellschaft einen Beitrag zurückgibt“. Dies sei eine Frage der Fairness. Was ist er nur für ein guter und fairer Mensch der Herr Barroso. Immer an vorderster Front, wenn es darum geht, gegen den Finanzsektor zu Felde zu ziehen und für „die Gesellschaft“ zu kämpfen. Was der Präsident der EU-Kommission freilich vergisst oder verheimlicht, ist: Nicht die Gesellschaft profitiert von der Finanztransaktionssteuer, sondern die EU-Kommission.
So steht, etwas versteckt, aber dennoch zu finden, im „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Umsetzung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer“:
„Der Vorschlag der Kommission für einen Beschluss des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union vom 29. Juni 2011 in der geänderten Fassung vom 9. November 2011 sieht
vor, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer teilweise als Eigenmittel in den EUHaushalt fließen. Die auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens von den teilnehmenden Mitgliedstaaten erhobenen Eigenmittel würden sich entsprechend verringern. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung vom 7. und 8. Februar 2013 die teilnehmenden Mitgliedstaaten ersucht zu prüfen, ob die Finanztransaktionssteuer die Grundlage für eine neue Eigenmittelkategorie für den EU-Haushalt werden könnte“ (16).
Es ist also nicht „die Gesellschaft“, die von einer Finanztransaktionssteuer und den erhofften Einnahmen in Höhe von rund 57 Milliarden Euro profitiert, sondern konkret die EU-Kommission, die sich auf diese Weise und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit eine unabhängige Einnahmequelle verschafft. Es ist dies eine erstaunliche Entwicklung für einen bürokratischen Moloch, der, obwohl nie demokratisch legitimiert, zwischenzeitlich die Leben der Europäer in einer Weise reglementiert, die niemand vor 20 Jahren für möglich gehalten hätte. Da mit der angesprochenen Council Directive erstmals der EU-Kommission eine direkte Einnahmequelle verschafft wird, ist die EU-Kommission die einzige, zumindest der Behauptung nach demokratische Exekutive, die legislative Funktionen annehmen und darüber hinaus eigene Einnahmequellen per Steuer erlassen kann. Bislang sind derart weitreichende Befugnisse nur aus totalitären Staaten wie der ehemaligen Sowjetunion, China oder dem Dritten Reich bekannt.
Die Einfachheit, mit der die EU-Kommission sich einen finanziellen Vorteil von 57 Milliarden Euro verschafft hat, ist erschreckend und belegt, wie leicht es politischen Akteuren fällt, ihre Ziele im Schutz affektiver Aufregung, wie man sie im Hinblick auf den Finanzsektor seit Jahren in der Öffentlichkeit und unterstützt von öffentlich-rechtlichen Medien schürt, durchzusetzen. Ich habe keinen Zweifel, dass die EU-Kommission sich in Zukunft nicht nur als Retter „der Gesellschaft“ vor dem furchtbaren Finanzsektor darstellen wird, sondern eine minimale Reduktion der Zahlungen der Mitgliedsstaaten an die EU noch als Form der Sparsamkeit und Effizienz verkaufen wird. Es ist so leicht, die Öffentlichkeit an der kollektiven Nase herumzuführen.
Und scheinbar so problemlos, denn wenn mit der Finanztransaktionssteuer herbeigeführt wird, wovor viele Ökonomen warnen, volatile Börsen mit weniger Transaktionsvolumen, die anfälliger für extreme Schwankungen sind, dann kann man dies getrost auf die bösen Spekulanten, die Zocker, den Finanzsektor schieben, und wenn alles nicht hilft, dann können ja Schauprozesse gegen Spekulanten durchgeführt werden, zur allgemeinen Volksbelustigung.
Es ist schon interessant, dass die Argumente, die für die ökonomische Integration (also die Harmonisierung und den Binnenmarkt) von der Europäischen Kommisison ins Feld geführt werden, z.B. geringere Transaktionskosten, geringere Volatilität der Märkte und höheres Wachstum dann aus dem Fenster geworfen werden, wenn es um die eigenen Einnahmen geht. Dann werden höhere Transaktionskosten, höhere Volatilität der Märkte und ein geringeres Wachstum gerne in Kauf genommen, denn die „Zeche“ zahlen alle europäischen Bevölkerungen gemeinsam, und das werden sie müssen, wenn die regelmäßig am Ende entsprechender ökonomischer Analysen stehenden Ergebnisse, dass geringe Liberalisierung oder Integration von Märkten, also eine Reglementierung von Märkten wie sie die EU-Kommission gerade durchdrückt, um die eigenen Finanzierung unabhängig zu gestalten, früher oder später im Chaos bzw. im Crash enden, wie z.B. die folgenden Studien zeigen:
Literatur
- Bekaert, Geert, Harvey, Campbell R. & Lundblad, Christian (2006). Growth Volatility and Financial Liberalization. Journal of International Money and Finance 25 (3): 370-403.
- Bekaert, Geert, Harvey, Campbell R. & Lundblad, Christian (2006). Does financial liberalization Spur Growth? Journal of Financial Economics 77 (1)): 3-55.
- Kose, M. Ayhan, Prasad, Eswar S. & Terrones, Marco E. (2003). Financial Integration and Macroeconomic Volatility. IMF Staff papers, 50: 119-142.
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