„Wir müssen die dynamischen Methoden des Kapitalismus nutzen, um Gewinn zu machen – und diese dann auf umso nützlichere und sinnvollere Weise anderen zugute kommen lassen. Aus ethischer wie aus praktischer Sicht ist dies eine der besten Möglichkeiten, gesellschaftliche Veränderungen herbei zu führen.“ Dalai Lama[1]
1 Warum wir dumm werden
- Die Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Probleme, soweit sie aufgrund fundamentaler Widersprüche überhaupt lösbar sind, auch tatsächlich zu lösen, hängt von ihrer kollektiven Bewusstheit ab.
- Die kollektive Bewusstheit der Gesellschaft wird im Wesentlichen durch ihre Fähigkeit zur umfassenden Selbstreflexion auf der kulturellen Ebene bestimmt.
- Die Qualität der gesellschaftlichen Selbstreflexion bestimmt ihre Fähigkeit einer realitätsgerechten, vernünftigen, sinnvollen und ethisch verantwortbaren politischen Zielsetzung und Strategie.
- Ökonomie ist für den Zweck der gesellschaftlichen Reproduktion ein bloßes Mittel. Daher ist ökonomische Theorie nicht weniger, aber auch eben nicht mehr als eine „Logik der Mittel“, deren unbemerkte Dominanz über das gesellschaftliche Bewusstsein einer autonomen und umfassenden Ziel- und Strategiereflexion entgegenwirkt.
- Die ökonomische Theorie ist prinzipiell außerstande, außerökonomische gesellschaftliche Probleme begrifflich angemessen zu erfassen. Sie ist daher auch nicht imstande, Lösungen zu finden. Ökonomische Lösungen sind immer nur Lösungen im Hinblick auf die Beschaffung, Herstellung, Verteilung und Verwendung notwendiger Mittel. Dies ist der Horizont des ökonomischen Denkens.
- Die Dominanz der Ökonomie über die Gesellschaft und damit auch über das gesellschaftliche Bewusstsein wirkt der gesellschaftlichen Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Ziel- und Strategieformulierung entgegen, und zwar unbemerkt. Tendenziell werden wir deshalb kollektiv dumm. Eben dies ist das zentrale Problem.[2]
2 In der gesellschaftlichen Krise
Die bürgerliche Gesellschaft befindet sich gegenwärtig in einer Krise, die sich aus verschiedenen, sich wechselseitig verstärkenden Teilkrisen (der Ökonomie, des Sozialstaats, der Familie und der biologischen Reproduktion, der Kultur und des gesellschaftlichen Bewusstseins, der Politik) ergibt.
Die Krise zu begreifen bedeutet, sie in eine Kritik der Gesellschaft zu überführen. Es handelt sich bei dieser Krise um den Ausdruck tief liegender innerer Widersprüche der Gesellschaft in Verbindung mit besonderen historischen Umständen.
2.1 Ökonomie
Die Ökonomie durchläuft seit mehreren Jahren eine Wachstumskrise, und auch die aktuelle Erholung bleibt schwach. Durch die herrschende neoklassisch-monetaristische Wirtschaftspolitik wird sie nicht nur nicht unterstützt, sondern die an fiktiven Gleichgewichtsmodellen orientierte regelgebundene Geld- und Fiskalpolitik, die einseitig an Preisniveaustabilität orientiert ist, treibt die Ökonomie mittlerweile an den Rand einer Deflationskrise[3]. Sie droht eine langfristige ökonomische Depression einzuleiten; die seit langem beobachtbare ökonomische Entwicklung in Japan ist hierfür ein warnendes Beispiel[4].
Unter den durch die Globalisierung veränderten Randbedingungen – insbesondere der Dominanz der Finanzmärkte – und in Verbindung mit einer machtpolitisch abgesicherten Tabuisierung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird ein Standortwettbewerb betrieben. Dieser bewirkt aufgrund eines bereits mehrere Jahrzehnte anhaltenden massiven Ungleichgewichts am Arbeitsmarkt, welches sich in der Massenarbeitslosigkeit ausdrückt, in der sich nach Osten erweiternden Europäischen Union eine langfristig wirksame Reallohnsenkungstendenz. Sie wird sich voraussichtlich auch gegen die Politik der
„organisierten Arbeit“ (die Gewerkschaften) durchsetzen und damit zugleich einer Zunahme der Konsumgüternachfrage auf dem europäischen Binnenmarkt – und damit eine Erholung des Wachstums von dieser Seite – entgegenwirken.
Da zugleich – auch durch die schwach bleibenden „öffentlichen Investitionen“ (Gemeinden, Länder, Bund) – ein endogener Aufschwung verhindert wird, richten sich alle positiven Wachstumserwartungen auf den außereuropäischen Export. Damit wird die ökonomische Entwicklung der europäischen Wirtschaft aber abhängig von der Dynamik der Märkte in den USA und in Ostasien, von Wechselkursschwankungen und von den Maßnahmen der außereuropäischen Wirtschaftspolitik.
Soweit es zukünftig zu den von der neoliberal – merkantilistischen Wirtschaftspolitik erwarteten exportbedingten Wachstumsimpulsen kommen sollte, wird dennoch eine Erholung wegen der Entkoppelung der Binnenmarktentwicklung von der exportgetriebenen Belebung sowie wegen einer Entkoppelung der finanziellen von der realen, industriellen Akkumulation (d. h. durch die Verselbständigung von Finanzspekulationen) schwach bleiben.
2.2 Demographie und Sozialstaat
Parallel hierzu haben sich in der Gesellschaft nachhaltige und folgenreiche familiäre und demographische Veränderungen vollzogen. Die Familien unterliegen anscheinend einer fortschreitenden Zerfallstendenz. Die Geburtenzahl (Natalität) ist viel zu stark gesunken, die Lebenserwartung ist gestiegen, und die Folge ist eine immer ungünstiger werdende Altersstruktur. Auch durch eine notwendige Zuwanderung (die aber Integrationsprobleme mit sich bringt) kann diese Situation nicht durchgreifend verbessert werden.
Die sich daraus ergebenden zunehmenden Anforderungen an den Sozialstaat (Sozialversicherungs-Systeme und Sozialhilfe) wirken über steigende Brutto-Löhne auf die private Ökonomie ein, die sich im Interesse ihrer Profitabilität und vermittelt über die staatliche Politik zur Wehr setzt, während die betroffenen Lohnabhängigen und Rentner gegenüber der „Politik des Sozialabbaus“ mit Legitimationsentzug reagieren oder auf vermeintliche Alternativen setzen.
