Die geschlechterpolitische Initiative MANNdat legte dieser Tage ihren Zweiten Bericht zur Situation von Jungen und Männer in Deutschland (2012) vor, der maßgeblich von dem MANNdat-Mitglied Dr. Andreas Kraußer erarbeitet wurde. Andreas Kraußer ist nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Promotion mit einem Thema aus der Statistik seit etwa fünf Jahren mit Sozialberichterstattung beschäftigt. Cuncti stand er dankenswerterweise zu einem Interview über den aktuellen Männerbericht zur Verfügung.
Arne Hoffmann: Andreas, was sind die zentralen Erkentnisse eures Jungen- und Männer-Berichts 2012?
Andreas Kraußer: Mit der Berichtsreihe wollen wir die Benachteiligung von Jungen und Männern in zentralen Lebenslagen dokumentieren. Wir gestalten die Berichte durchgängig empirisch, faktenbasiert und ziehen möglichst amtliche Statistiken heran. Dadurch, dass wir im Zeitablauf die Kennzahlen immer wieder aktualisieren, entstehen allmählich Zeitreihen, die erkennbar werden lassen, ob sich die Situation verbessert oder verschlechtert.
Vergleicht man die Befunde des aktuellen Berichts mit denen des ersten Berichts aus dem Jahr 2010, so fällt die Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt auf. Sowohl die Jugendarbeitslosigkeit als auch die Gesamtarbeitslosigkeit von Männern relativ zu der von Frauen ist deutlich zurückgegangen. Der Wermutstropfen daran ist allerdings, dass dies Ausdruck der Erholung am Arbeitsmarkt von der Krise der Jahre 2008 und 2009 ist. Männer waren seinerzeit häufiger vom Verlust des Arbeitsplatzes betroffen als Frauen, folglich profitieren sie jetzt auch stärker von der Normalisierung. Prekäre Beschäftigung ist inzwischen ein Männerphänomen.
Erfreulich ist auch die Verbesserung bei den Sorgerechtszuweisungen. Verglichen mit dem Jahr 2002 hat sich das Ungleichgewicht bei den Zuweisungen des alleinigen Sorgerechts deutlich verringert.
Nahezu unverändert ist die Situation im Bereich Gesundheit, Gewalt und an den Schulen. Frauen erreichen nach wie vor deutlich häufiger die allgemeine Hochschulreife. Erstmals haben wir auch die Situation bei den Schulabbrechern dargestellt. Mit erschütterndem Ergebnis: Die Zahl der männlichen Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss lag 2009 um ca. 55 % über der entsprechenden Zahl weiblicher Schulabgänger. Die Lehrerschaft ist nach wie vor stark frauendominiert.
Ebenso ist die Lebenserwartung von Männern weiterhin fünf Jahre geringer als die von Frauen. Dies kann sich naturgemäß auch nur langfristig ändern. Bezüglich des Themas Gesundheit ist positiv, dass die Politik sich nun auch hier allmählich der Befassung mit dem Thema annimmt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat ein Männergesundheitsportal im Internet eingerichtet.
Arne Hoffmann: Beim Lesen eures Berichts ist mir eine weitere drastische Verschlechterung der Situation von Männern aufgefallen: 2008 überstieg die Zahl der männlichen Sozialhilfeempfänger die der weiblichen um nur 2,6 %. Im Jahr 2010 betrug diese Differenz jedoch bereits 9,3 %. Politik und Medien breiten aber den Mantel des Schweigens über solche Dinge: Die Grünen stellen mit Sprüchen wie „Armut ist weiblich“ die Wirklichkeit auf den Kopf; die Medien bedauern vor allem die „Schlecker-Frauen“, als ob das weibliche Geschlecht von Arbeitslosigkeit besonders betroffen wäre. Wie kommt es zu dieser verzerrten Darstellung?
