Das spektakuläre Urteil des Kölner Landgerichtes über die Strafbarkeit von Beschneidungen bei Jungen hat die Politik aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen.
Im Gegensatz zur Beschneidung von Mädchen, will die Politik die Beschneidung von Jungen legalisieren. Dabei überrascht, wie schnell die Politik bei der Hand ist, das Recht auf körperliche Unversehrtheit von Jungen beschneiden zu wollen. Als die Politiker/innen aus dem Urlaub zurückkehren mussten, um über den EFSF zu entscheiden, hat der Bundestag, kurzerhand, quasi aus dem Stegreif, auch eine Resolution für die Beibehaltung der Beschneidung bekanntgegeben. Eine echte Abwägung, eine Diskussion, fand nicht statt. Lediglich bei den Linken kann man derzeit Versuche erkennen, das Menschenrecht von Jungen in der Diskussion ausreichend zu gewichten.
Wieder einmal zeigt sich die ausgeprägte Doppelmoral der Politik in Sachen Gleichberechtigung. Gleichberechtigung ist und bleibt eine Einbahnstraße, bei der die Jungen am falschen Ende stehen. Gerade weil die Doppelmoral der Politik hier so offensichtlich ist, grassieren die absurdesten „Argumente“ von Beschneidungsbefürwortern. Umso wichtiger ist es, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. MANNdat hat deshalb mit zwei Betroffenen geredet, zwei Männer, die in ihrer Kindheit beschnitten wurde, allerdings nicht aus religiösen Gründen. Einer der beiden ist ein absoluter Kenner der Szene. Die Interviewpartner sind MANNdat bekannt, möchten im Interview jedoch anonym bleiben. Dies ist auch verständlich, nachdem selbst die Bundeskanzlerin die Beschneidungskritiker öffentlich herab kanzelte, als sie Deutschland als „Komikernation“ sehe, wenn es in Deutschland keine blutigen religiösen Initiationsrituale bei männlichen Minderjährigen mehr gäbe.
Wir haben die beiden Betroffenen Andreas und Sven genannt. Die Namen sind frei erfunden. Das Gespräch führte Dr. Bruno Köhler.
MANNdat: Andreas und Sven, wir danken Ihnen, dass Sie für dieses Interview zur Verfügung stehen. Können Sie sich kurz vorstellen?
Sven: Ich studiere Rechtswissenschaften. Außerdem berate ich ehrenamtlich Eltern, die durch einen Arztbesuch mit dem Thema Vorhautverengung konfrontiert wurden und nach Alternativen zur vorgeschlagenen Behandlung suchen.
Andreas: Ich bin 36 Jahre alt und Ingenieur.
Wann und weshalb wurden Sie beschnitten?
Andreas: Mit 5 Jahren wegen einer nicht zurückschiebbaren Vorhaut. Ich nenne es absichtlich nicht Phimose, weil ich mir nicht sicher bis, ob das im Alter von 5 Jahren wirklich schon einen behandlungsbedürftigen Zustand darstellt.
Und wann und warum war Ihre Beschneidung, Sven?
Sven: Da war ich 14 Jahre alt. Grund war, dass meine Mutter im Wartezimmer einer Arztpraxis in einer Frauenzeitschrift gelesen hat, dass Jungen angeblich häufig ein Problem haben, nämlich eine Vorhautverengung. Die Fachbezeichnung ist Phimose. Im Alter von 2 Jahren hatte ich tatsächlich eine, das ist jedoch vollkommen normal. In meinen medizinischen Unterlagen war damals nie wieder so etwas dokumentiert und zu dem Eintrag kam es wohl auch nur, weil der Arzt damals nicht rechnen konnte und mich für 3 Jahre alt gehalten hat. Für 2jährige Jungen gehörte das überhaupt nicht zum Untersuchungsprogramm der Vorsorgeuntersuchung und wurde handschriftlich hinzugefügt.
Die Beschreibung in dieser Zeitschrift, die ich damals auch selbst gelesen hatte, war allerdings vollkommen diffus. Der Junge hatte irgendein nicht näher erklärtes Problem, ein „kleiner Eingriff“ namens Phimose-Operation hat ihm geholfen und er war hinterher absolut froh, später keine Probleme mehr zu haben. Und wer will das nicht für sich bzw. seinen Sohn, also später kein Problem haben.
Sven, haben Ihre Eltern Sie damals aufgeklärt über die Beschneidung, bzw. wurden Sie in die Entscheidung mit einbezogen?
Ja und nein. Von Beschneidung war nie die Rede. Ich habe selbst ein Gespräch mit einem Arzt geführt und ihm klargemacht, dass mehr als die überstehende Haut nicht entfernt werden soll. Das hat er auch so hingenommen, meinen Eltern wohl jedoch eingeredet, dass das, was ich da angeblich hätte, zu Krebs führen könnte. Allerdings wollte ich von ihm ohnehin nicht operiert werden, da er nur in einem katholischen Krankenhaus ein paar Belegbetten hatte. Da ich nicht religiös war, wollte ich dort nicht hin. In dem Krankenhaus, wo ich dann operiert wurde, war dann davon keine Rede mehr.
Meine Eltern sind im Traum nicht davon ausgegangen, dass ich „beschnitten“ werde, also meine gesamte Vorhaut weg soll. Auf dem Einwilligungsformular hat meine Mutter jedoch genau das unterschrieben. Allerdings konnte ich das nur mit einer Lupe entziffern.
Glauben Sie, dass die medizinische Indikation damals bei Ihnen gerechtfertigt war, Sven?
Sven: Das ist eine gute Frage. Ich habe sehr erhebliche Zweifel daran, ob es bei mir eine medizinische Indikation auch nur im Ansatz gegeben hat. Ich war ja 14 und hab ziemlich klare Erinnerungen daran, dass meine Vorhaut schmerzfrei zurückziehbar war.