Es geht bei dem sogenannten „Umbau des Sozialstaats“ auch um die Abwehr der Kosten der „Wiedervereinigung“ (1989), denn deren Kosten waren durch Belastung der Sozialversicherung zunächst einseitig auf die Arbeiter und Angestellten abgewälzt worden. Auf diese Weise hat sich eine mit der Ökonomie verquickte, spezifisch soziale Krise entwickelt.
2.3 Bewusstsein und Politik
Die immer noch zunehmende Dominanz des ökonomischen Teilsystems der Gesellschaft über das Gesamtsystem hat eine – medial verstärkte – Bewusstseinskrise ausgelöst, die sich in der Dominanz neoliberaler Ideologie und einer entsprechenden Einschränkung von Denk- und Handlungsalternativen für die gesamte Gesellschaft, und daher auch für die Kultur und die Politik, ausdrückt.
Die kulturelle Sphäre, die eigentliche Reflexions- und Bewusstseinssphäre im Hinblick auf das gesellschaftliche Ganze, wird faktisch eingeschränkt und abgewertet. Die herrschende neoliberale Ideologie verstärkt, weil sie die Ideologie der Herrschenden ist, trotz ihres praktischen Versagens ihren Einfluss, und sie beschränkt in gleichem Maße den kulturellen Denkhorizont. Damit ist das gesellschaftliche Potenzial kreativer Problemlösungen einem Schrumpfungsprozess ausgesetzt, während der sich aus der gesellschaftlichen Reproduktionskrise ergebende Problemdruck fortlaufend ansteigt.
Die Bewusstseinskrise und die Erosion der gesellschaftlichen Problemlösungskapazität resultieren unter der Vorherrschaft der Ökonomie aus der Dialektik von verfestigter, internalisierter „Berufsrolle“ (der sogenannten „Charaktermaske“) und „Subjekt“, zwischen denen der Bildungsprozess schwingt. Beide sind identisch und gleichermaßen nichtidentisch. Identisch sind Sie, insofern das menschliche „Subjekt“ im Verlauf des historischen Prozesses (d. h. der Herausbildung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft) seiner jeweiligen
„gesellschaftlichen Formbestimmung“ untergeordnet wird. Aber die menschlichen Subjekte sind und bleiben mit ihren jeweiligen Berufsrollen nichtsdestoweniger auch nicht identisch. Und diese Nichtidentität kann sich als Autonomie und im Grenzfall als Revolte des Subjekts darstellen, wenn, wie z. B. Gauguin gezeigt hat, eine „bürgerliche Existenz“ zugunsten eines Daseins als Künstler aufgegeben wird.
2.4 Subjekt und Gesellschaft
Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Polen ist von erheblicher Bedeutung. Die zunehmende Dominanz der Ökonomie über die Gesellschaft wird als Tendenz zur Kommerzialisierung unmittelbar erfahrbar, und dieser entspricht die – sich als Gebot individueller Klugheit ergebende – Ökonomisierung der individuellen Handlungskalküle. Das tendenziell rational handelnde Subjekt passt sich an die ökonomisch bestimmten Berufsrollen oder „Charaktermasken“ an. Das Subjekt zieht sich aber durch diesen notwendigen Anpassungsprozess gleichsam selbst aus dem ökonomischen Bereich zurück und entfaltet seine Autonomie und sein Potenzial allenfalls außerhalb dessen, z.B. als familiäre „Eigenarbeit“, als „ehrenamtliche“ Tätigkeit, als religiös motivierte Aktivität, als politisches Engagement, als sogenanntes Hobby, usw.
Aber die ökonomische Irrelevanz seines Tuns entwertet das an seine Berufsrolle (oder Charaktermaske) angepasste Subjekt. So wird das Subjekt – schlimmstenfalls – derart geschwächt, dass es sich dem Anspruch der Gesellschaft, d. h. dem Druck der Berufsrolle nicht mehr entgegenstellen kann. Es wird gleichsam absorbiert. Dann aber ist der Verlust der Berufsrolle – z. B. durch Arbeitslosigkeit, durch Konkurs, durch Pensionierung – häufig nicht nur die Erfahrung der sozioökonomischen Entwertung mit dem Gefühl des Selbstwert- Verlustes, sondern konfrontiert außerdem unmittelbar mit der Leere des Subjekts, einer erschreckenden Erfahrung des Nichts oder der Todesnähe, die in Angst und Depression umschlägt. Im Punkt der vollständigen Funktionalisierung des Subjekts durch die Ökonomie ist eine Reflexion außerhalb ökonomischer Kategorien kaum mehr möglich. Das Subjekt
verfügt dann kaum noch über den Ansatzpunkt und die innere Kraft zu dem Widerstand, durch das es sich retten könnte. Daher kommt es darauf an, das Widerstandspotenzial des Subjekts rechtzeitig gegen die Anforderungen und Zumutungen der Ökonomie zu stärken.
2.5 Subjekt und Bildung
Eine wichtige Möglichkeit hierzu liegt in der Bildung. Sie erlangt in einer „Wissensgesellschaft“, in der unqualifizierte Arbeit durch Maschinen ersetzt, in einen Niedriglohnsektor verdrängt oder in Niedriglohnländern verlagert wird, eine auch soziologisch überragende Bedeutung, weil die funktionale Ausbildung massenhaft immer höhere Qualifikationen erfordert. Deren Vermittlung ist unvermeidlich mit Bildungsprozessen verbunden, was denjenigen Interessenvertretern, die eine möglichst weitgehende Funktionalisierung der Ausbildung anstreben, oft gar nicht gefällt.
In diesen Bildungsprozessen liegt die Chance der Produktion eines gesellschaftlichen Überschusses an Bewusstsein, was vielleicht einmal eine Art „kritischer Masse“ erreichen könnte. Aber dieser Prozess muss gegen die Ökonomisierungstendenz behauptet werden. Und einschränkend zu bedenken ist auch, dass dieser mögliche zukünftige Überschuss an Bewusstsein nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für ein politisches Handeln ist, das die Reform der Produktionsverhältnisse zum Gegenstand hat.
