Obdachlosigkeit – Ein “männliches Schicksal”

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Ausgangspunkt dieses Beitrags ist eine eMail, die mir ein Leser vor einiger Zeit geschickt hat. Darin berichtet er von einem Schriftwechsel mit der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., dessen Ziel für ihn darin bestand, die Angabe der BAG, dass 74% der Obdachlosen männlich und 26% weiblich sind, zu verifizieren. Entsprechend hat er bei der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. nachgefragt – und wie es bei eMail-Wechseln mit Institutionen in Deutschland offensichtlich üblich ist, hat er keine Antwort erhalten.

Ich habe vor dem Hintergrund dieser eMail versucht, Daten zum Thema “Obdachlosigkeit” zu beschaffen, die nicht von der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. stammen, um die Daten der Wohnungslosenhilfe unabhängig zu prüfen und etwas Licht in das Dunkel, das  ”Obdachlosigkeit” in Deutschland einhüllt, zu bringen. Wie bei vielen wirklichen sozialen Problemen, also sozialen Problemen, die die Lebenschancen von Menschen beeiträchtigen, so gibt es auch bei der Obdachlosigkeit keine bundesweit erhobenen Daten. Das Statistische Bundesamt scheint zu sehr mit Fragen des Gender Pay Gaps beschäftigt zu sein, als dass es sich um das Problem der Obdachlosigkeit kümmern könnte.

Eine Suche nach Veröffentlichungen zum Thema Obdachlosigkeit in den einschlägigen wissenschaftlichen Datenbanken hat  eine überschaubare Menge von Veröffentlichungen zum Ergebnis, die wie so viele Themen, die sich mit sozialen Problemlagen beschäftigen, in den 1970er bis 1990er Jahren klumpen und danach weitgehend verschwinden, denn spätestens Mitte der 1990er Jahre hat der Genderismus die “wissenschaftliche” Forschung aufgezehrt. Seitdem finden sich in wissenschaftlichen Zeitschriften zwar Unmengen von Beiträgen über die angeblichen Nachteile von Frauen, im Beruf, im Privatleben, im Glücklichsein, im Kindererziehen, im Zugang zu Transferleistungen, bei der Hausarbeit, durch Rückenschmerzen, durch die Kosten von in-Vitro Fertilisation, durch Teilzeitarbeit, durch Arbeitslosigkeit, durch Umweltverschmutzung, Klimawandel und Globalsierung als ganzes, aber es finden sich kaum noch Texte, in denen soziale Probleme, die es wirklich gibt, analysiert, beschrieben und – ich wage es kaum zu denken – erklärt werden. Obdachlosigkeit macht hier keine Ausnahme. Und da Obdachlosigkeit zudem ein soziales Problem darstellt, das nach landläufiger Meinung vornehmlich Männer betrifft, kommt es Genderisten in ihrem Frauenbenachteiligungs-Rausch natürlich nicht in den Blick.

Eine Ausnahme von dieser Ignoranz gegenüber einem wirklichen sozialen Problem habe ich ausgerechnet in der Discussion-Paper Reihe des Intstituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg gefunden. Zwei Wissenschaftler der Universität Passau, Alexandra Kröll und Oliver Farhauer, untersuchen unter dem Titel “Examining the Roots of Homelessness” die Ursachen der Obdachlosigkeit, d.h. das, was sie dafür halten. Ihre Forschung begründen sie damit, dass Obdachlosigkeit eine extreme Form der Arbeitslosigkeit sei, die sich negativ auf das physische und psychische Wohlbefinden auswirke und eine vorzeitige Sterblichkeit mit sich bringe. So hätten Studien aus London ergeben, dass die Lebenserwartung Obdachloser (people sleeping rough) um rund 10 Jahre geringer ausfalle als die durchschnittliche Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung. Kröll und Farhauer sind der Ansicht, dass Obdachlosigkeit durch hohe Mietpreise verursacht wird und durch Langzeitarbeitslosigkeit zumindest mitverursacht wird, und testen diese Annahme auf der Grundlage von Daten aus dem Land Nordrhein-Westfalen und auf aggregierter Ebene, d.h. sie ordnen der Anzahl der Obdachlosen pro Verwaltungseinheit, die jeweilige Quote an Langzeitarbeitlosen zu, die entsprechende Anzahl freier Wohnungen und berechnen eine multiple Regression. Das Ergebnis: In Verwaltungsbezirken, in denen der Anteil der Langzeitarbeitslosen (an der Gesamtbevölkerung) hoch und die Anzahl leerstehender Mitewohnungen mit einer Fläche von weniger als 40 Quadratmeter gering ist, ist die Wahrscheinlichkeit, auf Obdachlose zu treffen, höher als in Verwaltungsbezirken, in denen der Anteil der Langzeitarbeitlosen und die Anzahl leerstehender Wohungen gering sind.

