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Manuela Schwesig will ein Recht der Kinder gegen das Erziehungsrecht der Eltern konstruieren. Ein Generalverdacht par excellence!
Sind Kinder keine Menschen? Das ist der erste von vielen Einwänden, der mir spontan einfiel, nachdem Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig einmal wieder die Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung forderte. Unsere Verfassung unterscheidet nämlich weder zwischen Alter noch Geschlecht eines Menschen in Artikel 1 Grundgesetz.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht dort in Absatz 1. Da steht weder etwas vom Alter noch von Größe noch vom Geschlecht, nichts von geistiger oder körperlicher Verfassung. Einfach nur Mensch. Halten wir also fest: Es gibt keinen offensichtlichen oder zwingenden Grund, Kinder mit besonderen Rechten in der Verfassung noch einmal zusätzlich zu berücksichtigen, denn sie haben den vollen Schutz unseres Grundgesetzes sowieso.
Warum also diese Forderung nach besonderen Kinderrechten, die jetzt zwar aktuell von Frau Schwesig artikuliert wurde, von zahlreichen anderen Politikern aber ebenfalls in regelmäßigen Abständen gestellt wird aus unterschiedlichen politischen Lagern? Nun, zunächst ist es opportun: Schutz und Rechte für Kinder zu fordern, wer mag da schon etwas dagegen haben? Liegen uns nicht allen die Kinder besonders am Herzen? Ja, es macht sich gut, etwas für Kinder zu tun, es ist so menschlich und herzerwärmend und politisch kaum angreifbar.
Das ist starker Tobak
Es lohnt also ein genauerer Blick, warum und in welchem Zusammenhang die Verankerung von Kinderrechten gefordert wird, gegen wessen Widerstand diese Rechte durchgesetzt werden sollen und wer den Kindern dazu verhelfen will. Frau Schwesig bezieht sich aktuell auf Kinder in Pflegefamilien, dort sollen sie mehr Schutz erfahren – vor den leiblichen Eltern. Jugendämter und Gerichte könnten sich dann bei ihren Entscheidungen, wo ein Kind leben soll, stärker nach dem Kindeswohl richten und nicht nach dem Vorrecht der Eltern, das im Grundgesetz verankert sei.
In einem Papier des Familienministeriums heißt es zusätzlich zu der Problematik: „Wirkt eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht mehr als Heimkehr, sondern als Trennung einer nunmehr zu den Pflegeeltern hergestellten Eltern-Kind-Bindung, dann müssen wir diese Bindung schützen.“ Übersetzt in den Alltag bedeutet dies: Man will Kinderrechte so definieren, wie das Jugendamt es für sinnvoll hält und im Zweifel das im Grundgesetz festgeschriebene Erziehungsrecht der leiblichen Eltern einfacher umgehen können zugunsten der Pflegeeltern. Das ist starker Tobak, vor allem, wenn man weiß, dass in Deutschland die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern durch das Jugendamt dramatisch zugenommen hat.
Allein bei den Kindern unter drei Jahren, die auf Verdacht aus den Familien genommen wurden, hat sich die Zahl zwischen 2000 und 2008 sogar verdoppelt. Insgesamt wurden im Jahr 2013 über 42.000 Kinder aus ihren Familien genommen.
Dazu muss man außerdem wissen, dass dies von den Jugendämtern sehr einfach und sehr schnell passieren kann, wenn das Amt meint, das Kindeswohl sei gefährdet. Da reicht ein Verdacht von Nachbarn. Den wenigsten Eltern ist vermutlich bekannt, dass seit 2008 für dies Verfahren die Beweislast umgedreht wurde. Sollten Sie also noch an den alten Grundsatz „in dubio pro reo“ glauben, sollten Sie sich in Bezug auf Ihre Erziehungsfähigkeit davon verabschieden, denn derzeit heißt es „im Zweifel gegen die Eltern“.
Früher musste das Jugendamt nachweisen, dass Sie schlechte Eltern sind und durfte dann erst die Kinder mit Gerichtsbeschluss aus den Familien nehmen. Heute darf das Jugendamt die Kinder erst einmal vorsorglich rausnehmen und zu Pflegeeltern geben, darf den Kontakt zu den leiblichen Eltern unterbinden und die Eltern müssen dann beweisen, dass sie sehr wohl gute Eltern sind.