Und wurden Sie vorher gefragt, Andreas?
Andreas: Gefragt wurde ich nicht wirklich. Ich war, glaube ich, vorher mal in Behandlung wegen einer noch angewachsenen Vorhaut. Das wurde wohl mit einer Sonde gelöst. Ich weiß noch, dass es ziemlich schmerzhaft war. Und etwas später sagte wohl mein Vater irgendwas zu mir, dass ich immer schön versuchen solle die Haut nach hinten zu ziehen, weil das wichtig sei. Ich hab das wahrscheinlich ignoriert. Im Vorfeld der OP wurde wohl eher beschwichtigt, dass das alles nicht schlimm sei und so weiter.
Wie viel Verständnis oder Unverständnis erleben Sie, wenn Sie sich als Betroffener in der Öffentlichkeit kritisch zu Beschneidung bei Jungen positionieren?
Andreas: Im Sportverein, auf Arbeit und auch im Bekanntenkreis wurde das Urteil diskutiert. Und zu meiner großen Freude trifft das Urteil weitgehend auf Zustimmung. Nur wenige Stimmen bagatellisieren die Beschneidung als vollkommen harmlos. Wobei nur im Sportverein bekannt ist, dass ich „betroffen“ bin.
Und wie ist es bei Ihnen, Sven?
Sven: Ich habe vor einiger Zeit mal einen Vortrag vor Schülern eines Abendgymnasiums gehalten, da ging es um die routinemäßige Beschneidung von männlichen Säuglingen nach der Geburt. Die Zuhörer waren sehr interessiert, haben jedoch erklärt, dass schon der Gedanke an so etwas in ihnen Schmerzen verursacht. Sie haben es auch nicht für möglich gehalten, dass Eltern ihren kleinen Kindern so etwas antun.
Die Bevölkerung begrüßt ja auch im Gegensatz zu Politik und dem Großteil der Medien mehrheitlich das Kölner Beschneidungsurteil. Von was wird überhaupt geredet? Wie wurde bei Ihnen die Beschneidung durchgeführt?
Sven: Die Operation selbst verlief in Vollnarkose. Daher habe ich von dem eigentlichen Eingriff nichts mitbekommen. Anhand des OP-Protokolls kann ich aber ziemlich genau nachvollziehen, was da gemacht wurde.
Vorbereitend gab es eine Spritze in den Allerwertesten, die eigentliche Narkose dann über eine Atemmaske. Vor der Operation habe ich zwei Spritzen in die Peniswurzel bekommen. Eine Einstichstelle kann ich heute noch ertasten.
Als nächstes werden die Blutgefäße, die durch die Haut des Penisschaftes zur Vorhaut führen abgeklemmt, die Vorhaut auf der Oberseite bis etwa zum Ende der Eichel eingeschnitten und dann rundherum abgeschnitten. Deswegen spricht man lateinisch auch von einer Zirkumzision, also einer Umschneidung. Zum Schluss wird dann der verbliebene kleine Rest der inneren Vorhaut an die Schafthaut genäht und der Rest des Penisbändchens auf der Rückseite der Eichel festgenäht. Hierbei muss der Blut nur so aus mir herausgespritzt sein, wie ich an diversen Blutflecken auf meinem Unterkörper anschließend erkennen konnte. Aufgewacht bin ich dann einige Zeit später im Aufwachzimmer zwischen verwirrten alten Frauen.
Andreas: Auch bei mir war’s unter Vollnarkose. Da spürt man i.d.R. nichts. Über den unmittelbaren Verlauf kann ich (zum Glück) nichts berichten.
Hatten Sie nach der Operation Schmerzen, Andreas?
Andreas: Die ersten Minuten nach dem Aufwachen sind unangenehm. Man fühlt sich taub und dann kommt das Brennen und ich erinnere mich daran, dass ich ganz dringend auf die Toilette musste, aber nicht durfte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hat dann eine Krankenschwester den Verband recht unsanft (und schmerzhaft) entfernt und ich durfte endlich. Wobei das auch nicht angenehm war, weil es wiederum sehr weh tat und auch blutete. Die Wunde selbst tut einige Tage weh. Auch das Ziehen der Fäden (meist dann ohne Narkose) schmerzt.
Um das, worüber wir reden, besser verstehen zu können, verweisen wir auf ein Internetvideo, das eine Beschneidung zeigt. Es ist unter http://vimeo.com/22940047 zu sehen – und zu hören. Es ist aber nichts für zart besaitete Gemüter. Sven, können Sie etwas zu der Beschneidung im Video sagen?
Sven: Es zeigt eine „routinemäßige“ Beschneidung eines Säuglings aus den USA, vermutlich nicht aus religiösen Gründen. Das Baby ist auf einer Plastikschale festgeschnallt und kann dadurch weder Arme noch Beine bewegen. Eine ausreichende Betäubung findet – offensichtlich – nicht statt. Bei ca. 40 Sekunden ist zu sehen, wie die Vorhaut von der Eichel getrennt wird. Dies ist für sich genommen häufig schon recht schmerzhaft. Bei 1:50 wird dann die Vorhaut auf der Oberseite eingeschnitten, was ebenfalls sehr schmerzhaft ist. Im weiteren Verlauf wird die Vorhaut mit Hilfe einer GOMCO-Beschneidungsklemme entfernt und die verbleibenden Hautreste werden aufeinander gepresst.
Das Originalvideo dauert gut 13 Minuten und soll dabei auch die Schmerzausschaltung zeigen. Es würde allerdings allein 10 Minuten dauern, bis das Mittel seine Wirkung entfaltet. Das angebliche Schmerzmittel dürfte in Wirklichkeit nur ein Schutz vor Infektionen sein, wie er üblicherweise vor Operationen auf die Haut aufgebracht wird. Das Baby ist also während des kompletten Eingriffes bei vollem Bewusstsein. Es handelt sich jedenfalls um den „ganz normalen Fall“ einer US-amerikanischen Säuglingsbeschneidung.