Während „Ausbildung“ eine gesellschaftliche Vermittlung von Kompetenzen (Kenntnisse, Fertigkeiten usw.) zur Anpassung an eine bestimmte Berufsrolle („Charaktermaske“) ist, handelt es sich bei „Bildung“ bzw. bei der Ingangsetzung und Förderung von Bildungsprozessen darum, das Subjekt zu befähigen, verschiedene gesellschaftliche Rollen zu übernehmen und dabei dennoch fähig zu bleiben, stets die Distanz zur jeweiligen Berufsrolle aufrechtzuerhalten und darüber hinaus fähig zu bleiben, sich von diesen Rollen zu
distanzieren und – falls nötig – aus ihnen herauszutreten und autonom zu handeln. Eine gebildete Person ist daher primär nicht durch funktionale Leistung, sondern durch die Fähigkeit gekennzeichnet, trotz eines funktional erfolgreichen Adaptationsprozesses die strukturelle Vorherrschaft des Subjekts gegenüber den jeweiligen Berufsrollen („Charaktermasken“) zu behaupten und damit seine Autonomie als Subjekt zu wahren.
Dies muss aber innerhalb des Bildungssystems gegen die Ökonomisierungstendenz, der es unterworfen ist, erst durchgesetzt werden, weil diese Tendenz – wie derzeit im Hochschulbereich beobachtbar – dazu führt, immer weniger zu „bilden“ und immer mehr „auszubilden“, und d. h. für nützliche Funktionen abzurichten. Die derzeitige neoliberal inspirierte Ökonomisierung der Hochschulen ist ein rückschrittliches und blindes Moment der gesellschaftlichen Verdummung.
2.6 Gesellschaftliches Bewusstsein und Politik
Aus diesen ökonomischen, soziologischen und bewusstseinsmäßigen Aspekten ergibt sich die derzeitige Krise der Politik,die zwar versucht, systemische Veränderungen als Strategie von Reform unter dem Leitbegriff der Modernisierung zu kommunizieren, aber als Konsequenz der gesellschaftlichen Bewusstseinskrise (bisher) nicht in der Lage ist, im Denken und im Handeln den aufgeherrschten neoliberalen Ökonomismus analytisch und konzeptionell zu überwinden.
Die Politik reagiert auf die gesellschaftliche Krise in ihrem Selbstverständnis pragmatisch, tatsächlich aber ohne hinreichende Analysen und konzeptionelle Vorstellungen und mit aktionistischem Handeln, und sie laviert dabei zwischen unterschiedlich mächtigen gesellschaftlichen Partialinteressen, bleibt damit aber weithin unter dem Niveau der Probleme. Das entscheidende Problem liegt darin, dass die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht thematisiert werden dürfen. Dies gilt auch, soweit die Politik auf die ökonomischen und sozialstaatlichen Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Krise mit einer Reformstrategie unter dem Leitbegriff der „Modernisierung“ strategisch zu reagieren versucht.
Reformen werden heute als „Modernisierung“ bezeichnet. Eine Analyse der Modernisierungsprojekte auf verschiedenen Politikgebieten zeigt aber, dass sie eine Form der „Amerikanisierung“, der Privatisierung des staatlichen Handelns überhaupt und auch des Rückbaus des Sozialstaats darstellen. Die Notwendigkeit und Sinn werden aber nicht rational begründet und diskursiv vermittelt, sondern interessengetrieben und medial aufgerüstet kampagneförmig durchgesetzt. Zum ersten kann dies als Ausdruck der kulturellen Hegemonie der USA begriffen werden, zum zweiten als Folge der Tabuisierung der zentralen Verteilungsfrage, und zum dritten als Verlust originärer analytischer und konzeptioneller Kompetenzen.
Die parteipolitischen Programmatiken beziehen sich auf Ideologien, insbesondere den Neoliberalismus, bleiben analytisch-konzeptionell aber weitgehend fundleer. Während die Unionsparteien den Neoliberalismus modernistisch und konservativ interpretieren, versteht die Sozialdemokratie den Neoliberalismus als „Sachzwang“, der durch Herstellung relativer sozialer Gerechtigkeit (praktisch nur innerhalb der Gesamtheit der Lohnabhängigen) zu korrigieren ist. Und die Grünen betonen die ökonomischen Effekte ökologischer Politik, während die Freien Demokraten sich als ökonomistische Fundamentalisten darstellen.
2.7 Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft
Das Wahlvolk nimmt die „politische Klasse“ als die maßgeblich gestaltende Gruppe der Gesellschaft wahr. Das ist insofern zutreffend, als sie der personelle Träger der staatlichen politischen Prozesse ist. Wahrgenommen wird auch noch, daß sich zwischen die politische Klasse und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Partialinteressen Verbände geschoben haben, die durch ihre publizistische Wirkung und ihre Lobbyarbeit eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen.
Die systematischen Grenzen der Handlungsspielräume der „politische Klasse“ werden aber verkannt, insofern diese als allein maßgeblich und entscheidend begriffen wird. Die Einbettung des politischen Handelns in eine übergreifende, strukturbestimmende „Herrschaft der Investoren“ wird nicht gesehen. Die Beziehung zwischen Herrschaft und bürgerlich-demokratischer Regierung ist eine dialektische: Herrschaft und Regierung sind nicht identisch, sondern entgegengesetzt, und zugleich sind sie identisch, also ein und dasselbe. Die Regierenden sind nicht die Herrschenden.
Die Herrschenden werden nicht gewählt, und sie regieren auch nicht: sie lassen regieren. Nur die Regierenden werden in einer bürgerlich- demokratischen Demokratie gewählt, nicht aber die Herrschenden. Regieren in einer bürgerlichen Demokratie bedeutet, die Interessen der Herrschenden mit den Interessen der Wähler so zu vermitteln, dass die Beschaffung von demokratischer Legitimität gelingt. Weil Herrschaft strukturellen Charakter hat, als ein Regieren und Opponieren in Erscheinung tritt und eben deshalb so wahrgenommen wird, erliegen die Beherrschten, also die Wähler, durch diesen politischen Prozess der Legitimationsbeschaffung dem realen Schein, dass die Regierenden tatsächlich herrschen.
Verstünden die Wähler, dass die Regierenden eben nicht (unabhängig) herrschen, sondern für die Herrschenden regieren (und nur in dieser Vermittlung herrschen), dann wäre gesellschaftspolitisch etwas Wesentliches erreicht, denn die Kritik der Beherrschten, der Masse der Wähler, richtete sich dann tendenziell nicht länger gegen wechselnde Fraktionen und Koalitionen der Regierenden, sondern gegen die sie „einbettenden“ Strukturen der Herrschaft selbst. Herrschaft ist in gesellschaftlichen Verteilungsstrukturen fundiert, und sie vollzieht sich daher nicht wirklich durch politisches Handeln; dieses bleibt den je Regierenden überlassen. Aber deren Handeln ist – mit beträchtlichen Spielräumen – strukturell vorbestimmt, gerichtet und begrenzt, also: „eingebettet“. Was den Herrschenden dabei in die Hände spielt, ist die „Selbstverwertung des Werts“, also die Tatsache, dass die private, am Gewinn orientierte Verwendung von Geldkapital (Investition) die historischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie bestimmt. Weil sie als „ökonomischer Sachzwang“ erscheint, bestimmt die Logik der Investoren überwiegend die verschiedenen Bereiche der Politik, insbesondere aber die Wirtschaftspolitik, deren Rolle darin besteht, rentabilitätssichernde Rahmenbedingungen zu schaffen.
