Paternalismus: Wissenschaftlich gelenkte Individuen

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Mit Hilfe der modernen Verhaltensforschung will der „libertäre Paternalismus“ Menschen vor „schlechten“ Entscheidungen bewahren – ohne offenen Zwang, dafür aber durch subtile Beeinflussungsversuche. Aus philosophischer Perspektive ist das entmündigend, meint Julian Mintert.

Menschenmenge-klmj8796 Haben Sie sich jemals über Fliegen auf Urinalen in öffentlichen Toiletten gewundert? Sie sind nicht nur eine Verzierung, sondern sollen die Zielgenauigkeit der Männer verbessern und so für mehr Sauberkeit in sanitären Einrichtungen sorgen.

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Dieser kleine psychologische Trick ist der erste in einer langen Liste von Beispielen, die zeigen, wie scheinbar kleine Maßnahmen große Wirkung entfalten können. Die „intelligente Gestaltung“ von Entscheidungssituation ist nichts Neues. Supermärkte verführen ihre Kunden schon seit langem mit Duftstoffen.

Gemüseabteilungen werden speziell belichtet, um die knalligen Farben hervorzuheben, und Obst und Gemüse mit Wasser beträufelt, damit sie möglichst frisch aussehen. Süßigkeiten werden im Kassenbereich platziert, damit sie leichter im Warenkorb landen. Die Art und Weise, wie uns etwas präsentiert wird, hat Einfluss auf unsere spätere Auswahl.

„Wer schafft es schon, sich freiwillig mit Organspende zu beschäftigen oder mit 27 einen Rentenplan auszuarbeiten?“

Die neue Wissenschaft der „Science of Choice” – eine Kombination verschiedener Schulen und Denkrichtungen aus Psychologie, Ökonomie und weiteren Verhaltenswissenschaften – will die Gründe dafür liefern, warum Menschen so leicht verführt werden. Sie nutzt neurowissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet, und kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen oft nicht so rational handeln, wie sie selbst glauben. Nicht grundlos scheitern viele Leute zum x-ten Mal an Diäten, lassen sich von grellen Farben und Werbeslogans zum Kauf verleiten und verschieben wieder einmal ihre Probleme auf Morgen. Wer schafft es vor diesem Hintergrund dann erst, sich freiwillig mit Organspende zu beschäftigen oder mit 27 einen Rentenplan auszuarbeiten?

Von „Humans“ und „Econs“

Die prominentesten Vertreter der Science of Choice sind Richard Thaler und Cass Sunstein. Im Zentrum ihres weltweit beachteten Bestsellers Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt [1] steht die Abkehr vom „Homo oeconomicus“ hin zum Menschen, wie er in den Augen dieser Wissenschaft wirklich ist. Sie unterscheiden zwischen „Humans“ und „Econs“. Die größten Probleme von Humans, also den angeblich „echten“ Menschen, sind ihr Mangel an Selbstkontrolle, ihr Hang dazu, Probleme auf morgen zu verschieben, ihre Vorliebe für ungesundes Essen, vor allem aber ihre Trägheit. Von anstehenden Entscheidungen sind sie häufig überfordert und treffen diese am Ende meistens aus dem Bauch heraus. Der Aufwand, der nötig wäre, um einen passenden Rentenplan auszusuchen, steht in der Kosten-Nutzen-Rechnung in Konkurrenz zu all den schönen Dingen, die man sonst tun könnte. Oft werden Abkürzungen genutzt oder sich an Daumenregeln gehalten, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Econs hingegen verhalten sich immer ideal. Sie werden in den ökonomischen Modellen auch als rationale Agenten bezeichnet. Haben sie alle relevanten Information zur Verfügung, errechnen sie ihren maximalen Nutzen und handeln entsprechend. Ihr Human-Pendant tut dies nicht. Intrinsische Defizite halten Humans davon ab, so zu handeln, wie es eigentlich ihren Präferenzen entspräche. Experimente zeigen, dass Humans, selbst wenn sie alle Informationen zur Verfügung haben und ein bestimmtes Ziel verfolgen, Entscheidungen treffen, die schlichtweg suboptimal sind. Dieses Phänomen erklärt die Wissenschaft mit dem Konzept der beschränkten oder verknappten Rationalität. Der Mensch leidet an sogenannten „Biases“, Verzerrungen und Befangenheiten der eigenen Wahrnehmung, die er selbst kaum zu überbrücken vermag. Diese können sowohl externer (die Beleuchtung im Supermarkt) als auch interner (Dinge auf die lange Bank schieben) Natur sein. Der Verstand ist für sie ebenso anfällig wie die Emotionen. In der Regel bleiben die meisten kognitiven Bearbeitungsfehler, und damit einhergehende falsche Entscheidungen, unentdeckt und können daher auch gar nicht korrigiert werden. Das macht sie ungemein hartnäckig.