Für mich ist das ein sehr verstörendes Videodokument. Aber ich denke, viele wissen gar nicht, dass eine Beschneidung so abläuft. Bei der öffentlichen Debatte geht es ja primär um religiöse Beschneidungen. Sven, gibt es da Unterschiede bei religiösen Beschneidungstechniken? Wie sehen diese aus?
Sven: Es gibt allgemein ganz unterschiedliche Techniken. In den USA und in Asien werden zumeist verschiedene Klemmen als Hilfsmitteln eingesetzt. Dort gibt es eine regelrechte Beschneidungsindustrie. Selbst Vorrichtungen, die elektrisch arbeiten und die Haut quasi wegbrennen, werden eingesetzt. Viele von diesen Geräten sind allerdings so konstruiert, dass sie bei Jungen mit einer echten Vorhautverengung nicht eingesetzt werden können, weil die Vorhaut schlicht zu eng ist, um das Gerät unter der Vorhaut platzieren zu können. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Beschneidung aus religiösen Gründen erfolgt, sie die Folge von Prüderie ist, wie in den USA, oder ob sie im Einzelfall doch aus gesundheitlichen Gründen erfolgt.
Was meinen Sie mit „Folge von Prüderie“ und wie kam es zur Beschneidungswelle in den USA?
Sven: Etwa Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts glaubten Mediziner, mit der Beschneidung verschiedene Krankheiten heilen zu können bzw. verschiedenen Krankheiten vorbeugen zu können. Dieser Glaube war in Europa und den USA durchaus weit verbreitet. Auch die Selbstbefriedigung wurde als krankhaftes Verhalten angesehen.
Selbst in meiner Jugend hat man noch mit einer Rückenmarkserweichung beim Masturbieren gemahnt. Beschneidung diente also weniger dem Zweck der körperlichen Hygiene, sondern der Moralhygiene?
Sven: Ja, genau. Hinzu kam teilweise auch die Annahme, dass eine lange Vorhaut gesundheitliche Probleme verursachen würde. Mit der Zeit wurden immer neue Gründe erfunden, die für die routinemäßige Beschneidung von Babys sprechen sollten, etwa Kampf gegen Krebs, später gegen Harnwegsinfektionen, zuletzt sollte die Beschneidung angeblich vor HIV schützen. Der Erfolg war allerdings jeweils allenfalls bescheiden.
Das ging letztlich so weit, dass Krankenversicherungen in den USA noch bis in die 1950er Jahre auch die Verstümmelung von Mädchen mittels Säure bezahlt haben, das alleinige Ziel solcher Eingriffe bei Jungen und Mädchen war das Verhindern oder Erschweren von Selbstbefriedigung. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, aus einem alten Urologie-Lehrbuch aus den USA zu zitieren:
„Eltern erkennen die Wichtigkeit von lokaler Reinlichkeit und genitaler Hygiene bei ihren Kindern bereitwillig an und sind gewöhnlich bereit Maßnahmen zu ergreifen, welche die Masturbation verhindern können. Aus diesem Gründen wird gewöhnlich zur Beschneidung geraten.“
Das war 1970 und auch in populärwissenschaftlicher Literatur dieser Zeit wurde die Beschneidung von Jungen der (moralischen?) Sauberkeit wegen empfohlen.
Einer der Autoren eines in den USA sehr weit verbreiteten Buches über Kindergesundheit, Herr Dr. Benjamin Spock, hat sich 1989 für seine ursprüngliche Meinung zu diesem Thema öffentlich entschuldigt. Die Neuauflage seines Buches, das von anderen Autoren weitergeführt wird, enthält jedoch immer noch halbherzige Hinweise darauf, dass die Eltern doch bitte selbst entscheiden mögen.
Viele amerikanische Jungen und Männer können sich, da sehr viel Haut entfernt wurde, nur noch mit Hilfsmitteln selbst befriedigen. Selbst normaler Geschlechtsverkehr ist häufig nur mit Gleitmitteln möglich. Da die Beschneidung von vielen Männern lange Zeit nicht hinterfragt wurde und der Glaube an irgendwelche medizinischen Vorteile tief verwurzelt ist, ist dieses Problem mit allen seinen negativen Konsequenzen von Generation zu Generation weitergegeben worden.
Trotzdem heißt es auch heute immer wieder, Beschneidung von Jungen hätte positive Auswirkungen auf die Gesundheit. So propagiert sogar die WHO völlig undifferenziert Beschneidung von Jungen als Mittel gegen AIDS und in der Presse wird Beschneidung quasi als Wundermittel gegen Peniskrebs dargestellt. Als Vater eines unbeschnittenen Jungen bekommt man da fast ein schlechtes Gewissen. Ist Beschneidung von Jungen wirklich gesundheitsfördernd?
Sven: Ganz klar nein. Die Faktenlage ist eigentlich eindeutig. Die WHO bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Studien aus Afrika, die allerdings frühzeitig abgebrochen wurden.
Da wurden zwei Vergleichsgruppen gegenübergestellt, in beiden Gruppen ist die Teilnehmerzahl im Laufe der Zeit immer kleiner geworden. Auch wurde beschrieben, dass den Studienteilnehmern erklärt worden sein soll, dass die Beschneidung allein nicht vor HIV schütze, sondern dass Kondome angewendet werden sollten. Es spricht also viel dafür, dass gerade in der Gruppe der beschnittenen Männer vermehrt Kondome eingesetzt wurden.