Das reale Übergewicht der Ökonomie bestimmt in Form scheinbar unausweichlicher Denkformen und Denknotwendigkeiten – als „Ökonomismus“ – wie selbstverständlich auch das kollektive Bewusstsein, und zwar um so mehr, je praktischer und pragmatischer sich dieses selbst versteht. Und die Unterordnung des politischen Denkens unter die Logik ökonomischer Gesetzmäßigkeiten führt faktisch, aber nicht notwendig bewusst oder der Absicht nach dazu, daß das Handeln der Regierenden effizient im Interesse der Herrschenden erfolgt.
3 Geschichte und Fortschritt
Gemessen an der Zeitachse der Naturgeschichte ist die menschliche Gattung sehr jung; ihre afrikanischen Wurzeln reichen lediglich etwa 5 Millionen Jahre zurück. Ihre Zahl war gering, und ihr Überleben war lange gefährdet und höchst unsicher. Ein Aussterben war über sehr lange Zeiträume nicht ausgeschlossen und hat sich innerhalb der Gattung homomehrfach vollzogen; am bekanntesten ist der Fall des Neandertalers. Auf seiner Wanderung aufwärts der Donau gelangte der moderne Mensch erstmalig während der letzten Eiszeit vor etwa 30 – 40 000 Jahren nach Zentral- und Westeuropa. Funde in den Höhlen der Schwäbischen Alb sowie in Frankreich dokumentieren, dass der moderne Mensch nicht nur als Werkzeugmacher, sondern, wie Statuetten, Musikinstrumente und Höhlenbilder zeigen – von Anfang an immer auch als Künstler aufgetreten ist.
Vor rund 10 000 Jahren setzte im „fruchtbaren Halbmond“ des Vorderen und Mittleren Orients die „neolithische Revolution“ – d. h. der Übergang zum Ackerbau – ein. Mit diesem Heraustreten aus der bisherigen Naturgeschichte der Gattung begann die eigentliche „Geschichte“, nämlich jene der menschlichen Kulturen und Gesellschaften. Vor rund 5 000 Jahren entstanden in diesem Raum die bekannten Hochkulturen in Form „orientalischer Despotien[5], und vor etwa 2 500 Jahren ereignete sich die „Geburt des modernen Bewußtseins“[6] und damit auch der Beginn von Philosophie und Wissenschaft[7].
Vor rund 500 Jahren beginnt mit der Renaissance die Neuzeit.[8] Durch die europäischen Entdeckungs- und Eroberungsreisen entstand ab 1500 n. Chr. erstmals so etwas wie eine einheitliche Welt. Etwa 250 Jahre später setzte in England die „Industrielle Revolution“ ein, d. h. die profitgetriebene, maschinengestützte Produktion in Fabriken, die zu dem heute globalisierten Kapitalismus geführt hat. Die Durchkapitalisierung der Welt hat die Produktivkräfte stark beschleunigt, und die Beschleunigung der Produktivkräfte hat rückwirkend die Durchkapitalisierung erleichtert. Die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung zeigt sich beispielsweise am Beginn des Automobilismus und der ersten Flugversuche – beide liegen erst rund 100 Jahre zurück – und am Beginn der Raketentechnik und der Raumfahrt, der Computertechnologie und der Gentechnologie, die vor erst rund 50 Jahren einsetzten. Und innerhalb weniger Jahrzehnte werden Biotechnologie, Nanotechnologie und andere Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse unsere Welt, auch unsere gewohnte Lebenswelt, tiefgreifend weiter verändern: der wissenschaftlich-technische Fortschritt entwickelt sich offenbar nicht linear, sondern stark beschleunigt.
Im Widerspruch dazu wandeln sich aber die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nur zäh und langsam. Es ist der menschlichen Gattung bisher leider nur sehr unzureichend gelungen, den Prozess der Zivilisierung der menschlichen Gesellschaft[9] nach innen und außen auch nur annähernd in dem Tempo voranzutreiben, das erforderlich wäre, um Spannungen mit der beschleunigten Entwicklung der Produktivkräfte, also den folgenreichen Ergebnissen von Forschung, Wissenschaft und Technik zu vermeiden. Dass sich die Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts während des „Kalten Krieges“ ständig am Rande der atomaren Selbstvernichtung befand, ist hierfür ein Beleg. Die Ausbreitung der Demokratie mit ihren individuellen Freiheitsrechten, des Rechtsstaats, der Menschenrechte, des Völkerrechts, und Institutionen wie die Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof und manche anderen internationale Organisationen können zwar als Ausdruck des Zusammenwachsens und des Versuchs einer Zivilisierung der Weltgesellschaft gelten, aber diese Fortschritte sind offensichtlich höchst gefährdet und bleiben von schweren Rückschlägen bedroht, die sich die Menschheit aber angesichts des Tempos der Produktivkraftentwicklung gar nicht leisten kann.
Aus historischer Sicht sind es daher nicht die Produktivkräfte, sondern die Produktionsverhältnisse, die rechtzeitig und schnell genug weiterentwickelt werden müssen. Nur dies wird die Voraussetzung dafür sein, dass eine gereifte und umfassend zivilisierte Weltgesellschaft imstande sein wird, verantwortungsvoll, d. h. weitsichtig und schonend gegenüber sich selbst und der planetaren Natur mit den alten und insbesondere den neuen Möglichkeiten, die von Wissenschaft und Technik beschleunigt eröffnet werden, umzugehen.
