„Es sind erschreckende Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Frauen in Europa.“ So beginnt Benjamin Knaack bei Spiegel-Online seinen Bericht über die EU-Studie „Gewalt gegen Frauen: eine europaweite Erhebung“.
Da das möglicherweise noch nicht deutlich genug war, schreibt er im Text weiter, dass die Studie „erschreckende Ergebnisse“ liefere und „einen detaillierten und erschreckenden Einblick in die Gewalterfahrungen von Frauen“ biete.
„Das enorme Ausmaß des Problems verdeutlicht, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur wenige Frauen betrifft, sondern sich tagtäglich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt„,
zitiert er ohne unnötige journalistische Distanz den Verantwortlichen für die Studie, den Direktor der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) Morten Kjærum, der weiterhin klarstellt:
„Frauen sind nicht sicher auf den Straßen, am Arbeitsplatz und schlussendlich auch nicht zu Hause.“
Alexander Roslin allerdings kommentiert solche und ähnliche Texte so:
„Keine kritischen Nachfragen, einfaches affirmatives Abnicken und Weiterverbreiten der Demagogie (…).“
Martin Domig schreibt:
„Ich habe diese und ähnliche Meldungen jetzt oft genug gehört um mich ernsthaft zu fragen was daran gelogen ist, und warum diese Lüge so oft wiederholt wird.“
Und auch Wolle Pelz wirkt nicht angemessen erschrocken:
„Studien zur Gewalt gegen Frauen gibt es scheinbar jährlich. Gibt es solche Studien auch wegen männlichen Opfern von Gewalt?“
Was haben die bloß?
Umarmen, schubsen, erschießen
Tatsächlich hat die Studie natürlich Schwächen, die so offenkundig sind, dass sie nur mit Mutwillen übersehen werden können.
„Was wieder mal geflissentlich verschwiegen wird ist die Tatsache, dass häusliche Gewalt keineswegs nur von Männern gegen Frauen stattfindet. Dass nur Frauen, aber keine Männer nach Gewalterfahrungen gefragt wurden. Dass eine ungewollte Umarmung gleich schlimm sein soll wie eine brutale Vergewaltigung, und dass durch diesen Kunstgriff die Opferzahl nach oben korrigiert wurde.“
So Martin Domig in seinem Beitrag auf dem Flussfänger-Blog.
Den hier verwendeten erweiterten Gewaltbegriff, der massiv gewalttätige Handlungsweisen und weit weniger problematisches Verhalten beliebig nebeneinanderstellt, hat beispielweise die französische Feministin Elisabeth Badinter schon vor zehn Jahren als manipulativ und tendenziös kritisiert.
„Darf man eine Vergewaltigung und eine unfreundliche oder verletzende Bemerkung mit derselben Vokabel erfassen?“,
fragt sie in ihrem 2003 erschienenen Buch Die Wiederentdeckung der Gleichheit.
Für die Studie ist das kein Problem. Jede Frau, die an ihr teilnimmt, wird gefragt, ob sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr „geschubst oder gestoßen“ wurde, „gepackt oder an den Haaren gezogen“ oder ob „Sie mit einem Messer verletzt oder auf Sie eingestochen, oder auf Sie geschossen“ wurde. (S. 18) Wenn sie hier irgendwo mit „Ja“ antwortet, gilt sie als Gewaltopfer. Tom kommentiert:
„Wäre die Studie wirklich ehrlich ausgefüllt worden, bin ich mir sicher, dass 100% der Frauen in Europa Opfer von körperlicher und oder sexueller Gewalt sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand seit dem 15. Lebensjahr ungeschubst durch das Leben kommt. Was soll das?“
Allein bei Angaben zur sexuellen Gewalt – insbesondere bei der Feststellung, dass fünf Prozent aller europäischen Frauen nach ihrem 15. Lebensjahr Opfer einer Vergewaltigung werden (21) – verzichtet die Studie auf die Vermischung gravierender und weniger gravierender Erfahrungen.
Anders ist das wieder bei Fragen zu psychischer Gewalt, die offenbar in Deutschland ein besonderes Problem sei: Hat Ihr (Ex-)Partner „Sie der Untreue verdächtigt?“ – „Sie unter vier Augen herabgesetzt oder gedemütigt (…)?“ – oder aber die Frau eingesperrt, ihr gedroht, Verwandte oder Freunde zu töten, ihr den Kontakt zur Familie genommen? (25)
Oder hat ein Mann die Frau gestalkt, nämlich: „Beleidigende Kommentare zu Ihrer Person im Internet veröffentlicht?“ (demnach wären, nebenbei bemerkt, annähernd sämtliche Jugendlichen beiderlei Geschlechts Stalkingopfer) – „auf Sie gewartet, ohne berechtigten Grund?“ – „Ihr Eigentum absichtlich sabotiert und zerstört?“ (28)
Wurde die Frau „unerwünscht berührt“ – hat sie „unangemessene Einladungen zu einem Rendezvous“ erhalten – sich durch Kommentare zu ihrem Aussehen oder durch Witze „angegriffen/beleidigt“ gefühlt – oder hat sich jemand vor ihr „unsittlich (…) entblößt“? (30) Dann ist sie Opfer sexueller Belästigung.