Für mich ist allerdings noch eine ganz andere Lehre aus den Studien zu ziehen: Je später die Studie abgebrochen wurde, desto geringer war der Effekt. Das ließe sich auch damit erklären, dass beschnittene Männer sich während der Heilungsphase nach der Beschneidung nicht auf sexuelle Kontakte einlassen.
Zudem wird bei den Nichtbeschnittenen nicht unterschieden zwischen Leuten mit und ohne umfassender Genitalhygiene. Wenn die gleichen Effekte auch bloß mit Wasser und Seife erreicht werden können, braucht es keine Beschneidung. Wie Sie darlegten, gibt es quasi eine eigene Historie über die Entwicklung der Begründungen – um nicht zu sagen der Rechtfertigungen – von Beschneidung, die sich scheinbar immer dem jeweiligen Zeitgeist angepasst haben. Wo kann man sich darüber näher informieren?
Andreas: In dem Buch „Das verletzte Geschlecht“ wird über die Historische Entwicklung in den USA berichtet. Anfang des 20. Jhdts. wurde der Beschneidung nachgesagt, dass sie gegen Geisteskrankheiten wie „Schwachsinn“ oder „Zappelphilippsyndrom“ helfen würde. 20 Jahre später hielt man das für absurd. In den 50er Jahren war Beschneidung gut gegen „widernatürliche Masturbation“. 20 Jahre später wunderte man sich über die Spießigkeit.
In den 90er Jahren war es dann der Peniskrebs. Nur muss man wissen, dass die Raten in den USA (damals noch nahezu komplett beschnitten) und Europa (nahezu unbeschnitten) kaum unterschiedlich waren. Und die Fallanzahl ist verschwindend gering. Also wieder eine Legende.
Und bei HIV ist es heute nicht anders. Eine Beschneidung bietet nur insofern einen geringen Schutz, dass die ehemalige Schleimhaut der Eichel nun mit einer deutlich dickeren Hautschicht versehen ist. Eine Ansteckung über diesen Weg wird unwahrscheinlicher. Aber nicht ausgeschlossen! Wirklich nennenswerten Schutz bietet da nur ein Kondom.
Und man darf in der Debatte um Baby- und Knabenbeschneidung nicht vergessen: HIV-Übertragung bei Geschlechtsverkehr ist im Alter von 4-5 Jahren sicher kein Thema. Genauso wenig Peniskrebs, der meist in sehr hohem Alter erst auftritt.
Ja, Peniskrebs tritt selten und meist nach 50 oder 60 auf, so dass eine Beschneidung im Kindesalter aus Gründen der Krebsvorsorge ohnehin Unsinn wäre.
Sven: Wie man es also dreht und wendet, es rechtfertigt jedenfalls nicht die Beschneidung von Babies und Kindern.
Andreas: Als Vater, der sein Kind intakt lässt muss man also garantiert kein schlechtes Gewissen haben.
Die Befürworter von Jungenbeschneidung betonen, dass es keine negativen Folgen für die beschnittenen hätte. Haben Sie persönlich negative psychische oder physische Beeinträchtigungen durch die Beschneidung erfahren und wenn ja, welche sind dies?
Sven: Nun, als ich das Ergebnis gesehen habe, dachte ich, mich trifft der Schlag. Das war in der Tat für sich genommen schon eine traumatische Erfahrung. Alles war extrem geschwollen, geradezu aufgedunsen. Um es kurz zu machen, es sah meinem Penis, wie ich ihn vorher kannte, überhaupt nicht mehr ähnlich und die folgenden Nächte habe ich nur als sehr traurig in Erinnerung.
Als Langzeitfolge kann ich bestätigen, dass meine Eichel kaum noch berührungsempfindlich ist. Im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen im Canisius-Kolleg in Berlin habe ich auf den Internetseiten des Tagesspiegels einen Bericht gelesen, wo ein Junge, der ebenfalls aus angeblich gesundheitlichen Gründen beschnitten werden sollte, gezwungen wurde, Industriealkohol auf seine Eichel zu tropfen. Der Junge hatte dann rasende Schmerzen. Ich habe das dann aus Interesse ebenfalls mal ausprobiert und überhaupt nichts gespürt, außer dass es feucht und kalt war.
Wie ist das bei Ihnen, Andreas?
Andreas: In der Schule war mir das immer total unangenehm, wenn ich mich vor anderen ausziehen musste. Sportunterricht (duschen – zum Glück gab es in den meisten Schulen keine), Schul-Schwimmen (wieder duschen, da aber jedes Mal), Besuch im Schwimmbad mit Freunden oder auf Klassenfahrten. Ich kam mir immer total bloßgestellt, entblößt, vor. Ich hab es immer vermieden, dass andere das sehen. Mich selbst hat man zwar nicht gemobbt deswegen, jedoch einen meiner Mitschüler, der in der 4. oder 5. Klasse beschnitten wurde. Physisch hab ich mit etwa 30 Jahren bemerkt, dass die Empfindlichkeit der Eichel extrem gering geworden ist.
Wie haben Sie das festgestellt?
Andreas: Zur Verdeutlichung wie gering: Mit einer Zahnbürste über die Eichel zu bürsten war nicht das geringste Problem!
Das ist sehr heftig. Die Empfindlichkeit der Eichel wird also sehr stark reduziert. Gibt es Zahlen für die Komplikationsrate bei Beschneidung von Jungen?
Sven: Die Deutsche Gesellschaft für Urologie nennt wohl Zahlen von ca. 5 Prozent. Zumeist Nachblutungen, wie bei dem Fall aus Köln, der auch ganz anders hätte enden können. Wäre der Junge noch kleiner, hätte schon recht wenig Blutverlust zum Verbluten geführt.