3.1 Dialektik der Aufklärung oder Fortschritt als Rückschritt
Die zentrale geschichtsphilosophische Einsicht des 20. Jahrhundert war auf Grundlage der Erfahrungen des Nationalsozialismus jene in die Dialektik der Aufklärung[10], wonach die Aufklärung in Barbarei und Fortschritt in Rückschritt umgeschlagen ist. Dies aber nicht allein wegen der Aufrechterhaltung bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse auch unter den Bedingungen ökonomischer Krisen, sondern – viel tiefergehend – durch die Dominanz der instrumentellen, zweckrationalen, um die Kritik verkürzte Vernunft selbst, die damit aus einem Mittel der Emanzipation von natürlichen und gesellschaftlichen Zwängen zum entscheidenden Mittel der Herrschaft geworden ist – sofern sie dies ohnehin nicht immer schon ein solches gewesen ist. Somit kritisierte dann auch die „Kritische Theorie“ nach den Erfahrungen mit sowohl Nationalsozialismus wie Stalinismus mit den Mitteln der dialektischen Vernunft radikal ihr eigenes Fundament, den Vernunftbegriff, ohne den sie doch selbst nicht sein könnte.
Zuvor hatte Ernst Bloch, der Philosoph der Zukunft, den Begriff des Novums, des Neuen in die Geschichtsphilosophie eingeführt was, ebenso wie die künstlerische russische Avantgarde der frühen zwanziger Jahre einer der geistigen Reflexe auf den damals welthistorisch einflussreichen Impuls der russischen Oktoberrevolution war. Dieser – positiv verstandene – Begriff des Novums markiert das nicht vorhersehbare, unerwartete, ins Unbekannte vorstoßende, das Dunkel erleuchtende, das Unwissen beseitigende, den Durchbruch bringende, historisch wirkende, schöpferisches Ereignis der Erkenntnis oder der Tat. Dieses Neue bahnt sich durch die Geschichte zwar an, als Tendenz, ist aber nie gegen das auch ebenso mögliche, nicht selten wirkliche Scheitern gesichert. Aber es existiert dennoch, sei es auch latent, und der Geschichtsprozess schließt zwar immer wieder Handlungskorridore, öffnet aber auch stets wieder andere.[11]
Die Erwartung der frühen Arbeiterbewegung allerdings, dass die bürgerliche Gesellschaft durch eine soziale Revolution überwunden und aufgehoben werden würde, ist, wie Iring Fetscher als Ergebnis seiner Darstellung zusammengefasst hat, geschichtlich überholt:
„Die proletarische, industriekapitalistische Weltrevolution hat nicht stattgefunden und wird auch nicht mehr stattfinden. Die Probleme und revolutionären Potentiale des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts sind mit dem Terminus „proletarisch“ nicht mehr angemessen zu bezeichnen. In den hochindustrialisierten Metropolen wächst die Angestelltenschicht weit rascher als die Schicht der industriellen Handarbeiter und treten neue Disparitäten stärker in den Vordergrund als die Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital. In den Ländern der Peripherie sind agrarische Mehrheiten und marginale Schichten, die sich um die rasch wachsenden Millionenstädte konzentrieren, kaum als ‚Proletarier‘ zu bezeichnen. Sie aber werden die Träger künftiger Revolutionen sein. Der wachsenden Konzentration der industriellen und Dienstleistungs-Unternehmungen steht die Verwandlung von 90 und mehr Prozent der Bevölkerung in Lohn- und Gehaltsempfänger gegenüber. Die Interessen dieser Mehrheiten an ausreichender Versorgung mit Konsumgütern, an einem befriedigenden Leben und sinnerfüllter Arbeit werden bislang nur unzulänglich artikuliert. Sie zu präzisieren und zum Bewusstsein zu bringen ist die vordringliche Aufgabe demokratischer sozialistischer Parteien. Eine – um der Sache willen nützliche – Konkurrenz solcher Parteien mit anderen Linksparteien ist dringend erwünscht. Ohne einen freien intellektuellen und politischen Wettbewerb besteht nicht nur das Risiko des Rückfalls in monokratische Diktaturen, sondern auch die Gefahr des Verfehlens der genannten Ziele.“[12]
Trotz der von Horkheimer und Adorno theoretisch begründeten Verzweiflung, zu der die Geschichte nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anlass gab, sondern auch immer wieder gibt, bleibt die Hoffnung auf eine mögliche und für das Überleben der Gattung notwendige menschlichere Gesellschaft ein mächtiges Motiv. Und ist – im Vergleich zu älteren Gesellschaftsformationen – die bürgerliche Freiheit, sind die Menschenrechte nicht wirklich unbestreitbare historische Fortschritte, ebenso wie die politische Demokratie und der gesellschaftliche Wohlstand? Jedenfalls ist die Geschichte mit der bürgerlich-demokratischen, kapitalistischen Gesellschaftsform sicher nicht zu Ende. Während sie sich einerseits antimoderner Kräfte erwehren muss, die gegen die kapitalistische Durchdringung der Welt opponieren (z. B. Islamismus), steht sie selbst unter einem inneren Evolutionsdruck, der sich aus den Widersprüchen der gesellschaftlichen Krise ergibt.
Die Hoffnung bleibt, dass es möglich werden könnte, die historischen Entwicklungen zum Besseren hin zu beeinflussen, auch wenn immer wieder mit Rückschlägen gerechnet und auch immer mitbedacht werden muss, dass das mögliche und gewollte Bessere – auch aufgrund nicht erkannter Fern- und Nebenwirkungen – ungewollt in das Gegenteil, in etwas Schlechtes, umschlagen kann. Belehrt von den beispiellosen historischen Rückschlägen insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir – so ist zu hoffen – gewarnt. Aber was bleibt uns anderes, als mit Wissen und Hoffnung, mit Skepsis und Mut, mit Vorsicht und Risikobewusstsein politisch zu handeln?
3.2 Welcher Fortschritt – und wohin ?
Als wissenschaftlich-technischer Fortschritt wird der „lineare“ Fortschrittsbegriff einseitig auf die Entwicklung der Produktivkräfte bezogen. Aber wegen der Dialektik zwischen der Produktivkraftentwicklung und den Produktionsverhältnissen wurde von der frühen Sozialdemokratie erwartet, dass der technische Fortschritt von sich aus die Produktionsverhältnisse strukturell fortschrittlich verändern würde. Der komplexe Vermittlungszusammenhang mit den ökonomischen Prozessen von Akkumulation und Krise, und den politischen Prozessen von Einsicht, Engagement und Selbstorganisation der Subjekte, sowie Aktion, Konflikt und Reaktion wurde dabei jedoch übersehen. Und tatsächlich erfuhren die Produktionsverhältnisse unter dem Nationalsozialismus einen katastrophalen Rückschritt, indem die Zirkulations- oder Marktsphäre durch direkte Eingriffe und staatliche Planung ersetzt und die bürgerliche Freiheit beseitigt wurde[13].