Andreas Kraußer: Die im Bericht abgebildete Kennzahl spiegelt die Hilfebedürftigkeit von Menschen wider, die dauerhaft oder vorübergehend nicht erwerbsfähig sind. Die starke Zunahme des männlichen Überhangs binnen zweier Jahre deutet darauf hin, dass zunehmend Männer aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen am Arbeitsmarkt gar nicht mehr teilnehmen können. Wären sie nämlich an sich erwerbsfähig, würden sie keine Sozialhilfe erhalten, sondern als arbeitslos gelten und regelhaft entweder Arbeitslosengeld 1 oder nach längerer Bezugsdauer Arbeitslosengeld 2 („Hartz IV“) beziehen. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die weitere Entwicklung darstellt. Wenn sich der Trend fortsetzt, haben wir es hier trotz der aktuell vergleichsweise niedrigen Fallzahlen langfristig mit einem neuen Problemfeld zu tun.
Wie es zur öffentlichen Wahrnehmung kommen kann, die Frauen seien häufiger von Armut betroffen als die Männer, ist mir ein Rätsel. Diese Behauptung lässt sich jedenfalls klar widerlegen. Das Statistische Bundesamt weist für das Jahr 2010 für Männer eine Hartz-IV-Quote von 9,8 % gegenüber 10,2 % bei Frauen aus, also nur 0,4 Prozentpunkte Unterschied. Der Hartz-IV-Bereich ist auch der mit den großen absoluten Fallzahlen. Grundsicherung im Alter (Stichwort Altersarmut) beziehen 2,0 % der Senioren und 2,7 % der Seniorinnen, also auch hier noch nicht einmal ein Prozentpunkt Unterschied. Das Absurde an der öffentlichen Wahrnehmung besteht hier nicht nur darin, dass ein Geschlechterunterschied fantasiert wird, wo gar keiner ist, sondern dass darüber tatsächliche Probleme aus der Wahrnehmung verdrängt werden. So liegt die Hartz-IV-Quote von unter 15-Jährigen bei 15,5 %! Jungen und Mädchen sind knapp sechsmal so häufig auf Grundsicherungsleistungen angewiesen wie Seniorinnen. Öffentlich diskutiert wird aber bevorzugt über die Altersarmut von Frauen. Das verstehe, wer will.
Was die „Schlecker-Frauen“ betrifft verweise ich auf die Quelle-Pleite 2009. Schon 2011 lag die Arbeitslosenquote in Mittelfranken bereits wieder auf dem Niveau vor der Pleite. Am Quelle-Stammsitz Fürth sogar darunter (7,0 vs. 7,6 %). Der Arbeitsmarkt hat sich also als sehr aufnahmefähig erwiesen. Im Drogieriemarktbereich soll es bundesweit 20.000 unbesetzte Stellen geben. Die von der Schlecker-Pleite Betroffenen werden demnach kaum lange auf Arbeitsplatzsuche sein.
Derweil kündigt sich die Schließung von Opel-Werken an. Die Grünen werden nicht von bedrohten „Opel-Männern“ reden, wenn es so weit ist. Diese Voraussage wage ich.
Arne Hoffmann: Wie siehst du die Chancen, dass eure Berichte über die Situation von Jungen und Männern etwas an der bisherigen einseitigen und verzerrten Darstellung ändern?
Andreas Kraußer: Ich bin sehr zuversichtlich, mit unseren Berichten langfristig die öffentliche Wahrnehmung korrigieren zu können. Das Publikum braucht eine gewisse Zeit, neue Signale wahrzunehmen und dann anzunehmen. Dieser Prozess ist allerdings schon fortgeschritten, wie man an einem aktuellen Beitrag des österreichischen Magazins Profil zur Geschlechterfrage dieser Tage beobachten kann. Profil ist immerhin so etwas wie der österreichische Spiegel, und der Bericht dort könnte glatt von MANNdat oder AGENS verfasst sein. Also: dran bleiben!
Arne Hoffmann: Gibt es denn bereits erste Reaktionen auf euren aktuellen Bericht? Welche erhofft ihr euch und mit welchen wäre realistischerweise zu rechnen?