Der Economist beschreibt das von der Verhaltenswissenschaft gezeichnete Menschenbild wie folgt: „fallible: lazy, stupid, greedy and weak: loss-averse, stubborn, and prone to inertia and conformism.” Alles deutet also darauf hin, dass Menschen denkbar schlechte Entscheidungsträger sind, denen es nicht einmal gelingt, ihr eigenes Glück zu maximieren. Wenn menschliche Entscheidungen in der Tat so schlecht sind, wie behauptet wird, dann benötigen Humans offensichtlich Unterstützung. Diese missliche Lage nehmen Thaler und Sunstein zum Anlass, ein politisches Konzept zu ihrer Behebung vorzustellen: den sogenannten „libertären Paternalismus“. Schlechte Entscheidungen sind nämlich nicht nur kostspielig für die betroffene Person selbst, sondern ebenso für den Staat. Beispiele hierfür sind der Energiekonsum eines Haushalts, Rentenpläne, Verschuldung sowie die bereits angesprochene Gesundheit der Menschen.

Wie man Menschen zu guten Entscheidungen „anschubst“

Ausschlaggebend für die „Verbesserung“ von Entscheidungen ist laut Thaler und Sunstein die Manipulation des Kontexts, in denen sie getroffen werden. Am Beispiel einer Cafeteria lässt sich ihr Konzept gut veranschaulichen: Die meisten Menschen verfolgen Ziele. Sie versuchen etwa Gewicht zu verlieren oder sich „gesünder zu ernähren“ und scheitern, trotz der guten Vorsätze, nur allzu oft. Überall lauert die Versuchung, wie zum Beispiel die Schokoriegel an den Kassen einer Cafeteria; langfristig wollen sie Gewicht verlieren, kurzfristig essen sie Schokolade – Morgen ist ja schließlich auch noch ein Tag.

Bei genau dieser Widersprüchlichkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit wollen Thaler und Sunstein Abhilfe schaffen. Sie sind überzeugt, dass der Konsum von „ungesunden Nahrungsmitteln“ schon allein dadurch reduziert werden kann, indem sie weniger prominent zur Schau gestellt werden. Sie schlagen daher vor, das Produktarrangement so umzugestalten, dass Nahrungsmittel, wie zum Beispiel Schokoriegel, zwar weiterhin verkauft werden dürfen, aber durch eine andere Platzierung deutlich an Sichtbarkeit verlieren. Dadurch wird es wesentlich schwieriger gemacht, beiläufig zur süßen Versuchung zu greifen. Verspüren die Kunden dennoch das Verlangen nach Schokolade, müssen sie sich gezielt auf den Weg in die hinterste Ecke der Cafeteria begeben.

Mit diesem einfachen Schritt soll der Impulsivität und Trägheit der Humans ein Riegel vorgeschoben werden. Die Verlockung wird reduziert, ohne dass sich im Wesentlichen etwas verändert hätte. Ein solch minimaler Eingriff in die Entscheidungssituation, ohne Veränderung des Angebots, wird als „Nudge“ (deutsch: „Anschubser“) bezeichnet.

„Mit cleveren „Anschubsern“ ist es möglich, das Verhalten der Bürger ganz ohne Verbote zu verändern und zu verbessern.“

In einer Zeit, in der die Bevormundung vom Staat ohnehin heiß debattiert wird, entfaltet die Herangehensweise von Thaler und Sunstein enormen Charme. Statt den Verkauf von Supersize-Schokoriegeln und das Veranstalten von Flatrate-Partys per Gesetz einfach zu verbieten, soll es mit Hilfe von cleveren Anschubsern möglich sein, das Verhalten der Bürger ganz ohne Verbote zu verändern und zu verbessern.

