Zuerst erschienen auf Sciencefiles.org
Der Untergang der Titanic jährte sich am 14. April 2012 zum 100sten Mal. 1.595 Menschen, vornehmlich Männer, nahm die Titanic vor 100 Jahren mit auf den Grund des Nordatlantik. Drei Studen hatten die 1.595 zum Tode Verurteilten Zeit, sich auf das nahende Ende einzustellen. Rund drei Stunden, die nach Ansicht von Bruno S. Frey, dem Altmeister psychologischer Erklärungen in der Ökonomie, den ganzen Unterschied machen. Bereits am 27. Juni des letzten Jahres waren die Forschuungen Freys und seiner Mitarbeiter Gegenstand auf diesem Blog, nun hat es Freys Forschung auch in die FAZ geschafft und hier wie dort hat er dieselbe Meldung: Zeit ist wichtig für die Einhaltung sozialer Normen.
Die soziale Norm, die den Untergang der Titanic nach Ansicht Freys überschattet hat, lautet: “Frauen und Kinder zuerst”. Anders als z.B. auf der Lustitania, so haben Frey und seine Mitarbeiter argumentiert, habe auf der Titanic die Zeit gereicht, um soziale Normen zu etablieren und ihnen zu folgen. Im Gegensatz zur Titanic sei die Lusitania am 7. Mai 1915 innerhalb von nur 18 Minuten gesunken, zu wenig Zeit für die Befolgung sozialer Normen, zu wenig Zeit für Galanterie und Altruismus, statt dessen galt das “Survival of the Fittest” (Frey et al., 2011, S.242). Und das Survival of the Fittest lässt sich auch statistisch nachweisen, denn im Gegensatz zur Titanic waren es auf der Lusitania die 16 bis 35 Jahre alten Passagiere, die unabhängig von ihrem Geschlecht die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit hatten. Dagegen überlebten den Untergang der Titanic offensichtlich “not the fittest”, vornehmlich Frauen und Kinder, wobei Frauen und Kinder, die in der ersten und zweiten Klasse reisten, eine deutlich höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hatten, als Frauen und Kinder, die in der dritten Klasse unterwegs waren. Dies alles lässt Frey und seine Mitarbeiter zu dem Schluss kommen, dass der Untergang der Titanic als “geordnete Katastrophe” anzusehen ist, wobei die Ordnung darin besteht, dass Männer das eigene Leben opfern, um Frauen und Kindern das Überleben zu ermöglichen.
Doch wird diese Erklärung durch suizidalen Altruismus wirklich den Tatsachen gerecht? Nein, sagt Andreas Diekmann in einem neuen Beitrag. Nicht Altruismus, sondern eine Mischung aus Fehleinschätzung und Zwang hat die Überlebenswahrscheinlichkeit von Männern beeinflusst. Die “Ordnung” auf der Titanic, so Diekmann, sei nicht von selbst entstanden, die Ordnung sei durch die Mannschaft hergestellt worden: Der Zugang zu den Rettungsbooten sei nämlich nur Frauen und Kindern gewährt worden (Diekmann, 2012, S.178). Angesichts der auf der Titanic herrschenden Mengenverhältnisse stellt sich Diekmann sodann die Frage, wieso es den wenigen Mitgliedern der Mannschaft gelungen ist, die vielen männlichen Passagiere von den Rettungsbooten fernzuhalten. Anders formuliert: Warum haben sich die männlichen Passagiere in ihr Schicksal des “geordneten Untergangs” wie Frey das nennt, gefügt und nicht mit Gewalt versucht, sich einen Platz auf den Rettungsbooten zu verschaffen. Die Antwort, die Diekmann gibt, ist ebenso einfach wie nüchtern: Weil sie die Situation falsch eingeschätzt haben, weil sie dachten, dass sie gerettet werden, und es deshalb nicht notwendig sei, um einen Platz auf dem Rettungsboot zu kämpfen.