Andreas Kraußer: Üblicherweise kommen E-Mail-Zuschriften, die sich positiv auf die Veröffentlichungen auf der MANNdat-Homepage beziehen. Toll wäre, wenn wir einmal ausdrücklich von einem Leitmedium zitiert werden würden. Da fällt mir eine Anekdote aus der Biografie „Heaven and Hell“ von Don Felder ein. Das ist der von den Eagles mit der Doppelhals-Gitarre in dem legendären Hotel California-Live-Clip und Komponist eben dieses Titels. Er schreibt in seinen Memoiren, die Band habe lange Zeit überhaupt kein Feedback vom Publikum erhalten, und er selbst war ja noch nicht mal von Anfang dabei. Es sei die ersten Jahre immer so gewesen, dass sie ihr Repertoire heruntergespielt haben und das Publikum vollkommen indifferent, apathisch war. Keiner aus der Band konnte üblicherweise eine Einschätzung geben, wie sie wohl angekommen sein, weder positiv, noch negativ. Dann plötzlich, mit einem Mal, setzte der öffentliche Zuspruch ein. Es ist bei solchen Dingen ein Verlauf wie bei einem Hockey-Schläger: Lange Zeit tut sich nicht viel, dann geht es plötzlich nach oben. Deshalb noch mal: dran bleiben!
Arne Hoffmann: Zurück zum Inhalt eures Jungen- und Männer-Berichts. „Gender Mainstreaming“ wird von Politik und Medien (beispielsweise der „taz“) damit beworben, dass es auch Männern nutzen könne. Habt ihr Beispiele dafür gefunden?
Andreas Kraußer: Faktisch nutzt Gender Mainstreaming den Männer bis dato nicht. Gender Mainstreaming ist in der Praxis bislang nichts anderes als Frauenzentriertheit, Frauenförderung im neuen Gewand. Ich habe mich vor zwei bis drei Jahren durch die Internetportale der größeren Kommunen im deutschsprachigen Raum geklickt. Alle haben auch eine Rubrik zu Männern und Frauen bzw. Gender Mainstreaming. Eingangs findet man dort auch meist das hehre Ziel formuliert, alle Politikansätze im Hinblick auf die Bedeutung aus Sicht beider Geschlechter begutachten zu wollen. Wenn es konkret wird, findet man aber nur noch die Frauensicht und Fraueninteressen berücksichtigt. Beispielsweise hatte eine Kommune, ich habe leider vergessen welche, einen Unterpunkt zu Elternschaft online, der sich in Angebote für Mütter und Väter unterteilte. Für Mütter waren Information angeboten bzgl. Kindertagesbetreuung, Vorsorgeuntersuchungen und sonstige Angebote rund um die frühe Mutterschaft online. Klickte man auf die Rubrik „Vater“, fand man vor: Wie lässt sich feststellen, ob ein Mann der Vater des Kindes ist? Wie geht man vor, Unterhalt einzuklagen? Wie bekommt man gegebenfalls Unterhaltsvorschuss? Was tun, um das alleinige Sorgerecht zu bekommen? Hinter „man“ versteckt sich also durchgängig die Sicht der Mutter! Das Angebot war ausschließlich frauenzentriert. Der Vater tauchte nur als Objekt mütterlicher Interessen auf. Und das ist für die gegenwärtige Lage typisch.
Ein anderes Beispiel: Ich habe einmal eine Vorlage zur Stellungnahme bekommen, die vorsah, in Bezug auf migrantische Mädchen eine Datenerhebung durchzuführen. Die Datenlage sei hier so schlecht, dem wolle man abhelfen. Ich habe geschrieben, es sehe bei den migrantischen Jungen nicht besser aus mit der Datenlage. Man solle doch gleich für beide Geschlechter Daten erheben, wenn schon, denn schon. Außerdem sei das im Sinne des Gender Mainstreaming, da ja immer beide Geschlechter zu berücksichtigen seien. Der so erweiterte Antrag wäre zustimmungsfähig. Das wurde dann tatsächlich so vorgetragen und beschlossen. Im Abstimmungsprotokoll finden sich allerdings einige Beiträge, die ausdrücklich nochmals die besondere Bedeutung der Mädchen betonen. Man konnte sich also dem selbst gesetzten Anspruch nicht verweigern, war aber doch pikiert, nicht ausschließlich für Mädchen etwas beschliessen zu können. Kognitive Dissonanz.
Das, denke ich, sollte der Ansatzpunkt der Männerrechtler sein. Wir nehmen Gender Mainstreaming beim Wort und fordern unter Bezugnahme darauf die Berücksichtigung der Männersicht ein. Wir sollten diese strategische Chance konsequent nutzen. Andernfalls bleibt Gender Mainstreaming, was es bislang ist: eine Bemäntelung der alten Frauenpolitik mit einem neuen Begriff.