Wie das in Abwesenheit der Kinder funktionieren soll, ist nicht nur mir ein Rätsel. Im Internet explodieren die Selbsthilfeseiten von Eltern, die versuchen, ihre Kinder wieder zurückzubekommen. „Willkür“ der Jugendämter ist dabei ein gängiger Begriff. Widerstand gegen das Jugendamt wird dabei als „unkooperativ“ gewertet.
Es fehlt an Zeit und Personal
Nicht selten gewinnen die Eltern nach langwierigen Gerichtsverfahren. Was das für die Kinder und die Familien bedeutet und welcher seelische Schaden gerade bei den Kindern angerichtet wurde, kann sich jeder wohl selbst ausmalen. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus keinem Land mehr Fälle vorliegen, wo Eltern gegen Behörden auf Herausgabe ihrer Kinder klagen, als aus Deutschland.
Kein Wunder, in keinem anderen Land werden so viele Kinder weggenommen, obwohl Fachleute die Herausnahme von Kindern aus der Familie nur als „letztes Mittel“ empfehlen. Dazwischen gäbe es nämlich sehr viele andere Möglichkeiten, die kosten aber Zeit und Personal. Der gleiche Gerichtshof hat schon mehrfach die deutsche Praxis gerügt, bei der es keine Rechtsaufsicht über die Arbeit des Jugendamtes gibt, und dass die Verfahren zu lange dauern – verändert hat sich kaum etwas.
Mit diesem Hintergrund fordert also unsere Familienministerin, dass diese Fakten, die das Jugendamt schafft, dann im Zweifel auch noch gegen die leiblichen Eltern arbeiten. Hat man die Kinder lange genug bei Pflegeeltern untergebracht und haben sie eine Bindung zu den „neuen“ Eltern aufgebaut, weil das Gerichtsverfahren über Jahre hinausgezögert wurde, würde dies dazu führen, dass die Kinder noch weniger Chancen haben, wieder in ihre Ursprungsfamilie zurückzukehren. Und das Ganze als „Kinderrecht“ in der Verfassung verankert. Na herzlichen Glückwunsch!
Erhellend zum Thema ist jedoch auch, was Manuela Schwesig im Jahr 2012 im Interview mit dem Deutschlandradio sagte. Damals stand die Nation unter Schock, weil in Hamburg die kleine Chantal bei ihren vom Jugendamt bestellten Pflegeeltern an einer Überdosis Methadon gestorben war. Bei den drogensüchtigen Pflegeeltern wohlgemerkt, nicht bei den leiblichen. Und was sagt da Frau Schwesig? „Wir brauchen Kinderrechte im Grundgesetz. Das blockiert derzeit die Bundesregierung. Und das Betreuungsgeld, das gezahlt werden soll, ist auch eine Gefahr für den Kinderschutz“ – das Betreuungsgeld ist also eine Gefahr für Kinder, weil sie dann zu Hause sind und nicht in einer Kita. Generalverdacht gegen Eltern par excellence!
Das Grundgesetz steht im Weg
Nein, ich will nicht kleinreden, dass es durchaus Eltern gibt, die sich nicht adäquat um ihre Kinder kümmern und dass die Gesellschaft hier eingreifen muss. Das gibt die aktuelle Rechtslage aber schon her. 42.000 Mal hat der Staat im Jahr 2013 davon Gebrauch gemacht, ob berechtigt, ist eine andere Frage. Fakt ist: Wir haben Gesetze, die allen Kindern helfen können, neue Verfassungsrechte hätten aber auch der kleinen Chantal das Leben nicht gerettet. Aber vielleicht Jugendämter, denen nicht durch Überarbeitung der Fehler unterläuft, so ein Kind vom Regen in die Traufe zu bringen, nämlich zu drogenabhängigen Pflegeeltern.
