Es gibt in unserer Gesellschaft zahlreiche Tabus. Diese Tabus sind in aller Regel nicht direkt verordnet oder werden gar mit restriktiven Mitteln durchgesetzt. Es handelt sich vielmehr um ein Verschweigen von Themen, die nicht dem Mainstream entsprechen.
Werden diese Themen dann doch in irgendeiner Weise angesprochen oder zumindest berührt, dann erfolgt schnell eine Verunglimpfung als „ewig gestrig“ oder man versucht diese Themen gleich ins Lächerliche zu ziehen. Beispielhaft erleben wir das zur Zeit bei der außerfamiliären Betreuung von Kindern ab dem zweiten Lebensjahr. Der Zeitgeist fordert dies, um Frauen scheinbar endlich die Gleichberechtigung zukommen zu lassen, die sie verdienen. Die Wirtschaft tritt ebenso dafür ein, um die gut qualifizierten jungen Mütter schnell wieder dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Tabuisiert werden dabei jedoch die Folgen für die Kinder.
Tabuisiert wird ebenso die Frage, was wir eigentlich für ein Menschenbild haben, wenn die Erwerbsarbeit so viel höherwertig eingeschätzt wird als Familienarbeit und das Miteinander in der Familie. Es ist jedoch kaum möglich, dies öffentlich anzusprechen, ohne gleich der Rückwärtsgewandtheit bezichtig zu werden. Innerhalb des Familiendiskurses aber gibt es weitere Tabus, die so still sind, dass sie nicht einmal denjenigen auffallen, die sich dem Mainstream gegenwärtiger Familienpolitik entgegenstellen. Solch ein Tabu ist das Thema „Väterlichkeit“. Wem ist eigentlich bewusst, dass in unserer Gesellschaft über Väterlichkeit nicht mehr gesprochen wird?
Natürlich geht es viel um Väter. Es gibt ein zunehmendes gesellschaftliches Interesse, dass Männer ihre Vaterschaft aktiv wahrnehmen. Dieses Interesse wird von zwei Seiten gespeist. Auf der einen Seite steht die bereits erwähnte Allianz von Feminismus und Wirtschaft. Ihr geht es darum, dass Männer ihre Frauen entlasten, damit diese auch mit kleinen Kindern möglichst schnell wieder dem Arbeitsmarkt zugeführt werden können. Auf der anderen Seite stehen die Väter, die das zunehmende Bedürfnis haben, in Kontakt mit ihren Kindern zu sein. Das sind keinesfalls nur die Trennungsväter, die nach einer Trennung von der Kindsmutter weiterhin eine aktive Beziehung zu ihren Kindern wünschen. Es sind zunehmend auch die Väter in den Familien, die ihren Kindern nicht solch ein „abwesender Vater“ sein wollen, wie sie es vielleicht bei dem eigenen erlebt haben. Doch gerade weil die Väter immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und selbst der Familienpolitik geraten (z.B. „Vätermonate“), verwundert es um so mehr, dass Väterlichkeit, also die eigenständige Rolle des Vaters in der Familie in der öffentlichen Diskussion überhaupt kein Thema ist.
Heutzutage wird die Rolle der Väter dagegen fast ausschließlich in der Übernahme mütterlicher Aufgaben gesehen. Diese bestehen vor allem in Versorgung und Pflege der Kinder. Das soll auch keinesfalls diskreditiert werden. Väter sollen durchaus auch mütterlich sein. Aber die fast ausschließliche Fokussierung auf diese Seite elterlichen Handelns bewirkt zunehmend Probleme. Da ist als erstes die innerfamiliäre Situation zu nennen. Wenn Väter zur zweiten Mutter werden, kommt es schnell zu einer Konkurrenzsituation um die Zuneigung des Kindes. Am deutlichsten wird das bei der Trennung der Eltern. Hier wird oft um die Zuneigung des Kindes gekämpft. Und dieser Wettkampf findet fast ausschließlich auf den Feldern von Versorgung, Gewährung und Akzeptanz statt – alles Eigenschaften guter Mütterlichkeit. Aber auch innerhalb bestehender Paarbeziehungen entsteht schnell eine Konkurrenz, wenn der Vater als zweite Mutter auftritt. Mütter sind hier jedoch zumeist im Vorteil, da es ihre natürliche Rolle gegenüber dem Kind ist. Sie nehmen dann schnell eine sogenannte Gate-Keeper-Funktion ein: Der Vater solle sich schon ebenso wie die Mütter an der Kinderversorgung beteiligen. Aber er soll es auf die Weise tun, wie es die Mutter möchte.