Allgemein gesprochen bezeichnen Nudges eine von staatlicher Seite ausgehende, leichte, aber spürbare Lenkung, die sich die kognitive Architektur des Menschen zu Nutze macht, um den Bürgern einen Anschubser in die „richtige Richtung“ zu geben, ohne dabei die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen über Bord zu werfen. Die ursprüngliche Auswahlvielfalt bleibt erhalten. Der Staat hebt durch den umgestalteten Entscheidungskontext lediglich eine Option hervor. Diese kann jedoch jederzeit abgelehnt werden, da die ultimative Entscheidungsgewalt beim Individuum bleibt. Deswegen ist von einem Anschubser die Rede und nicht von einem Schubs. Dies ist die vordergründig Autonomie bejahende, „libertär“ genannte Komponente im „libertären Paternalismus“.

Der Staat als Löser interner Interessenskonflikte

Für die Verfechter dieser Form des „weichen” Paternalismus ist die bewusste Gestaltung des Kontexts sowohl effektiver als auch vertretbarer als eine Einschränkung der Auswahlmöglichkeiten, wie im herkömmlichen, „harten”, Paternalismus üblich. Die Legitimation hat aber noch eine zweite wesentliche Säule. Statt der direkten Bevormundung des Staates, wie in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, sind die Maßnahmen zur Verbesserung unserer Entscheidungen an unseren eigenen Standards gemessen. Anschubser sollen jenes Verhalten heraufbeschwören, das man später weniger bereut. Wenn jemand, der abnehmen möchte, der Versuchung, Eis zu essen, erliegt, gibt es einen zweiten Teil derselben Person, die den vermeintlichen Genuss bereut. Mit anderen Worten: Ein Jetzt-Selbst fügt einem Zukunfts-Selbst durch sein Handeln Schaden zu.

„Es herrscht ein Interessenkonflikt zwischen dem Jetzt-Selbst und dem Zukunfts-Selbst“

Diese Aufsplitterung des Menschen in ein (mindestens) zweigeteiltes Selbst – das Jetzt- und das Zukunfts-Selbst – legt nahe, dass das aktuelle Jetzt-Selbst verrückt, masochistisch oder zumindest nicht zurechnungsfähig sein muss, wenn das Zukunfts-Selbst stets unter seinem impulsiven Verhalten leidet. In jedem Fall herrschen Interessenkonflikte zwischen den beiden.

Eine Person, die gerne Gewicht verlieren möchte, schadet sich demnach selbst in der Zukunft, wenn sie weiterhin Schokolade isst. Diesen Konflikt zu lösen macht sich der „libertäre Paternalismus“ zur Aufgabe. Dessen Leitmaxime ist, den Bürger dahingehend zu befähigen, wie ein Econ zu handeln, als gäbe es keine „Störsignale“. Das Ziel der Anschubser von staatlicher Seite ist, die Entscheidungssituation von Störfaktoren zu befreien, um die vermeintlich wahren Präferenzen des Individuums freizulegen. Diese „authentischen” Präferenzen befinden sich in dem Selbst, das Zukunftspläne schmiedet, nicht aber im Jetzt-Selbst, welches Tag für Tag der Versuchung zum Opfer fällt. So weit, so gut.

Ohne Widrigkeiten zu Glück, Geld und Gesundheit?

Das Problem des „libertären Paternalismus“ ist, dass sich im Kern nichts an der Bevormundung verändert: Den Bürgern wird nicht mehr zugetraut, selbstbestimmt zu handeln; nur dieses Mal mit der Unterstützung der Wissenschaft und dem Verweis auf ein ominöses, leidendes Zukunfts-Selbst. Durch die wissenschaftliche Basis und die „libertäre“ Komponente umschiffen Thaler und Sunstein gekonnt die Probleme des herkömmlichen Paternalismus – der Einschränkung von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie. Doch sie verpacken den Wunsch, Menschen zu sagen, was sie zu tun haben, lediglich geschickter als die klassischen Bevormunder. Denn statt etwa den Bürgern ein Problem bewusst zu machen, und den Diskurs voranzubringen, wird dieser Schritt übergangen und direkt am Verhalten angesetzt. Die Aussage, dass wir „gesünder leben“ sollen, bleibt ein Imperativ.