Tatsächlich berichten Überlebende vor der britischen Kommission, die den Untergang der Titanic untersuchte, davon, dass die Lichter der “Californian” am Horizont zu sehen waren und dass bekannt war, dass die “Carpathia” unterwegs war, der Titanic zu Hilfe zu kommen. Entsprechend sei es schwierig gewesen, überhaupt Passagiere dazu zu bewegen, in die Rettungsboote zu steigen. Erst als deutlich wurde, dass die Californian an der Titanic vorbeifuhrt (der Funker hatte sein Funkgerät abgeschaltet, entsprechend wusste niemand auf der Californian vom Unglück der Titanic) und dass die Titanic gesunken sein wird, ehe die Carpathia am Unglücksort eintrifft, änderte sich die Situation auf der Titanic: Die soziale Norm “Frauen und Kinder zuerst” wurde in Frage gestellt, und die Mannschaft verteidigte die verbliebenen Rettungsboote mit Waffengewalt gegen männliche Passagiere, die sich einen Platz verschaffen wollten. Die Darstellung Diekmanns sieht somit nicht den suizidalen Altruismus, den Frey gefunden zu haben glaubt, am Werk, sondern eine Fehleinschätzung, die von erzwungenem Altruismus gefolgt wurde. Die Befolgung der Norm “Frauen und Kinder zuerst”, hing somit davon ab, wie hoch der Normengetreue die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit einschätzte.
Es ist erfreulich, dass es tatsächlich noch Themen gibt, die Soziologen wie Diekmann zum Widerspruch anreizen. Es ist weniger erfreulich, dass sich diese Themen regelmäßig dadurch auszeichnen, dass sie in der Vergangenheit spielen und weitgehend ohne Konsequenz für die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben bzw. gelassen werden. Dabei bietet es sich doch an, eine Verbindung zwischen der Befolgung von Normen auf der Titanic und der Jetztzeit herzustellen. Dazu ist es zunächst notwendig, noch einen Schuss Realismus in die Darstellung zu bringen. Viele Überlebende berichten davon, dass sich Passagiere, also vornehmlich Frauen, geweigert hätten, die Rettungsboote zu besteigen. Wenn man annimmt, dass die Mehrzahl der Passagiere im Familienverband unterwegs war, dass also die “Frauen und Kinder” zu einem Mann und Vater gehörten, dann muss man nur noch die Annahme hinzufügen, dass es für manche Frauen und Kinder schrecklich war, mit der Wahl zwischen dem eigenen Leben und dem eigenen Mann/Vater konfrontiert zu sein. Wie so oft, schaffen disjunkte soziale Normen Leid auf beiden Seiten, bei denen, die von ihrer Einhaltung eigentlich profitieren sollen und bei denen, die von ihrer Einhaltung einen Schaden haben.
Von disjunkten Normen, wie sie auf der Titanic anscheinend befolgt wurden, zu disjunkten Normen, wie sie heute befolgt werden, ist es nur ein kleiner Schritt. So könnte man sich, wäre man ein kritischer Soziologe, durchaus fragen, warum Männer sich in soziale Normen einfügen, die sie als hegemoniale Monster verspotten, die Kriege anzetteln und der Mammon-Sucht verfallen sind? Man könnte sich fragen, warum Männer zu willfährigen Helfern eines feministischen Totalitarismus werden, der darauf ausgelegt ist, die Früchte überwiegend männlicher Arbeit über Sozialabgaben umzuverteilen, und warum sich manche Männer noch besonders geehrt fühlen, wenn sie im Genderismus-Feldzug instrumentalisiert werden. Die Antwort auf diese Fragen führt zurück zur Titanic und in Teilen auch zum Vril-Kult des Dritten Reiches.