Wenn sich die gewünschte aktive Vaterschaft als Mutterersatz bzw. Mutterentlastung versteht (manchmal noch angereichert durch den „Spielkameraden Papa“), dann entwickelt sich eine Einseitigkeit elterlichen Handelns, die das vermissen lässt, was herkömmlich als „Väterlichkeit“ verstanden wird: Führung, Begrenzung, Strukturierung, Halt. Kinder werden als gleichberechtigte Familienmitglieder gesehen, die mitentscheiden können und mit denen mehr diskutiert wird, als dass ihnen klare und eindeutige Vorgaben gegeben werden. Das klingt für die heutige Elterngeneration gut. Es scheint dem Ideal von Demokratie, Gleichberechtigung und der Ablehnung autoritärer Strukturen zu entsprechen. Aber in der Konsequenz werden die Kinder überfordert, wenn sie schon früh Entscheidungen treffen sollen, die sie überfordern müssen. Ich kenne Eltern, die ihre Kinder fragen, ob sie aufs Gymnasium oder lieber in ihrer reformpädagogischen Schule bleiben wollen. Und zu oft erlebe ich Eltern in ganz normalen Alltagssituationen, die ihre Kinder mit Fragen traktieren statt ihnen klare Anweisungen zu geben. Sie wollen, dass die Kinder das Notwendige von sich aus einsehen (z.B. Aufräumen, Schlafengehen) und sie sich vielleicht nicht gegen deren Protest durchsetzen müssen. In der Konsequenz aber verlieren die Kinder Orientierung und Halt und bleiben – wie der Kinderpsychiater Michael Winterhoff ausführt – in ihrer Entwicklung zurück. Mitte Juni diesen Jahres war es dem SPIEGEL gar eine Titelgeschichte wert, dass die Kinder zunehmend schlechter mit der deutschen Rechtschreibung umgehen können, weil sie schon in der Grundschule zu wenig Anleitung und Führung bekommen. Stattdessen wird erwartet, dass die Kinder selbst, quasi von Innen heraus das Bedürfnis zum korrekten Schreiben entwickeln. Ein väterlichkeitsloses pädagogisches Verständnis – auch wenn der SPIEGEL dies dem gesellschaftlichen Mainstream gemäß natürlich nicht als einen „Mangel an Väterlichkeit“ charakterisiert.
Dass elterliche Qualitäten wie Führung, Begrenzung und Strukturierung auch von Müttern umgesetzt werden müssen, ist klar. Allerdings weist die frühkindliche Entwicklung, die Mutter und Vater eben nicht so einfach austauschbar macht, diese Aufgabe tendenziell stärker den Vätern zu. Das mag für sie manches Mal unangenehm sein. Kinder reagieren auf väterliches Handeln oft mit Protest und es ist wichtig, dass dieser Protest nicht brutal gebrochen wird. Aber ebenso wichtig ist es, dass sich die Väter durchsetzen – um ihrer Kinder willen. Das erfordert die Annahme dieser Aufgabe durch den Vater und die Akzeptanz väterlichen Handelns durch die Mutter. Das Miteinander der Eltern gerade in der Unterschiedlichkeit wichtiger Aufgaben ist entscheidend und Ausdruck wirklicher Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch hieran mangelt es sowohl in vielen Familien als auch in der Gesellschaft, in der väterliches Handeln zumeist nicht gewollt wird.
Und so lässt sich in der Folge unser gesellschaftliches Miteinander als von einer „überbordenden Sehnsucht nach Mütterlichkeit“ getrieben beschreiben. Wir möchten in der Mehrheit vom Staat vor allem versorgt werden, der so längst zu einer „Mutter Staat“ geworden ist. Es geht der Mehrheit in unserer Gesellschaft um ein möglichst leichtes Leben mit wenig Anstrengungen und Entbehrungen. Deshalb soll der Staat alles regeln und für eine Gerechtigkeit sorgen, die so nie umgesetzt werden kann. Auch deshalb wird sehr schnell und reflexartig protestiert, wenn notwendige Begrenzungen umgesetzt werden müssen. Und deshalb darf Väterlichkeit kein Thema in unserer Gesellschaft sein. Sie verweist uns auf die unangenehmen, schwierigen Seiten des Lebens, denen es sich zu stellen gilt. Das ist weder in der Politik noch im sonstigen öffentlichen Leben gewollt. Doch die europäische Schuldenkrise zeigt beispielhaft, dass die Vermeidung unangenehmer Entscheidungen und fehlender Begrenzung letztlich Folgen zeitigt, die viel schmerzhafter sind. Und was für Staaten gilt, gilt für Familien allemal. Psychotherapeuten berichten von einer Zunahme von Borderlinestörungen. Das sind psychische Erkrankungen, die Ausdruck tiefer Halt- und Orientierungslosigkeit sind.
Dr. Matthias Stiehler
Theologe, Erziehungswissenschaftler, Psychologischer Berater Vorsitzender des Dresdner Instituts für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft e.V.
Autor von „Väterlos. Eine Gesellschaft in der Krise“ (Gütersloher Verlagshaus 2012), „Der Männerversteher. Die neuen Leiden des starken Geschlechts“ (Verlag C. H. Beck München 2010), Mitherausgeber des Ersten und Zweiten Deutschen Männergesundheitsberichts (2010 und 2013)