Kröll und Fahrhauer liefern eine robuste Aggregatdatenanalyse, sie liefern jedoch keine Erklärung für Obdachlosigkeit, denn von der Anzahl der leerstehenden Mitwohnungen unter 40 Quadratmeter bzw. dem Anteil Langzeitarbeitsloser bis zur Erklärung der Obdachlosigkeit von Martin F. ist es noch ein weiter Weg. Und, angenommen Männer sind häufiger von Obdachlosigkeit betroffen als Frauen, wieso, so müsste man vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Kröll und Fahrhauer fragen, wirkt sich der Wohnungs-Leerstand und die Langzeitarbeitslosigkeit in einem Verwaltungsbezirk vornehmlich auf Männer und kaum auf Frauen aus? Das Diskussionspapier der beiden Autoren wirft somit mehr Fragen auf, als es beantwortet und beantworten kann, denn eine Differenzierung der Obdachlosen nach Geschlecht findet sich im Diskussionspapier nicht. Dies ist auch kein Wunder, denn Daten zur Obdachlosigkeit werden nur sporadisch erhoben, und da wo sie erhoben werden, werden sie zumeist nicht nach Geschlecht differenziert. Eine Ausnahme macht hier das Land Nordrhein-Westfalen, das in  seiner “Integrierten Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2011? erstmals eine Aufgliederung nach Geschlecht vorgenommen hat. Ich berichte im Folgenden einige Ergebnisse aus der Berichterstattung, die mir freundlicherweise vom Statistischen Landesamt NRW zur Verfügung gestellt wurden.

Grundlage der Berichterstattung ist eine Erhebung des Landesamts, die  flächendeckend  alle kommunalen Ämter, die für die Versorgung Obdachloser zuständig sind, und alle Freien Träger, die sich um Obdachlose in NRW kümmern, einbezogen hat. Dass die angeschriebenen Ämter und Freien Träger nicht alle geantwortet haben, bedeutet, dass die im folgenden berichteten Daten in der Struktur für NRW aussagekräftig sind, in der Höhe aber zu gering ausfallen.

Im Jahr 2011 waren in NRW 16.448 Personen als obdachlos erfasst, 10.132 durch kommunale Behörden, 6.316 durch Freie Träger. Die folgende Abbildung zeigt die Verteilung der  in NRW gemeldeten Obdachlosen nach Alter und Geschlecht.

Die Abbildung zeigt eindrücklich, dass Obdachlosigkeit ein soziales Problem ist, das vornehmlich Männer und vornehmlich Männer im Alter zwischen 21 und 64 Jahren betrifft. Da Obdachlose, wie die oben berichteten Ergebnisse aus London zeigen (Daly, 1993), eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als die Restbevölkerung ist es nicht verwunderlich, dass Obdachlosigkeit in der Gruppe der über 64jährigen keine große Bedeutung mehr hat. 74,7% der Personen, die im Jahre 2011 in NRW obdachlos waren, sind Männer, 25,3% Frauen. Differenziert man nach Freien Trägern und kommunalen Ämtern, dann beträgt der Anteil der obdachlosen Männer, die durch Freie Träger erfasst werden, 81,8% bei kommunalen Ämter 67,7%. Obdachlose Männer ziehen somit die Unterkunft bei Freien Trägern der Unterkunft bei kommunalen Ämtern vor. Hinzu kommt, dass der Anteil von weiblichen alleinstehenden Obdachlosen mit Kindern und der Anteil von Paaren unter den Obdachlosen, die sich bei kommunalen Ämtern einfinden, deutlich höher ist als der entsprechende Anteil, der bei Freien Trägern Unterkunft sucht, so dass es interessant wäre zu erfahren, wie und wo die entsprechenden Personen durch kommunale Ämter und Freie Träger untergebracht werden. Die entsprechenden Daten liegen jedoch nur für Freie Träger vor. Es zeigt sich, dass die Mehrzahl der Obdachosen bei Bekannten (34,3%), in stationären Einrichtungen (28,3%), in Notunterkünften (9,3%), bei der Familie (7,6%) in ambulant betreuten Wohnungsprojekten (6,7%) oder in einer ungesicherten Ersatzunterkunft (2,2%) Unterschlupf finden.

Grenzt man nunmehr die Betrachtung auf die Obdachlosen ein, die dem öffentlichen Bild eines Obdachlosen entsprechen und entweder in stationären Einrichtungen, Notunterkünften oder ungesicherten Ersatzunterkünften Unterschlupf gefunden haben, dann stehen 1961 Männer (84,5%) 360 Frauen (15,5%) gegenüber, d.h. Obdachlosigkeit im “klassischen Sinne” ist ein soziales Problem, von dem überwiegend Männer betroffen sind, was erklären dürfte, warum das Problem so wenig Aufmerksamkeit in der medialen und politischen Öffentlichkeit findet. Dies führt mich zurück zur Armut der wissenschaftlichen Forschung, die fast schon eine Schande für die sozialwissenschaftliche Zunft ist, die – und ich wiederhole mich – vor Fixierung auf weibliche Geschlechtsteile, die eigentliche Aufgabe von Sozialwissenschaftlern, nämlich die Erforschung, Erklärung und Mitwirkung bei der Behebung wirklicher sozialer Probleme vergisst.