Die „ordoliberal“ begründete Rekonstruktion eines marktgesteuerten Kapitalismus erneuerte dann nach dem Zusammenbruch des NS-Staates die bürgerlich – kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, die seitdem im wesentlichen nur durch die von den Gewerkschaften durchgesetzten Mitbestimmungsgesetze sowie sozialstaatliche Regulierungen modifiziert worden sind. Diese stellen insgesamt einen beachtlichen Fortschritt der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dar, indem der Subjektcharakter der lohnabhängig Beschäftigten gegen das Kapital durchgesetzt worden ist und ökologische Notwendigkeiten gegen die ökonomisch ebenso kurzfristig wie kurzsichtig handelnden Unternehmen.
In jüngerer Zeit wird jedoch im Zusammenhang mit der Dominanz der neoliberalen Ideologie jedoch wieder nur an den wissenschaftlich-technische Fortschritt gedacht, wenn von Fortschritt und Innovation die Rede ist. Das Bewusstsein für die Problematik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist in der Gesellschaft durchaus vorhanden, allerdings im Widerspruch zu anderen einflussreichen Teilen, die weiterhin verkürzend kurzschlüssig ökonomistisch argumentieren (Bewusstseinskrise). Die breite Diskussion über Atom- und Gentechnologie, Bioethik und Technologiefolgenabschätzung belegt dies. Sie verweist allerdings auch auf die Schwierigkeiten, sich gesellschaftlich auf ethisch reflektierte, vernünftige und verbindliche Regulierungen zu einigen, denn selbst in den Fällen, in denen ethische Beurteilungen in gesetzliche Normen münden, bleiben die Ergebnisse unbefriedigend, weil die neuen technologischen Möglichkeiten früher oder später außerhalb des Geltungsbereichs der nationalen gesetzlichen Normen erprobt und genutzt werden können, so dass jede nationale Norm durch internationale und globale Wettbewerbsprozesse rückwirkend ausgehöhlt werden kann.
4 Innovation oder die Wirklichkeit des Neuen
4.1 Ökonomische Innovationen und lange Wellen des Wachstums
Am ehesten folgt noch die Entfaltung der Produktivkräfte – oder der wissenschaftlich- technische Fortschritt – der Linearität der ursprünglichen Fortschrittsidee, insofern eine beschleunigte Expansion in alle Richtungen beobachtet werden kann, während der Konservatismus zugleich die Produktionsverhältnisse abzusichern versucht, wenn es z. B. darum geht, bei neuen Produkten oder Prozessen, bei Software oder Internet-Beziehungen, die technologisch von Aushöhlung bedrohten Eigentumsrechte zu bewahren oder wiederherzustellen, oder, wie im Fall der Biotechnologie, durch Patentrechte erheblich auszuweiten.
Die an Produkt- und Prozessinnovationen anknüpfenden Wachstumserwartungen sind nicht völlig falsch, verkennen aber, dass die kapitalistische Ökonomie eine widersprüchliche und krisenhafte ist, und sie gehen an krisen- und werttheoretischen Einsichten in das Wesen von Krisen, Stagnation und Depression vorbei. Die strukturelle Überakkumulation von Kapital kann als ökonomische Krise, als Krise der Wertformen durch eine technologische Innovationsförderung allein nicht gebrochen werden. Vorrangig sind krisenhaft verlaufende Entwertungsprozesse von Kapital. Wenn und insoweit dann jedoch ein kausaler Zusammenhang zwischen Innovationen, einer steigenden Durchschnittsprofitrate und zusätzlichen Investitionen besteht, d. h. wenn Innovationen genügend zusätzliche überdurchschnittlich rentable Investitionen auslösen, kann sich eine aufschwingende „lange Welle“[14], und damit eine neue Epoche der Kapitalakkumulation entwickeln, die besseren Zeiten, auf die alle hoffen.
4.2 Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Entstehung und der Zerfall der Sowjetunion als Beispiel für die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu dienen vermag. Die Oktoberrevolution (1917) hatte die ständegesellschaftlichen Produktionsverhältnisse Russlands überwunden. Zunächst war eine marktwirtschaftlich orientierte Politik betrieben worden, die aber nach wenigen Jahren durch eine staatlich- bürokratische Planung ohne demokratische Basis abgelöst wurde (Stalinisierung der SU). Unter Anwendung exzessiver Gewalt nach innen wurde ab 1928 eine beschleunigte Industrialisierung durchgesetzt, die eine wesentliche Bedingung dafür war, dass die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg erst standhielt, dann siegte und damit den Krieg entschied.
Es folgte, ohne entscheidende Veränderung der eigenen Produktionsverhältnisse, d. h. ohne Demokratisierung, der Aufstieg zur Weltmacht, bis sich die Dynamik der Produktivkraftentwicklung in den 70er Jahren unter der Hemmung der staatsbürokratischen Verhältnisse erschöpfte und eine lange Stagnation einleitete. Der westliche Wettbewerbsdruck im ökonomischen und auch rüstungspolitischen Sinne ergab eine ökonomische und politische Überforderung des politischen Systems, das 1989 schließlich in eine unerwartete Implosion, den plötzlichen Zerfall, mündete, während, zum Vergleich, die VR China im Hinblick auf die Ökonomie rechtzeitig einen Reformweg einschlug, der die Produktionsverhältnisse im Sinne eines „Marktsozialismus“ modifizierte, allerdings auch hier ohne Demokratisierung.
Das Beispiel zeigt, dass sich die Reformdiskussion weder auf bloße Anpassungen an veränderte Umstände noch auf die ohnehin beschleunigt verlaufende Entfaltung der Produktivkräfte konzentrieren sollte, sondern vor allem auf die Produktionsverhältnisse: die Stichworte sind hier Eigentumsrechte und Verteilung, staatsbürgerliche Rechte, Demokratisierung der Gesellschaft einschließlich Mitbestimmung, Partizipation und Gleichberechtigung, sowie gesellschaftliche Selbstorganisation (Genossenschaftssektor). Da es hierbei aufgrund der historischen Entwicklung nur um eine gesellschaftliche Evolution gehen kann, ist die Aufmerksamkeit in Abgrenzung zu „sachzwanggetriebenen“ Anpassungen und produktivkraftorientierten Programmen (Innovationsförderung) insbesondere auf Sozialreformen im Hinblick auf Modifikationen der Produktionsverhältnisse zu lenken. Aber gerade hier bestehen mächtige politische Tabus. Dennoch: wichtiger als wissenschaftlich-technische Innovationen sind fortschrittliche politische, gesellschaftliche und rechtliche Innovationen, um den vorhandenen technisch-ökonomischen Innovationsdruck so zu verarbeiten, dass sich daraus ein gesellschaftlicher Fortschritt – und nicht ein Rückschritt – ergibt.