Die Themen Männergesundheit und Bildungsmisere der Jungen sind in der breiten Öffentlichkeit bereits angekommen. Wir sollten anhand dieser die Wahrnehmung von Problemlagen aus Männersicht im öffentlichen Bewusstsein weiter verankern und von dort aus auf weitere Themengebiete wie beispielsweise das Familien- oder Arbeitsrecht ausdehnen.
Arne Hoffmann: Eine Instanz, deren Anliegen es eigentlich sein müsste, die vielfältigen von euch aufgedeckten Diskriminierungen zu kümmern, wäre das Bundesforum Männer, das meinen Informationen zufolge jährlich mit Staatsgeldern in sechsstelliger Höhe bedacht wird. Ist von dort Unterstützung zu erwarten?
Andreas Kraußer: Das Bundesforum Männer ist eine interessantes Gebilde. Es wird vom Bundesministerium für Frauen, Familie und so weiter gefördert. Die maßgebliche Führungspersönlichkeit kommt aus der evangelischen Männerarbeit. Es sind neben den den Amtskirchen nahestehenden Initiativen so gut wie alle auch nur entfernt mit der Gleichberechtigung befassten Institutionen und Vereine vertreten, die Männerrechtler-Vereine AGENS und MANNdat aber nicht. Meiner Einschätzung nach hat die Politik wahrgenommen, es in Sachen Gleichberechtigung mit der Einseitigkeit gegen Männer übertrieben zu haben. Man strebt nun eine Kurskorrektur an, will den unabhängigen Männerrechtlern aber nicht das Feld überlassen. Was nicht eingebunden, vernetzt und mithin von oben steuerbar ist, gilt als suspekt. Den Drahtseilakt, Männerinteressen zu vertreten, gleichzeitig aber den in allen Institutionen bestens etablierten Fraueninteressen dabei nicht den virtuellen Bart zu versengen, hat man meiner Einschätzung nach dem Bundesforum Männer übertragen.
Daraus erklärt sich die einerseits geradezu allergische Abstoßungsreaktion gegen AGENS und MANNdat, anderseits aber doch das unverkennbare Vorhandensein männerspezifischer Zielrichtungen. Das Bundesforum hat ja 2010 zusammen mit einem Wissenschaftsinstitut die Studie „Männer – die ewigen Gewalttäter?“ herausgebracht. Darin wird klar widerlegt, häusliche Gewalt gehe nur von Männern aus. Das ist für uns von AGENS und MANNdat alles andere als eine Neuigkeit. Ich halte es aber dennoch für beachtenswert, dass das Bundesforum dies durchgeführt und Mittel bereitgestellt hat, eine der falschen Kernthesen des Feminismus nochmals zu widerlegen. Wie vermint das Terrain ist, sieht man aber allein schon daran, dass die zuständige Abteilungsleiterin aus dem zuständigen Bundesministerium ihre Anwesenheit bei der Veranstaltung zur Präsentation der Gewaltstudie des Bundesforums zwar zunächst zugesagt hatte, aber dann doch nicht erschien und erst am Tag selbst telefonisch absagen ließ.
Anlässlich des Welttages des Mannes 2011 findet sich im Netz eine Verlautbarung des Bundesforums, es solle mehr männliche Gleichstellungsbeauftragte geben, da auch Männer Gleichstellung können. Das ist im Grunde ein Angriff auf den Alleinvertretungsanspruch des Feminismus in Bezug auf Diskurs und institutionalisierter Stellenbesetzung.
Man muss das Bundesforum also danach beurteilen, was es für die Männer faktisch tut, weniger danach, was es äußert. Wenn meine Einschätzung richtig ist, dass das Bundesforum Themen abarbeiten soll, die ansonsten AGENS und MANNdat aufgreifen würden, haben wir es in der Hand, das Establishment zu steuern. Wir müssen einfach nur immer etwas schneller und laut sein. Dann müssen sie hinterher. Hase und Igel. Lasst uns Igel sein: schlau und stachelig.
Arne Hoffmann: Herzlichen Dank für dieses Gespräch. Gute Nacht und viel Glück!