Eine Ausnahme stellt hier Karl Griese dar, der im Jahr 2000 seine Dissertation veröffentlicht hat, die sich mit den männlichen Insassen eines Obdachlosenasyls beschäftigt. Auf der Grundlage seiner qualitativen Analysen kann man nunmehr die Frage nach der Erklärung für Obdachlosigkeit, also dafür, dass sich vornehmlich Männer keine eigene Wohnung mehr leisten können, angehen. Am Ende seines Buches stellt Griese am Beispiel von 20 Einzelfällen den Weg in die Obdachlosigkeit dar, und in fast jedem der Fälle, steht die Obdachlosigkeit am Ende von Beziehungsproblemen, Scheidungen und den damit einhergehenden finanziellen Unterhaltsverpflichtungen, von Alkoholproblemen, deren Ursache unklar ist, die aber zum Ergebnis haben, dass der entsprechende Obdachlose seine Arbeit verliert und in die Obdachlosigkeit rutscht. Zwei Beispiele mögen hier zur Illustration genügen:

“1974 haben wir geheiratet und bald kam auch unsere Tochter. Dies ist jetzt auch schon 22 oder 23 Jahre alt. Muss also 7 oder 8 Jahre her sein, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Meine Frau hatte ja gedacht, sie könnte mich ausnehmen mit Unterhalt, aber das war nichts”.

“Irgendwie hab’ ich das mit dem Tod meiner Eltern nie richtig verkraftet. Bereits als meine Eltern gestorben sind, gab das für mich so einen Knacks und dann hat mich nichts mehr in Kiel gehalten. Damals ging das schon los mit Alkohol. Ich habe aber immer gearbeitet, bis es dann körperlich nicht mehr ging. So 1982 war dann Schluss. Da kam dann auch die Scheidung. Da hab’ ich dann zuerst bei einem Freund gewohnt … jetzt bin ich schon über 10 Jahre hier [im Obdachlosenasyl].

Die Beispiele werfen die Frage danach auf, welche Bedeutung Frauen als Ursache für die Obdachlosigkeit von Männern zukommt, und sie werfen die Frage danach auf, in wie weit institutionelle Regelungen wie Unterhaltsverpflichtungen und Anschlussregelungen an das Scheidungsrecht, die Obdachlosigkeit von Männern zumindest mit verursachen. Beide Fragen, wie so vieles, was derzeit nicht in den politischen Mainstream passt, was nicht politisch korrekt ist, warten derzeit noch darauf, durch wissenschaftliche Forschung wieder-entdeckt und hoffentlich beantwortet zu werden.

Nachtrag

Ein ärgerlicher Fehler findet sich in der Veröffentlichung des Ministeriums Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW. Dort heißt es auf Seite 5: “Der Anteil der Alleinstehenden an allen wohnungslosen Haushalten liegt bei fast drei Viertel (72,4%), darunter waren alleinstehende Männer mit einem Anteil von 57,0% in der überwiegenden Mehrheit”. Die Tabelle, auf die sich die Angaben beziehen, zeigt, dass sich die 57% Männer auf alle Wohnungslosen, die kommunalen Ämter gemeldet sind, beziehen. Die Basis der Prozentuierung ist daher nicht, wie im Zitat behauptet, die Anzahl der Alleinstehenden an allen wohnungslosen Haushalten, die Basis sind alle wohnungslosen Haushalte. Wäre die Anzahl der Alleinstehenden Basis der Prozentuierung, der entsprechende Anteil für Männer betrüge 78,7% und nicht 57%. Solcher Art krude Fehler in einer offiziellen Publikation sind eigentlich nicht erklärlich.

Literatur

  • Daly, Mary (1993). Abandoned: Profile of Europe’s Homeless People. The Second Report of the European Observatory on Homelessness. Brussels: FEANTSA.
  • Griese, Karl (2000). Obdachlosenasyl. Beobachtungen in einem Wohnheim für obdachlose Männer. Berlin: Dr. Köster.
  • Kröll, Alexandra & Farhauer, Oliver (2012). Examining the Roots of Homelessness. The Impact of Regional Housing Market Conditions and the Social Environment on Homelessness in North Rhine-Westphalia Germany.
  • IAB-Discussion Paper 12/2012.
  • Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2012). Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2011 in Nordrhein-Westfalen. Struktur und Umfang von Wohnungsnotfällen.

 

Bildnachweis: Obdachloser

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