Leider kennt man aber diese Rhetorik der angeblichen Kindeswohlgefährdung durch die eigenen Eltern nur allzu gut schon aus der Betreuungsgelddebatte. Nicht umsonst nennt die SPD das Betreuungsgeld konsequent „Fernhalteprämie“, weil Eltern ihre Kinder ja von wertvoller Bildung in der Kita „fernhalten“. Das schreit nach Fahrlässigkeit und Kindeswohlgefährdung.
Dass die SPD gerne eine Kitapflicht einführen würde, ist kein Geheimnis mehr, zu viele Genossen haben es bereits gefordert. Das Thema schleicht seit dem Jahr 2006 durch die SPD. Unter dem schönen Titel „Prüfung der Verbindlichkeit frühkindlicher staatlicher Förderung“ hatte die damalige Berliner Justizsenatorin der SPD, Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, in einem Gutachten ergründen lassen, ob man auch gegen den Willen der Eltern eine Kindergartenpflicht einführen kann. Ergebnis: Man kann nicht, denn das Erziehungsrecht der Eltern aus Artikel 6. 2 Grundgesetz steht dem im Wege. Es sei denn, man macht aus der Kita eine Bildungsstätte, dann wäre es auch gegen den Willen der Eltern analog der Schulpflicht durchsetzbar. Dass der Wind heute in Sachen Kinderrechte leider erneut aus der Richtung gesetzliche Kitapflicht weht, bestätigt auch, was Schwesigs Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Dr. Ralf Kleindiek, erst im Juni 2014 von sich gab.
Er befürworte die Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung, weil Kinder und Jugendliche „das Recht auf Förderung ihrer Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit sowie auf Schutz und Beteiligung“ hätten. Was er damit genau meint, folgt sogleich: „Dazu gehört, Kinder früh entsprechend ihrer Bedarfe zu fördern und ihnen Raum für gemeinsames Lernen mit Gleichaltrigen zu bieten. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung und verbindliche, einheitliche Qualitätsstandards für die Betreuungsangebote sind ein zentraler Baustein dieser Förderung.“
Setzen wir also zusammen: Kinder sollen das Recht haben auf Förderung, die insbesondere nicht etwa durch ihre Eltern, sondern „zentral“ durch Kindertagesbetreuung realisiert wird. Das Ganze als Verfassungsrecht, das im Zweifel das Elternrecht aushebelt, schließlich geht es doch um das Kindeswohl! Eltern, die ihrem Kind diese „Beteiligung“ und „Förderung“ in der „Kindertagesstätte“ vorenthalten, wären also automatisch dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden ihrem Kind ein Verfassungsrecht vorenthalten. So einfach lässt sich ein Recht der Kinder gegen das Erziehungsrecht der Eltern konstruieren.
Was hier also als Kinderrechte in die Verfassung so harmlos und wohlmeinend daherkommt, ist in Wahrheit das Aushebeln des grundgesetzlich garantierten Erziehungsrechtes der Eltern. Die Kinderrechte, die hier gemeint sind, sollen im Zweifel durch das Jugendamt gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden. Der Staat als Anwalt der Kinder gegen ihre eigenen Eltern, wobei nicht etwa die Eltern, sondern der Staat selbst das Kindeswohl definiert. So hatte es Frau Schwesig übrigens in dem Deutschlandradiointerview ja auch formuliert: „Wir müssen die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Oftmals sind Elternrechte oder andere Rechte höher als die Kinderrechte. Das halte ich für falsch.“ Und sehen Sie Frau Schwesig, das ist wohl der Unterschied: Ich halte das für richtig.
Birgit Kelle arbeitet als freie Journalistin und Autorin.
Sie wurde 1975 in Siebenbürgen, Rumänien, geboren und siedelte als Neunjährige mit ihrer Familie noch aus dem real existierenden Kommunismus nach Deutschland um.
In verschiedenen Landtagen und vor dem Familienausschuss des Deutschen Bundestages trat sie als Sachverständige für die Interessen von Müttern und Familie, sowie als Expertin im Themenkomplex Gender auf. Als regelmäßiger Gast in diversen Talksendungen im Deutschen Fernsehen zu den Themenfeldern Familien-, Frauen-, Genderpolitik und Feminismus-Kritik wurde sie einem breiten Publikum bekannt.