Andreas: Ich kenne keine „gerichtsfeste“ Statistik. Aber alleine in den USA sterben meines Wissens pro Jahr ca. 100 Jungen an den Folgen der OP. Bei ca. 4 Mio. Geburten im Jahr, davon 2 Mio. Jungen, einer Beschneidungsrate von ca. 50% sind das also 100 Tote auf 1 Mio. Operationen. Also einer von 10.000!
Da sind mehr oder weniger katastrophale Komplikationen noch nicht dabei: teilweise oder komplett abgetrennte Penisse, mehr oder weniger umfangreiche Wundentzündungen, zu „straffe“ oder „schiefe“ Beschneidungen oder Hautbrücken.
Sven: Es gibt mindestens einen Todesfall in Deutschland, und in einem weiteren Fall ist ein Junge seit der Beschneidung stark hirngeschädigt und ein Pflegefall.
Ja, den tragischen Tod des kleinen Franjo aus Hamburg. Eine im Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Hamburg tätige Medizinerin hatte dem Jungen nach einer Vorhaut-OP im August 2006 eine falsche Infusionslösung verabreichen lassen. Daraufhin kam es zu einer absoluten Überzuckerung des Körpers des Kindes mit der Folge eines daraus entstehenden Hirnödems und auf Grund dieses Hirnödems ist es verstorben. Auf sternenkind.bplaced.net kann man die Schilderung des Falles aus Sicht der Mutter nachlesen.
Sven: Dem Jungen, der zum Pflegefall wurde, wurde übrigens eine Überdosis Narkosemittel in den Penis gespritzt, was zu einer Hirnschädigung führte.
Ich denke, jedem Nichtmediziner – auch jedem Politiker – muss klar sein, dass es keinen operativen Eingriff und keine Narkose gibt, bei denen man zu 100% Komplikationen ausschließen kann. Das heißt, die Politiker/innen, die die Beschneidung bei minderjährigen Jungen legalisieren wollen, nehmen eine bestimmte Anzahl von Jungen in Kauf, bei denen es Komplikationen geben kann. Hatten Sie Anlaufstellen oder Ansprechpartner, die Sie persönlich bei ihren Anliegen unterstützt haben, die Ihnen geholfen haben?
Sven: Nein. Jahre später war ich damit zwar beim Anwalt, aber der konnte mir halt auch nur sagen, dass die Sache verjährt ist, ich aber, wenn sie nicht so lange her gewesen wäre, gute Chancen auf ein Schmerzensgeld gehabt hätte.
Andreas, haben Sie sich schon einmal mit jemanden mit Ihren Erfahrungen und Fragen über Ihre Beschneidung ausgetauscht?
Andreas: Im Internet habe ich vor ca. 10 Jahren mit einem anderen Mann gechattet. Wie wir in Kontakt kamen, weiß ich nicht mehr. Er hat mich zumindest in der Ansicht bestärkt, dass es nicht in Ordnung war, was damals gemacht wurde.
Über www.phimose-info.de habe ich gelernt, dass es in der Entwicklung ganz normal ist, wenn die Vorhaut bei einem 5jährigen noch eng oder gar angewachsenen ist. Das war damals wohl noch nicht ganz so bekannt, obwohl es eigentlich durchaus logisch erscheint.
Letztendlich habe ich auf www.restoring-foreskin.org gelernt, dass eine Beschneidung nicht endgültig sein muss. Haut, wenn man sie unter Zug setzt, wächst. Also kann man auch die Haut des Penis zum Wachsen bringen/zwingen. Gibt zwar keine richtige Vorhaut, aber zumindest einen neuen Schutzmantel für die Eichel.
Sie erwähnten ja schon den Sensibilitätsverlust der Eichel durch Beschneidung, Andreas. Oft wird jedoch behauptet, die Vorhaut hätte keine maßgebliche Funktion. Ist das richtig?
Andreas: Nein, ist es nicht.
Sven: Die Hauptfunktionen sind, dass sie eine Hautreserve für den Fall der Erektion sind und die Eichel vor ständiger Reizung schützen. Sie hat sicherlich noch weitere Funktionen, die zum Teil sicherlich auch noch nicht erforscht sind.
Andreas: Die Vorhaut hat mehrere Aufgaben:
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Schutz der Schleimhaut der Eichel vor äußeren Einflüssen. Fehlt sie, trocknet die Eichel aus und „verhornt“. Das führt zu einem mehr oder weniger deutlichen Empfindlichkeitsverlust.
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Die Innenseite der Vorhaut hat extrem viele Nerven – in etwa wie die Fingerspitze. Damit ist sie nicht weniger empfindlich als die Eichel. Meist wird von diesem Gewebe ein großer Teil entfernt. Bei einer Beschneidung werden übrigens rund 50% der Haut des Penis entfernt.
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Die Vorhaut unterstützt das Gleiten des Penis beim Geschlechtsverkehr, indem sie sich auf- und abrollt.
Gibt es bei Phimose Alternativen zur Beschneidung von Jungen?
Sven: Eindeutig ja. Mir ist eine Studie der Universität Münster bekannt. Da wurde den Eltern von etwas mehr als 100 Jungen, die mit der Diagnose Phimose ins Krankenhaus überwiesen wurde angeboten, vor einer Beschneidung alle denkbaren Alternativen auszuprobieren. Kein einziger der über 100 Jungen wurde am Ende beschnitten. Als Alternativen wurde die manuelle Lösung von Vorhautverklebungen, Salbenbehandlungen und wohl in 2 Fällen eine vorhauterhaltende Operation durchgeführt, bei der nichts abgeschnitten wurde.
Andreas: Wie oben erwähnt, wächst Haut, wenn man sie unter Zug setzt. Daher platzen dicke Menschen ja auch nicht, sondern kriegen einfach mehr Haut. Einem Jungen ist sicher schnell erklärt, wie und wo er ziehen muss, wenn er reif genug dafür ist. Ggf. gibt es da sogar Cremes, die das Hautwachstum fördern. Und letztendlich gibt es auch kosmetische Operationen, die die Vorhaut weitgehend erhalten.