4.3 Aktuelle Probleme kultureller Entwicklung
Die kulturelle Sphäre – Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Kunst – ist teilweise schon seit längerem gegenüber der Sphäre der Ökonomie in ein Abhängigkeits- und teilweise sogar in ein Unterordnungsverhältnis geraten, wodurch die gesellschaftliche Fähigkeit einer selbstkritischen Reflexion sowie einer „gebildeten“, weitblickenden, langfristigen Zielsetzung und strategischen Planung des politischen Handelns ausgehöhlt worden ist. Durch den zu beobachtenden Verdrängungsprozess der wissenschaftlichen Politikberatung durch private „think tanks“ (wie z. B. das CHE) sowie durch betriebswirtschaftlich orientierte Consulting -Firmen (wie z. B. Roland Berger) wird die neoliberale Ideologie in praktische Politik transformiert. Der Umgestaltungsprozess des Hochschulsektors ist hierfür ein Beispiel: Lehre und Forschung sollen für die Ökonomie möglichst funktional gestaltet werden. Eine möglichst nützliche innovative Hochleistungsforschung, die Ausbildung preisgünstiger Massenabsolventen (Bachelors) sowie die separate Qualifizierung einer „Führungselite“ (Masters) stehen auf dem Programm, und zwar verbunden mit einer gleichzeitigen Kosten- senkung im Hochschulsektor (u. a. durch die neue „W-Besoldung“ der Hochschullehrer).
- Aus Sicht ökonomischer Partialinteressen werden Studiengänge „pragmatisch“ als Ausbildung, nicht als Bildung begriffen. Bildung tendiert daher dazu, ein elitärer Luxus zu werden. Die gesellschaftlichen Subjekte werden systematisch an der vollen Entfaltung ihrer Potenziale, damit auch des Bewusstseins ihrer Interessen und Handlungsmöglichkeiten gehindert. Der Bildungsprozess wird blockiert, und das Bildungsniveau wird gesenkt.
- Die relative gesellschaftliche Autonomie von Wissenschaft und Kunst, ein positives Ergebnis des Säkularisierungsprozesses der Neuzeit, wird dadurch tendenziell rückgängig gemacht. Es entsteht, nahezu unbemerkt, eine Rücknahme von Autonomiespielräumen und eine Abhängigkeit von einer ökonomistischen Ideologie, deren Kurzsichtigkeit und Borniertheit die gesamte kulturelle Sphäre bedroht.
- Damit wird das kreative Problemlösungspotenzial der Gesellschaft zunehmend eingeschränkt, während zugleich die Komplexität und der Problemdruck ansteigen. Die Bewusstseinskrise wird zur Krise der Politik. Das Ergebnis ist gesellschaftlicher Rückschritt und ein Scheitern an den Problemen.
5 Krise, Innovation und Investition
Die kritische Analyse der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hat gezeigt, dass wir es mit einer gesellschaftlichen Krise zu tun haben, so dass eine rein ökonomische Betrachtung bereits eine Verkürzung und ein Ausdruck der Bewusstseinskrise ist. Sie steht möglichen Ansätzen einer Problemlösung entgegen, und sie wirkt sich im Hinblick auf eine notwendige gesellschaftsreformerische Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse rückschrittlich aus. Die historische Betrachtung hat gezeigt, dass sich die Produktivkräfte nicht linear, sondern beschleunigt entfalten – dass also ein Problem zu langsamer Weiterentwicklung aus historischer, langfristiger Sicht gar nicht besteht. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist tatsächlich insgesamt so schnell, dass das gesellschaftliche Problem eher in der gesellschaftlichen Integration des technologisch Neuen als in dessen Mangel besteht.
Einer der Ausgangspunkte dieses Aufsatzes war die für die Region Hildesheim gutachterlich festgestellte ökonomische „Innovationsschwäche“, auf die am Ende des Aufsatzes über „Das verkehrte Verhältnis von Kultur und Ökonomie“ im Jahrbuch 2004 des Landkreises Hildesheim Bezug genommen wurde. Dieser empirische ökonomisch-gesellschaftliche Befund legt es nahe, die Lösung der ökonomischen Krisenprobleme in einer verstärkten Förderung der Entfaltung der Produktivkräfte oder des wissenschaftlich – technischen Fortschritts in einer Innovations-Förderung zu suchen. Auch auf zentralstaatlicher Ebene wird als „angebotsorientierter“ Ausweg aus der Wachstumskrise gegenwärtig diese „schumpeterianische“ Option in den Vordergrund gerückt („Innovationsoffensive“).[15]
Dieser Ansatz ist aus wettbewerbstheoretischer Sicht entstanden, d. h. er stellt auf die relative, nicht auf die absolute Geschwindigkeit der Produktivkraftentwicklung ab. Er läuft daher auf eine konkurrenzgetriebene weitere Beschleunigung der technologischen Fortschritts in Verbindung mit hierdurch veranlassten, „innovativen“ Investitionen hinaus, ohne die Nachfrageprobleme zu berücksichtigen. Ökonomistisch über „Innovationsmangel“ zu reden anstatt über das makroökonomische Problem des „Investitionsmangels“, kommt daher aus makroökonomischer Sicht einer „Verschiebung“ des Problems im Bewusstsein gleich. Aber der umfassende Begriff der Innovation schließt neben dem technologischen Fortschritt auch den gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt ein. Der Begriff der „Innovationsoffensive“ ist daher entsprechend zu erweitern, und er schließt dann strukturelle gesellschaftliche Reformen ein.
Aus makroökonomischer, kurz- bis mittelfristiger Sicht besteht jedenfalls kein Mangel an Innovationen, sondern an Investitionen, die wegen einer von den Investoren als zu niedrig eingeschätzten Rentabilität unterlassen werden. Die Hemmung und Stockung, als welche die ökonomische Krise erfahren wird, hat ihren ursächlichen Kern nicht in einem Mangel an technologischen Innovationen, sondern in den Eigentumsrechten, der Kapitalverwertung und der ökonomischen Verteilung des Vermögens und der Einkommen einschließlich der hiervon abhängigen Nachfragestrukturen. Die Investitionen sind makroökonomisch von zentraler Bedeutung. Würde auch bei sinkenden erwarteten Profitraten weiterhin investiert, würden also auf der Kapitalseite die Verteilungsansprüche zurückgenommen werden, dann entstünden genügend expansive ökonomische Kreislaufimpulse – insbesondere genügend Nachfrage – für eine gesellschaftliche Wohlfahrt und eine Überwindung der derzeitigen ökonomischen Krise. Aber eben dies geschieht tatsächlich nicht, weil die Produktionsverhältnisse – in Form der Verteilungsansprüche (z. B. in Gestalt des „shareholder value“ – Konzepts) – hemmend auf die Investitionstätigkeit einwirken, so dass kostenorientierte Unternehmensstrategien dominieren, die den ökonomischen Kreislaufprozess ungewollt abbremsen.