Das Anschubsen verhilft den Betroffenen nicht zu einer informierteren Haltung. Der Ansatz zielt nicht auf eine Verbesserung des Verständnisses der eigenen Handlungen ab, sondern ist starr ergebnisorientiert. Darin besteht auch der Unterschied zu anderen Vorgehensweisen, um Verhalten zu verändern, wie etwa sozialen Kampagnen. Ein „Anschubsen“ versucht ausschließlich, das Entscheidungsverhalten eines Individuums zu verändern und benötigt dafür auch keine explizite Zustimmung. Eine Nudge-Situation verlangt keine durchdachte Entscheidung. Ein bestimmtes Verhalten wird durch eine Reiz-Reaktions-Wirkung ausgelöst, ohne dass dahinter eine bewusst getroffene Entscheidung steht.

„Wenn der Staat die Entscheidungen trifft, wird der Bürger infantilisiert“

Die Vorstellung, dass sämtliche Entscheidungssituationen vom Staat vorgekaut werden, ist und bleibt bedenklich. Die Gefahr besteht darin, die Bürger zu infantilisieren. Ihnen wird die Denkarbeit abgenommen und sie haben keinen Anreiz, sich weiter mit ihren Entscheidungen zu beschäftigen. Eine Lernkurve gibt es nicht.

Von sich aus sind Anschubser normreproduzierend. Sie geben keinen Impuls für etwas noch nicht Dagewesenes. Eine paternalistische Politik, weich oder hart, ist immer auch eine Politik der Mitte, in der abweichende Präferenzen explizit deklariert werden müssen. Der Staat setzt einen bestimmten Begriff von „gesunder Ernährung“ als objektiv geltende Norm fest. Das mag zum einem zu Unbehagen bei denjenigen führen, die sich dagegen entscheiden, zum anderen lässt eine normreproduzierende Politik wenig Spielraum für die Weiterentwicklung von Präferenz und Verhalten. Wenn wir stets Richtung Obst und Gemüse getrieben werden, ist es schwierig, eigene Vorlieben zu entwickeln; wir können nicht mehr auf „Entdeckungsreise“ gehen.

Auch Friedrich Nietzsches Betrachtungen über Gott bieten nützliche Analogien zur Kritik des Anschubens. Nach Nietzsche ist das Leben mit Gott deterministisch, da durch den Glauben der Weg vorgegeben ist, und man sich infolgedessen nicht weiter mit seiner eigenen Existenz befassen muss. Gleichzeitig muss sich der Mensch aber auch nicht mehr anstrengen, seinen eigenen Weg zu finden. Aber für Nietzsche heißt Glück zu erleben Mühsal zu überwinden, da der Charakter hierdurch gestärkt wird. Erst in der Selbstbehauptung werden die eigenen Möglichkeiten transzendiert. Ein Leben ohne Widrigkeiten wäre bedeutungslos.

Strukturelle Schwächen des „libertären Paternalismus“

Neben allgemeinen Bedenken am Paternalismus treten strukturelle Schwierigkeiten auf, die spezifisch für den „libertären Paternalismus“ sind. Allein die Effektivität der Nudges ist umstritten. Rücken die Schokoriegel zurück an ihren ursprünglichen Platz an der Kasse, würde auch unser Konsum wieder steigen, da sich kein Lerneffekt und damit auch keine langfristige Verhaltensänderung eingestellt hat. Andererseits wissen die Kunden nach einer Weile, wo die Süßigkeiten liegen, und machen sich direkt auf den Weg dorthin; das Jetzt-Selbst passt sich den neuen Bedingungen an.

Demnach gleichen Anschubser einer temporären Kompensierung für menschliche Defizite, eignen sich jedoch nicht als Dauerlösung. Sie müssten permanent angepasst und umgestellt werden. Als Element von Außen kann ein Nudge sogar eine Störung darstellen, wenn die betroffene Person zuvor eine annähernd optimale Lösung für sich selbst oder das Verhältnis ihrer „Selbste“ gefunden hatte.
Nicht gesagt ist ebenfalls, ob alle Bürger auch wirklich in der Lage sind, prinzipiell allen kognitiven Anreizen der Nudges widerstehen zu können, damit die letzte Entscheidungsgewalt auch wirklich beim Individuum liegt. Wenn dies nicht möglich ist, verschwindet das „libertäre“ Element und der weiche, „libertäre“, Paternalismus geht direkt in einen harten über.