Die Diskussion um religiöse Beschneidungen wird dadurch erschwert, dass das Verhältnis von Judentum zu Deutschland immer noch sehr belastet ist. Auch die Gleichberechtigung des Islam als Religion in Deutschland ist immer wieder Ursache heftiger Debatten. Kritiker von Beschneidungen werden deshalb manchmal kurzerhand als antisemitisch oder islamfeindlich diffamiert, um sich deren Argumenten nicht stellen zu müssen. Wäre ohne Beschneidung Judentum oder auch Islam aber wirklich unmöglich, wie manche behaupten?
Sven: Das Landgericht Köln hat ja nicht pauschal religiös motivierte Beschneidungen an Kindern verboten, sondern es bezieht sich lediglich auf die Frage, ob ein Arzt in seinem Handeln gerechtfertigt sein kann, wenn ihm lediglich die Einwilligung der Eltern vorliegt, diese aber erkennbar nicht dem Kindeswohl entspricht.
Andreas: Bei Moslems gibt es sowieso keine fest vorgeschriebene Zeit. Bei Juden gibt es auch entsprechende Ansätze, die Beschneidung nur symbolisch auszuführen und, wer dann will, kann sie später nachholen.
Der ehemalige Moslem Ali Utlu sagt dazu:
„Die Beschneidung ist im Islam nicht unumstritten. Denn im Islam ist die Beschneidung kein Muss. Es ist eine Tradition, im Koran steht das aber nicht als Pflicht, es wird nicht mal erwähnt. …Wenn jemand krank ist, zum Beispiel Bluter, wird die Beschneidung problemlos ausgesetzt.“
Sven: Soweit ich weiß, ist auch nur ein geringer Teil der männlichen Juden, die in Deutschland wohnen, überhaupt beschnitten. Die Mehrheit der jüdischen Mitbürger zeigt also, dass jüdisches Leben ganz problemlos möglich ist.
Andreas: Die englische Wikipedia schreibt übrigens:
„However important it may be, circumcision is not a sacrament, unlike a Christian baptism. Circumcision does not affect a Jew’s Jewish status. A Jew by birth is a full Jew, even if not circumcised.“
Jude ist also, wer als Sohn oder Tochter einer Jüdin geboren ist und nicht, wer beschnitten wurde.
Andreas: Im Übrigen sind auch weibliche Menschen Angehörige der Glaubensrichtung, ohne dass man da etwas ab operieren würde. Und um noch ein wenig polemisch zu werden: Mir ist kein Ritual in diesen Religionen bekannt, das einen „Penisvergleich“ beinhaltet.
Gäbe es Kompromisse und wie könnte diese aussehen?
Sven: Da im Islam kein Alter vorgeschrieben ist, zu dem diese Operation durchgeführt sein muss, kann ich überhaupt kein Problem erkennen, warum nicht gewartet werden kann, bis ein junger Mann diese Entscheidung für sich selbst treffen kann. Eine Einwilligungsfähigkeit ist in der Regel ja nicht erst mit 18 Jahren gegeben, sondern schon lange vorher. Und wenn beispielsweise ein 15jähriger muslimischer Junge nach entsprechender Risikoaufklärung zu dem Ergebnis kommt, dass er sich an seinem Penis operieren lassen möchte, dann kann er das gerne tun.
Andreas: Man könnte vielleicht in einem Moratorium für eine vorher festgelegte Zeit die Strafverfolgung aussetzen, wenn man glaubhaft nach Alternativen sucht.
Die Koalitionsparteien wollten laut Koalitionsvertrag 2009 Jungen neue Wege zu ihrem Rollenverständnis eröffnen. Und auch die Oppositionspolitiker/innen sind schnell dabei, Jungen zu kritisieren, dass sie bislang zu wenig offen wären für neue, gewaltfreie Lebenswege. Jetzt sind es genau die gleichen Politiker/innen, die auf einmal argumentieren, Beschneidung wäre völlig in Ordnung weil dies ja schon seit Tausenden von Jahren gemacht wird und deshalb auch weiterhin so gemacht werden sollte. Haben Sie zu solchen Politiker/innen, die je nach Bedarf ihre Meinung ändern, Vertrauen?
Sven: Nein, spätestens durch die vollkommen überhastete Resolution hat die Politik den letzten Kredit verspielt. Diese Politiker haben sich erkennbar nicht einmal die Mühe gemacht, sich halbwegs mit der Materie zu beschäftigen. In meinen Augen war das ein vollkommen würdeloses Affentheater.
Das sind sehr deutliche Worte, aus denen Ihre Enttäuschung über das Verhalten der Politiker/innen plastisch wird. Wie ist es bei Ihnen, Andreas? Haben Sie noch Vertrauen zu solchen Politikern?
Andreas: Definitiv nicht. Insbesondere Personen wie Volker Beck, die sich selbst gern als Menschenrechtler feiern lassen, begeben sich auf sehr dünnes Eis, wenn sie mit dem „Argument“ daher kommen, dass die Bibel so etwas eben verlangt. Man (und insbesondere er) sollte(n) nicht vergessen, dass in der Bibel durchaus auch andere Menschenrechte in Frage gestellt werden, bei denen hierzulande (zum Glück) ein breiter Konsens besteht, dass diese nicht angetastet werden.
Humanität besteht darin, dass nie ein Mensch einem Zweck geopfert wird, sagte Albert Schweizer. Im Bundestag sitzen leider keine Albert Schweizer. Sich als Menschenrechtler auszugeben, aber bei der erst besten Gelegenheit Jungen aus rituellen Gründen ans Messer zu liefern und sich dann noch als Opfer fühlen, weil man für diesen Widerspruch kritisiert wird, ist ein Paradebeispiel für Doppelmoral.