Aus langfristiger und aus regionalpolitischer Sicht ergibt sich ein anderes Bild, denn hier besteht eine Möglichkeit politisch-ökonomischen Wettbewerbs gerade darin, wissenschaftlich-technische Vorsprünge zu erreichen, die über Innovationen in ökonomische Vorsprünge umgewandelt werden können. Innovationen sind hier einerseits qualitativ bedeutsam, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, und andererseits quantitativ, weil sie im makroökonomischen Zusammenhang Anlass zu zusätzlichen Investitionen geben können, sofern sie die erwartete einzelwirtschaftliche Rentabilität erhöhen. Aus regionalpolitischer Perspektive ist daher neben der Förderung von Unternehmensgründungen die Innovationsförderung insbesondere im Hinblick auf das Segment der Klein- und Mittelbetriebe (KMU) ein wichtiger und erfolgversprechender wirtschaftspolitischer Ansatzpunkt. Die Aussage, dass die empirisch festgestellte regionale Innovationsschwäche überwunden werden müsse, bleibt daher richtig.
6 Ergebnisse
Wirksame gesamtgesellschaftliche Reformstrategien mittlerer Reichweite müssen in erster Linie an einer fortschrittlichen Entwicklung der Produktions- und Verteilungsverhältnisse orientiert werden. Diese aber wird nicht ohne Einsatz aller kreativen Ressourcen der Gesellschaft möglich sein. Der derzeit herrschende Ökonomismus mit seiner Ideologie marktradikaler Sachzwanglogik muss zugunsten echter gesellschaftspolitischer Alternativen überwunden werden: das ist die sich stellende theoretische wie praktisch-politische Aufgabe. Das politische Handeln fällt der Bewusstseinskrise zum Opfer, wenn sie auf die Anstrengung einer Analyse verzichtet und sich darauf beschränkt, pragmatisch auf die an die gesellschaftliche Oberfläche drängenden Probleme und Widersprüche zu reagieren. Sie hat dann zwar tatsächlich und in ihrer Selbstwahrnehmung den Vorteil des „Realismus“ und versteht sich daher auch als „Realpolitik“, begreift aber das gesellschaftliche System und seine fundamentalen Zusammenhänge, innerhalb dessen sie handelt, nicht mehr.
Eine oberflächliche Parteiprogrammatik ohne analytische Tiefe erblindet. Es kann dann nur noch reaktiv und interessegeleitet, als „politische Charaktermaske“ eben, gehandelt werden, aber die reflexive Erkenntnis des eigenen politischen Handelns innerhalb des komplexen gesellschaftlichen Systems geht zugleich verloren. Dem ist entgegenzuwirken, wenn die Bedingung der Möglichkeit für ein bewusstes politisches Handeln erhalten bleiben soll.
Referenzen
[1] Dalai Lama, Mit weitemHerzen, Berlin 2002, S. 28
[2] Buchholz, Günter: Ökonomiekritische Thesen – Öffentliche Podiumsdiskussion im Fagus – Werk in Alfeldam 29.10.2003; sowie „Das verkehrte Verhältnis von Ökonomie und Kultur“, in: Jahrbuch 2004 des Landkreises Hildesheim, S. 67 ff., insbesondere S. 72. – Herrn Hans-Jürgen Driemel, Leiter des Kulturbüros des Landkreises Hildesheim möchte ich hier im Hinblick auf meine Beiträge in den Jahrbüchern 2004 und 2005 für die Möglichkeit zur intensiven inhaltlichen Diskussion und für seine zahlreichen konstruktiv-kritischen Anmerkungen meine Anerkennung ausdrücken und ihm meinen Dank aussprechen.
[3] Vgl. Herr, Hansjörg: Deregulierung, Globalisierung und Deflation, in: PROKLA 134: Die kommende Deflationskrise?, Münster 2004, S. 15ff.
[4] Vgl. Kaiser, Cornelia: Deflation und Arbeitsmarkt in Japan, in: PROKLA 134, Münster 2004, S. 85 ff.
[5] Wittfogel, Karl August: Die Orientalische Despotie, Frankfurt/Berlin/Wien1977
[6] Vgl. Jaynes, Julien: Die Entstehung des Bewusstseins, Reinbek bei Hamburg 1993; im Original: “The Origin of Consciousness in the Breakdown ofthe Bicameral Mind”, Boston 1976. Jaynes konstatiert und erklärt diese entscheidende soziologisch -anthropologische Veränderung im Rahmen seiner historisch – neurologische Theorie der Religion auf eine faszinierende Art und Weise durch eine tiefgreifende hirnorganische Reorganisation, den Zusammenbruch der von ihm so bezeichneten „bikameralen Psyche“. Auffällig ist, dass dieser Aspekt in historischen Darstellungen sonst regelmäßig unbeachtet bleibt: aber warum?
[7] Vgl. Thomson,George: Die ersten Philosophen, Berlin 1968
[8] Vgl. Tibi, Bassam: Kreuzzug und Djihad – Der Islam und die christliche Welt, 1. Aufl., München 1999, S. 168 ff.
[9] Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, 2Bde., 7. Aufl., Frankfurt/Main1980
[10] Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 2003
[11] Bloch,Ernst: das Prinzip Hoffnung, 3Bde., Frankfurt/M. 1969,Bd. 1,S. 143.
[12] Fetscher, Iring: Karl Marx und der Marxismus,München 1985, S. 305 f.
[13] Vgl. Neumann, Franz: Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Frankfurt/M. 1984; Sohn -Rethel,Alfred: Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus, Frankfurt/Main 1973; Hoffmann, Jürgen: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur – Grundzüge deutscher Gesellschaftsgeschichte, 2. Aufl. Münster 2000, S. 333- 367.
[14] Vgl. Schumpeter, J. A., Konjunkturzyklen,2Bde., Göttingen 1961, Kap. IV, S. 139 ff.
[15] Vgl. zumThema Innovationsoffensive die kritische Notiz von Prof. Henning Klodt in „WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium“, Heft 5,Mai 2004
Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.