Ebenso beunruhigend ist die erkenntnistheoretische Messlatte, die zum Ermitteln der „authentischen” Präferenzen der Bürger dient. Sie ist nicht an das Gemeinwohl gekoppelt, und lässt sich damit auch nicht über herkömmliche paternalistische Argumente rechtfertigen – zum Beispiel Eltern wüssten, was für ihr Kind am besten sei. Stattdessen beruft sich die Messlatte auf die Präferenzen des Zukunfts-Selbst. Von ihm ist aber nicht sicher, ob es stabil ist oder ob es überhaupt existiert. Anders ausgedrückt, gibt es diese Trennung der „Selbste“ überhaupt?

„Unklar bleibt, warum dem Zukunfts-Selbst, wenn es denn existiert, zwangsläufig der Vorrang gegenüber dem Jetzt-Selbst eingeräumt werden sollte“

Solange die Frage nach der Konstitution des Selbst im Raum steht, ist ein Appel an ihre endgültige Beantwortung mit Vorsicht zu genießen. Gibt es sie jedoch, bleibt aus ontologischer Sicht unklar, warum dem Zukunfts-Selbst zwangsläufig der Vorrang gegenüber dem Jetzt-Selbst eingeräumt werden sollte. In der Science of Choice wird die Beziehung einseitig dargestellt. Das Jetzt-Selbst könnte aber ebenso gut unter dem Zukunfts-Selbst leiden – das könnte sich zum Beispiel in Form permanenter Gewissensbisse ausdrücken.

Des Weiteren stellt das Bild von den Humans einige Grundannahmen der Politik und Justiz in Frage. Ist das Jetzt-Selbst tatsächlich irrational oder gar verrückt, so müsste ihm eine verringerte Schuldfähigkeit eingestanden werden. Dürften Wahlen und Volksentscheide nach diesen Erkenntnissen überhaupt noch stattfinden? Schließlich kann von den Bürgern keine gut informierte Entscheidung erwartet werden.

Was tun?

Die Misere der „schlechten“ Entscheidungen ist nicht ohne weiteres aufzuheben. Ihre Existenz aber einfach als unveränderlich gegeben zu akzeptieren, ist schwer zu verdauen. Der Aufklärungsphilosoph Marquis de Condorcet schrieb etwa, dass der Mensch unendlich perfektionierbar sei. Alle von den Wissenschaftlern aufgeworfenen Problemstellungen belegen lediglich, dass Menschen sich nicht ideal verhalten, nicht aber, dass sie es nicht könnten.

„Wir sind gut beraten, den „libertären Paternalismus“ abzulehnen, da er im direkten Gegensatz zur Autonomie und Freiheit des Individuums steht“

Der Staat hat vielmehr die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen das Individuum lernen kann, gute Entscheidungen zu treffen, anstatt ihm von vornherein diese Fähigkeit absprechen.

Nach Martin Heidegger ist Sein Werden. Daher dürfen wir auch von keiner unveränderlichen Essenz des Menschen ausgehen. Nur weil der Mensch heute seine Scheuklappen aufhat, heißt das nicht, dass das auch Morgen so sein muss. Im Werden ist die Zeit ausschlaggebend. In diesem Sinne ist die Beschreibung vom Menschen, wie er ist, ahistorisch, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Im sogenannten „libertären Paternalismus“ ist hingegen keine Zeit für das Werden und daher auch kein Raum für Verbesserung.

Zumindest philosophisch sind wir gut beraten, den „libertären Paternalismus“ abzulehnen, da er im direkten Gegensatz zur Konzeption von Autonomie und Freiheit des Individuums steht. Der Existentialismus erwehrt sich unter anderem explizit aller repressiven religiösen und politischen Systeme, die das menschliche Leben anhand vorgegebener Werten definieren wollen. Im Falle des „libertären Paternalismus“ handelt es sich sogar um eine vorgegebene, unvermeidliche Form des Seins.

Ob es nicht manchmal bequemer wäre, sich leiten zu lassen, ist eine andere Frage.

Julian Mintert hat Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften studiert. Dieser Artikel erschien zuerst in einer leicht veränderten Fassung bei „Le Bohemien“.

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