Soziale Normen wie “Frauen und Kinder zuerst” oder, mehr aktuell: “benachteiligten Frauen muss man helfen”, bestehen nicht im luftleeren Raum und senken sich von dort auf die Psychen von z.B. Männern. Jeder Mann hat die Möglichkeit, eine Wahl zwischen Befolgung und Nicht-Befolgung der entsprechenden Norm zu treffen. Die Männer auf der Titanic, die sich zur Befolgung der Norm “Frauen und Kinder zuerst” entschieden haben, trafen diese Entscheidung, angesichts einer durch die Mannschaft des Schiffes hergestellten Ordnung, die die Befolgung dieser Norm vorsah, und angesichts der Tatsache, dass sie für sich keine unmittelbare Lebensgefahr sahen. Das ist die Erklärung von Diekmann und sie erklärt, wie ich glaube, das Verhalten der Mehrzahl der Männer, auch heute: Wer dem feministischen Treiben, dem Griff des Staates in sein Gehalt und dem freudigen Umverteilen von Leistenden zu nicht-Leistenden unter dem Banner des Sozialstaates weitgehend unbeteiligt zusieht, sieht sich einerseits mit einer etablierten Ordnung konfrontiert, andererseits scheint er die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Leben unter der staatlichen Verknappung seines Einkommens leidet, für gering anzusehen.
Aber dies ist nur ein Teil der Erklärung. Die Erfahrungen mit “Männern” wie Hinrich Rosenbrock oder Thomas Gesterkamp oder ein Blick auf die Garde der männlichen Politiker reichen aus, um festzustellen, dass es eine recht große Anzahl von Männern gibt, die offensichtlich und mit Freude dabei sind, dem vermeintlich “schwachen Geschlecht” zu helfen, die ihren Lebenssinn und die Definition ihrer Persönlichkeit daraus entnehmen. Sie dienen gerne und sind zu jedem Opfer bereit, wenn es darum geht, die “Benachteiligung der Frauen” zu beseitigen, und wer weiß wahrscheinlich wären sie diejenigen gewesen, die auch auf der Titanic die Durchsetzung der sozialen Norm “Frauen und Kinder zuerst” als Mannschaft befördert hätten, denn damals wie heute hätte die Entscheidung, Frauen zu dienen, diesen Männern einen Vorteil verschafft: Heute dürfen sie bezahlte “Expertisen” schreiben, damals nahmen sie als Ruderer in Rettungsbooten Platz.
Und dann gibt es noch die Individuen, die nicht in Kategorien von Geschlecht denken und für die eine Tragödie wie der Untergang der Titanic etwas ist, das weniger dazu einlädt, sich zu überlegen, ob und warum soziale Normen eingehalten wurden, sodern dazu, sich mit der grausamen Entscheidung zu befassen, vor die Menschen, die einander gerne haben, vielleicht sogar lieben, durch eine Gruppe anderer Menschen gestellt werden, die auf die Einhaltung sozialer Normen pocht. In dieser Sicht treten die individuellen Schicksale vor die Gruppe, die Entscheidung, in ein Rettungsboot zu steigen oder nicht, wird hier zur quälenden Lebensentscheidung, genau so, wie es heute für diejenigen, die nicht den staatlich genderistischen Vorgaben folgen wollen, keine Kinder in die Welt setzen wollen, nicht in einer staatlich sanktionierten und vorstrukturierten Beziehung leben woll, nicht über Quotenvorteile in Positionen kommen wollen, zu einer Lebensentscheidung wird, ob sie gegen den genderistischen Strom schwimmen wollen, oder ein Leben in Freiheit suchen, wobei die Freiheit auch im Tod bestehen kann, wie er aus der Abwahl des Platzes im Rettungsboot resultiert, wie sie vermehrt Frauen aus der dritten Klasse der Titanic getroffen zu haben scheinen.
Literatur
Diekmann, Andreas (2012). Die Rolle sozialer Normen, der Situationsdefinition und sozialer Klassen beim Untergang der Titanic. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 64(1): 175-184.
Frey, Bruno S., Savage, David A., Schmidt, Sascha L. & Torgler, Benno (2011). Auswirkungen von Macht auf das Überleben in Extremsituationen: Ein Vergleich der Titanic und Lusitania Schiffskatastrophen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63(2): 237-254.