Dieser beliebige Gewaltbegriff hat offenkundig vor allem das Ziel, besonders hohe Zahlen zu produzieren, indem – für Männer wie für Frauen – alltägliche Unannehmlichkeiten wie die Verdächtigung der Untreue oder dämliche Kommentare von Kollegen (generisches Maskulinum) mit ernsthaften Gewaltakten und Übergriffen weitgehend gleichrangig gewertet werden.
What about teh menz? – Allein die Frage ist schon Gewalt…
Gestolpert bin ich vor allem über die Frage, ob der Partner der Frau als Akt „psychischer Gewalt“ gedroht habe, ihr „die Kinder wegzunehmen“? Von wegen „gedroht“, dachte ich – sie hat es einfach getan. Das ist der zweite massive und offenkundige Fehler der „Studie“ – nach den Erfahrungen von Männern wird überhaupt nicht gefragt. Arne Hoffmann kommentiert:
„Dieser Nonsens schafft es ganz automatisch auf die Titelseiten etlicher Tageszeitungen. Über Jahrzehnte hinweg von anerkannten Fachleuten durchgeführte seriöse Forschungen über beispielsweise häusliche Gewalt gegen Männer schaffen das nicht.“
Eine Liste von über 500 dieser Forschungsstudien ist bei Genderama verlinkt.
Auch Wolle Pelz schreibt auf seinem Blog darüber, wie viele dieser Erfahrungen er als Mann schon gemacht hat, mit einer ehemaligen Partnerin. Ich selbst hätte auch in jedem der Kapitel eine oder mehrere Fragen mit „Ja“ ankreuzen können – wie Tom wundere ich mich weniger über den hohen Anteil der Gewaltopfer als darüber, dass dieser Anteil angesichts der Breite des Gewaltbegriffs überhaupt bei unter hundert Prozent liegt.
Welchen Sinn aber hat es, nur Frauen und nicht Männer nach Gewalterfahrungen zu befragen? Die Auskunft, dass nun einmal Frauen- und nicht Männererfahrungen das Thema gewesen seien, beantwortet die Frage nicht, sondern verschiebt sie nur – denn warum wurde das Thema so eingegrenzt?
Zwei mögliche Erklärungen gibt es dafür. Entweder wurden die Gewalterfahrungen von Männern für weniger wichtig gehalten als die von Frauen – oder die Verantwortlichen gingen von vornherein und gegen die Belege aus Hunderten anderer Studien davon aus, dass Gewalt weitgehend nur Frauen treffe und dass daher nur Gewalt gegen Frauen untersucht werden müsse.
Mit der ersten Erklärung wäre die Studie der Grundrechtsagentur unethisch, mit der zweiten wissenschaftlich unhaltbar.
Auf jeden Fall kann die Studie natürlich gar nicht das aussagen, was sie auszusagen vorgibt – dass es nämlich europaweit eine spezifisch frauenfeindliche Gewalt gäbe. Diese Aussage hätte überhaupt nur dann getroffen werden können, wenn die Gewalterfahrungen von Frauen und die Gewalterfahrungen von Männern auf seriöse Weise untersucht und dann auf seriöse Weise verglichen worden wären.
Papageien im Gleichschritt
Weder die offensichtlich unhaltbare Anlage der Studie noch völlig unplausible Teilergebnisse sind in den Medien, die darüber berichten, Anlass für Kritik. Spiegel–Online:
„Die höchsten Gewaltraten gibt es in Dänemark (52 Prozent), Finnland (47 Prozent) und Schweden (46 Prozent).“
Dass ausgerechnet in den skandinavischen Musterländern feministischer Politik die Gewalt von Männern gegen Frauen besonders grassiert, ist keinem der Kommentatoren auch nur eine Nachfrage wert. Könnte es vielleicht sein, dass die beständige Wiederholung des Klischees vom männlichen Gewalttäter und weiblichen Opfer die Wahrnehmung vieler Menschen schließlich prägt? Dass also die der FRA-Studie zugrunde liegenden Klischees selbst erheblich zu den Ergebnissen beitragen, welche die Studie misst?
Diese naheliegende Frage stellen die Verantwortlichen der Studie natürlich nicht, wenn sie die gemessenen Unterschiede zwischen den Ländern zu erklären versuchen. (16) Gravierender womöglich ist, dass auch die berichtenden Medien solche Fragen nicht stellen.