Andreas: Ganz schlimm war die Bundestagsresolution. Ich weiß nicht, was diese übereilte Handlung veranlasst hat. Vielleicht war es Effekthascherei, vielleicht geschickte Lobbyarbeit. Ich tippe auf ersteres. Vielleicht sahen die Politiker eine Gelegenheit, sich tatkräftig zu zeigen und ein Thema aufzugreifen, wo es nur Pluspunkte zu holen gäbe. Immerhin haben Vertreter aller Religionen (auch der christlichen!) das Urteil kritisiert.
Überraschender- und glücklicherweise gibt es in der Bevölkerung eine deutliche Mehrheit gegen Gewalt an Kindern. Und das, obwohl Medien, wie beispielsweise die Tagesschau, fast ausschließlich Urteilskritikern eine Bühne bereitet haben und den Eingriff bagatellisierten.
Ja, es fällt auf, dass Betroffene, die sich negativ zu religiösen Beschneidungen äußern, wie z.B. der ehemalige Moslem Ali Utlu, der seine eigene Beschneidung als „schlimmsten Moment seines Lebens“ beschreibt, in den Medien kaum zu Wort kommen.
Muten die politisch Verantwortlichen trotz ihrer Lippenbekenntnisse Jungen immer noch mehr Gewalt zu als Mädchen? Wird Gewalterfahrung bei Jungen heute immer noch als „normal“ oder als Initiation zur Männlichkeit erforderlich gesehen?
Sven: Ja, offensichtlich. Anders ist nicht zu erklären, dass es erlaubt sein soll, kleinen Jungen auch gegen ihren Willen die Vorhaut zu entfernen. Von religiösen Gründen steht in der Resolution nämlich nichts, lediglich in der Begründung ist die Religion als eine von mehreren Rechtfertigungsgründen genannt. Seinen minderjährigen Sohn aus einer Bierlaune heraus, aus Elternrecht, einfach zum Arzt zu schleppen und ihm auch gegen seinen Willen die Vorhaut abschneiden zu lassen, soll legalisiert werden.
Was erzählen Sie denn einem 12jährigen Jungen, dessen Mutter einen Moslem kennengelernt hat, der von der Mutter verlangt, dass der Sohn beschnitten wird? Wollen Sie ihm ernsthaft sagen, dass er da eh nix gegen machen kann, weil das neuerdings vollkommen normal und legal ist? In der Haut dieses Jungen möchte ich nicht stecken.
Eine sehr interessante Frage, die man den Bundestagsabgeordneten stellen sollte.
Die ausgeprägte Doppelmoral der Politik – Pro Jungenbeschneidung, Contra Mädchenbeschneidung – wird damit begründet, dass Jungenbeschneidung grundsätzlich harmloser wäre. Wir sind der Auffassung, dass beides – Jungenbeschneidung ebenso wie Mädchenbeschneidung – sich zumindest darin gleichen, dass beides ein Gewaltakt an Kindern ist und in beiden Fällen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt wird. Was halten Sie von der unseligen Strategie der Beschneidungsbefürworter/innen, dass hier auf entwürdigende Art und Weise Mädchen und Jungen gegeneinander ausgespielt werden sollen, Sven?
Sven: Die Diskussion ist hier an einem vollkommen absurden Punkt angelangt. Wie bei Jungen gibt es auch bei Mädchen unterschiedliche Beschneidungsrituale, die von sehr radikalen, brutalen Methoden bis hin zu Ersatzritualen reichen. Das geschieht mit der gleichen Begründung wie bei Männern: Religion, Hygiene, Tradition. Bei Mädchen werden aber Ersatzrituale wie das Ansetzen einer Klinge am Kitzler ganz selbstverständlich verboten, gleichzeitig wird das Abreißen der Penisvorhaut von der Eichel, gefolgt vom Abschneiden der Penisvorhaut, bei männlichen Babys als vollkommen normal dargestellt.
Überall dort, wo es die Beschneidung von Frauen oder Mädchen gibt, gibt es auch die Beschneidung von Männern bzw. Jungen. Während die WHO die Beschneidung von Frauen und Mädchen in 4 verschiedene Typen mit jeweils noch weiteren Unterkategorien unterteilt, scheint es bei der Beschneidung von Männern und Jungen vollkommen egal zu sein, was da letztlich gemacht wird. Auch bei Jungen und Männern gibt es in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Praktiken bis hin zum Aufschlitzen der kompletten Penisunterseite bei den Ureinwohnern Australiens.
Aber auch andere Bestandteile der Beschneidungsrituale sind potentiell gefährlich. So versterben in Südafrika jährlich dutzende „Schüler“ von Initiationsschulen, weil sie nach der Beschneidung in die Berge gejagt werden und dort an Blutvergiftungen oder an Verdursten regelrecht verenden. Einer noch größeren Zahl muss am Ende der Penis amputiert werden, da er sich bei dem Ritual entzündet hat.
Die Behauptung Mädchenbeschneidung und Jungenbeschneidung wären zwei völlig verschiedene Dinge, ist also so nicht richtig. Der wesentliche Unterschied besteht wieder einmal darin, dass Mädchen eine Lobby im Bundestag haben, Jungen nicht.
Wie ist es bei Ihnen, Andreas? Wie sehen Sie das Verständnis der Politiker/innen zu den Anliegen von Jungen?
Andreas: Ich habe den Eindruck, die Jungen sind den Politikern einfach egal. Ich war und bin echt entsetzt, mit welcher Unbarmherzigkeit diese „ganz große“ Koalition aus CxU, FDP, SPD und Grünen die Menschenrechte der kleinen Jungs marginalisiert oder vollkommen ausblendet, um Fragen wie dem „internationalem Ansehen“ zu genügen. Wenn die Politik schon in dieser Frage keine Abwägung treffen kann, wenn sie nicht versucht die Schutzlosesten zu schützen, wie viel ist dann dieser Staat wert?
Das ist in der Tat ein sehr wichtiger Aspekt. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit für Mädchen wird über das Menschenrecht auf freie Religionsausübung gestellt. Umgekehrt wird das Menschrecht von Jungen auf körperliche Unversehrtheit dem Menschenrecht auf freie Religionsausübung untergeordnet. Das ist eine klare Diskriminierung von Jungen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden Menschenrechte in Deutschland noch nie so offenkundig geteilt, wie in diesem Fall. Ist Deutschland jungenfeindlich?
Sven: Man muss zugeben, dass Männer und Frauen bzw. Jungen und Mädchen nicht gleich sind. Beim Grundrechtsschutz darf das Geschlecht aber nun wirklich keine Rolle spielen.
Andreas: Nach Art. 1 und Art. 2 des GG dürften persönliche Ansichten (und Religion gehört da dazu) nicht über der Würde sowie der körperlichen und geistigen Integrität eines Menschen stehen. Vor diesem Hintergrund würde (hoffentlich) jedes Gesetz vorm Verfassungsgericht scheitern, was Jungenbeschneidung legalisiert. Die Frage ist, ob es die Politik wirklich darauf ankommen lassen will. Wenn ja, dann ist die Gefahr wirklich groß, dass sie sich (mal wieder) zum Gespött der Leute macht.
Laut Artikel 140 GG gelten übrigens auch noch Artikel der Weimarer Reichsverfassung, die die Religionsfreiheit noch einmal deutlicher darlegen, als Art. 4 es tut.
„Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“
Zur Erläuterung: Artikel 140 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist die wichtigste staatskirchenrechtliche Bestimmung des deutschen Grundgesetzes. Der genaue Wortlaut heißt:
„Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“
Und in Artikel 136 heißt es, wie Andreas bereits erwähnte, u.a.:
„Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“
Sven: Und auch außerhalb dieses Themenkomplexes sehe ich durchaus Benachteiligungen für Jungen gegenüber Mädchen. Beispielsweise kann ich mir nicht erklären, warum Mädchen nachhaltig bessere Schulleistungen erbringen als Jungen.
Nun, da reicht ein Blick auf die Homepage des Bundesbildungsministeriums bzw. des Bildungsservers. Derzeit sind dort mit Stand vom Juni 2012 immerhin 18 reine Mädchenförderprogramme in den Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik, Technik, Informatik aufgelistet, die von den Bildungsministerien mitfinanziert werden. Jungen, die in diesen Bereichen Förderung bräuchten, schauen in die Röhre. Umgekehrt gibt es auf diesen Seiten bis heute kein einziges reines Jungenleseförderprogramm und dies, nachdem die erste PISA-Studie 2000 Jungenleseförderung als wichtigste bildungspolitische Herausforderung formuliert hatte. Das geschlechterspezifische Bildungsgefälle zuungunsten der Jungen ist also kein Zufall, sondern das Ergebnis einer bewusst einseitigen geschlechterspezifischen Förderung. Es ist deshalb nicht zum ersten Mal, dass die Politik ihrer Verantwortung gegenüber Jungen nicht nachkommt. Das wird vielmehr zur Gewohnheit.
Sven, wo können sich Eltern, die in Erwägung ziehen, ihre Kinder aus religiösen Gründen beschneiden zu wollen, fachkundig über Risiken der Beschneidung beraten lassen und Hilfe erwarten?
Sven: Eigentlich müsste jeder Arzt vor einem Eingriff über Risiken aufklären. Ich persönlich würde solche Eltern nicht beraten wollen, da ist die Schnittmenge schlichtweg zu gering. Wer so etwas machen möchte, dem sind Risiken in aller Regel nämlich egal. Dass es nicht gesund sein kann, seinem Sohn ohne medizinische Gründe am Penis herum operieren zu lassen, sollte eigentlich einleuchten.
Und wo können sich Eltern beraten lassen, die darüber nachdenken, ihre Kinder wegen einer Phimose beschneiden lassen zu wollen?
Andreas: Bei einem guten Arzt. Den zu erkennen, ist nicht leicht. Aber in diesem Falle gilt wohl als Faustregel, dass je ablehnender er/sie gegen eine Beschneidung ist, desto besser.
Sven: Auch hier leisten viele Ärzte eine gute Leistung, andere versagen leider schon bei Untersuchungen kläglich und verursachen dabei mehr Schaden als Nutzen.
Aber wie erkennt man einen guten, bzw. schlechten Arzt?
Andreas: Einen schlechten Arzt erkennt man leicht. Da kommen dann so Sprüche wie: „Bis zur Schule muss das funktionieren.“, „Salbenbehandlung funktioniert sowieso nie.“ oder gar „Später wird er Ihnen danken.“
Danke, das sind praktische Lackmustests für betroffene Eltern. Wo gibt es weitere Informationen zum Thema Beschneidungen für Eltern und sonstige Interessierte?
Sven: Auf der Internetseite von Phimose-Info Deutschland finden Eltern viele Informationen aber auch ein Forum, in dem sie sich mit anderen Eltern und mit Betroffenen austauschen können.
Auch sollten Eltern wissen, dass Jungen in aller Regel erst mit gut 10 Jahren Ihre Vorhaut erstmalig vollständig zurückziehen können. Das ist ein Durchschnittswert, der unter-, aber auch überschritten werden kann.
Eine Phimose ist auch keine Krankheit, sie beschreibt lediglich einen Zustand. Einen Zustand, der bei der Geburt bei fast allen Jungen vorhanden ist und sich in der Regel bis zur Pubertät von selbst erledigt.
Sven und Andreas, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.