Im Englischen gibt es den Begriff „parroting“ – etwas nachplappern wie ein Papagei. Tatsächlich nicken die Medien hier die Vorgaben aus der politischen Ebene lediglich ab und reichen sie weiter, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, dass ein Mindestmaß an kritischer Distanz eine journalistische Tugend sein könnte.
Das liegt sicher auch daran, dass die Studie gezielt wissenschaftliche Sachauskunft und moralisierenden Appell vermischt. Wenn es doch darum geht, Frauen vor der europaweiten Allgegenwart der Gewalt zu schützen, vor Schlägen, Terror und Vergewaltigung – wer kann es dann wagen, vernünftelnd an den Grundlagen dieser dringlichen Forderung herumzukritteln? Deutlich wird hier besonders ein Kommentar in der Frankfurter Rundschau:
„Die Verharmloser machen sich zu Helfern der Gewalttäter – indem sie die Opfer einschüchtern, entmutigen, zum Schweigen bringen. Härtere Strafen für Gewalttäter … sind das eine. Aber der Täter habhaft werden kann man erst, wenn die Opfer nicht mehr schweigen – und stattdessen die Verharmloser.“
Wie, bitteschön, sollen denn die Kritiker zum Schweigen gebracht werden? Und seit wann genau ist es eine journalistische Tugend, Kritik am Agieren politischer Institutionen zu verhindern?
Wie beunruhigend der Gleichschritt ist, mit dem die deutschen Massen- und, nunja, Qualitätsmedien die Ergebnisse der Studie weiter verbreiten, lässt sich sehr gut an den Bildern illustrieren, mit denen die Artikel und Webseiten zur Studie versehen sind. Diese Bilder nämlich sind von bemerkenswerter Ähnlichkeit.
Wieder und wieder wird eine Frau gezeigt, die klein im Bild zu sehen ist, sich in eine Ecke oder auf einen Sessel kauert und sich zu schützen versucht – und vor ihr riesenhaft im Bild die Hand eines Mannes, bedrohlich zur Faust geballt, vielleicht auch erhoben. Dasselbe Arrangement im Spiegel, im Stern, bei der Tagessschau und bei den Heute-Nachrichten (beim Video Tabuthema: Gewalt gegen Frauen) bis hin zur Neuen Osnabrücker oder zur Mittelbayerischen Zeitung. Auf der Webseite des Senders ffh ist, immerhin, ausnahmsweise auch einmal der Kopf des bedrohlichen Mannes zu sehen, wenn auch nur von hinten.
In der Wirkung der vereinheitlichten Bilderwelt ist nicht nur der Mann riesig und gewalttätig und die Frau schutzbedürftig – die Bilder zeigen auch allein die Frau als menschliches Wesen, während der Mann auf das reduziert ist, was ihr Gewalt antut: eine bildfüllende Faust, die wohl irgendwo auch an irgendeinem Körper hängt.
Noch etwas anderes ist bemerkenswert an der uniformen medialen Bilderwelt. Wer das Bild sieht, nimmt unwillkürlich die Perspektive des Mannes ein – bei der Wiener Presseist sogar nur die Frau zu sehen, die sich verzweifelt gegen einen Angreifer zu wehren versucht, dessen Perspektive der Betrachter des Bildes ganz übernimmt.
Indem der Betrachter so in die Perspektive des Gewalttäters hineingezwungen wird, haben die Bilder einen enormen Appell-Charakter: Ein Mann müsse unbedingt bereit sein, die Frau vor der männlichen – und das heißt: vor seiner eigenen – Gewalt zu schützen. Auf diese Weise wird die Verantwortung für die Situation ganz auf den großen, aktiven, monströsen Mann geschoben, während die hilflose, passive Frau schlicht einen unbedingten Anspruch auf Beistand hat.
Eine Bildlichkeit von erheblicher Demagogie.
Angesichts der Anlage der Studie, die sich einseitig auf die Gewalterfahrungen der Angehörigen nur einer Gruppe fixiert und die dabei einen willkürlich erweiterten Gewaltbegriff verwendet, könnte beliebig jede gesellschaftliche Gruppe als Opfer der Gewalt einer anderen Gruppe präsentiert werden: auch Weiße als Opfer von Schwarzen, Deutsche als Opfer von Ausländern, Christen als Opfer von Moslems. Der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit einer solchen Studie allerdings würde vermutlich irgendjemandem in den etablierten Medien irgendwann einmal auffallen – und diese Medien würden sich wohl hüten, entsprechend rassistische Bilder zur Illustration ihrer Berichte zu verwenden.
Der offensichtliche Sexismus der Studie aber bleibt den Verantwortlichen in den Medien ebenso verborgen wie ihr eigener.
Der Artikel erschien zuerst auf man tau.