Gesellschaftliche Entfremdung auflösen! Für ein Leben und Lernen in Freiheit

pfennig

Rezension des Buches „Sehnsucht nach Wahrheit“ von Christa Maria Bauermeister

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Die Initiatorin und Herausgeberin dieses Buches war Oberstudienrätin am Alfelder Gymnasium, hat sich nach Herausgabe des Buches jedoch versetzen lassen. Dieser Wunsch nach Versetzung steht im Zusammenhang mit der Haltung des Kollegiums und des Schulleiters des Alfelder Gymnasiums, Andreas Unger. Seine distanzierende Erklärung zum Projekt „Geld & Leben“ ist im Buch mit abgedruckt worden (S. 666).

Der Rezensent schließt daraus, dass Schulleitung und Schule bzw. Kollegium das Projekt und Buch ohne Angabe von Gründen mehr oder weniger deutlich ablehnen und mit möglichen positiven Bewertungen nicht in Zusammenhang gebracht werden wollen.

Es bleibt allerdings die nicht uninteressante Frage nach den tatsächlichen Gründen. Diese waren offenbar so geartet, dass sie nicht explizit oder gar öffentlich formuliert werden konnten oder durften. Und das macht den Rezensenten doch sehr nachdenklich.

sehnsucht-nach-wahrheitEs handelt sich um ein ungewöhnliches Projekt und ein ebenso ungewöhnliches Buch, das sich über 672 Seiten erstreckt. Es ist 2012 in Alfeld an der Leine in der 1. Aufl. erschienen, und es hat prominente Unterstützer und etliche wenig prominente Gegner gefunden. Zu den Unterstützern gehört der Bürgermeister der Stadt Alfeld, Bernd Beushausen, der dem Buch ein Grußwort mitgegeben hat, und Prof. Rolf Wernstedt, der von 1990 – 1998 Niedersächsischer Kultusminister und 1998 – 2003 Präsident des Niedersächsischen Landtages war, und der ein wohlwollendes Vorwort geschrieben hat. So etwas ist gewiss keine Selbstverständlichkeit.

Die Herausgeberin eröffnet das Buch mit einer einführenden „Gebrauchsanleitung“. Es folgt dann ein Kapitel „Weichenstellung“ mit drei Beiträgen von Christian Pfeiffer, Ingrid Wettberg und Bernd Beushausen.

Danach öffnen sich Sieben Kreise bzw. Kapitel: Leben, Geld, Produktion, Wasser, Boden, Ziel, Sinn. In jedem Kapitel werden durchschnittlich 8 Interviews dokumentiert, die von den Schülern vorbereitet und durchgeführt wurden. Das Buch schließt mit einem Nachwort und einem Anhang.

In diesem Projekt waren die Interviewer Schüler, die zwar angeleitet, aber selbständig tätig wurden. Es ging in der dialogischen Befragung ausgewählter Personen um die Erforschung von erlebter Geschichte, von regionalen und lokalen Lebensbedingungen, von allgemeinen und existenziellen Lebenserfahrungen, von bestimmten konkreten Berufserfahrungen, von ökonomischen und von kulturellen Wirklichkeiten. Und „Wirklichkeit“ bedeutet hier weniger Darstellung einer öffentlich wahrnehmbaren Oberfläche als vielmehr der meist verdeckten Realität darunter.

Inhaltlich werden zwar die unterschiedlichsten Themen angesprochen, aber wer diese in klarer Sprache geschriebenen Interviews liest, der wird hineingezogen in die Ernsthaftigkeit und Tiefe der Dialoge, und der wird nicht selten persönlich berührt. Und das wäre eben nicht möglich ohne Wahrhaftigkeit. Sie ist es, die hier ihren Ausdruck gefunden hat, und deshalb ist der etwas pathetisch klingende Titel des Buches – „Sehnsucht nach Wahrheit“ – tatsächlich gar nicht pathetisch, sondern treffend gewählt worden. Manchen Interviewten war sie allerdings leider aber charakteristischerweise nur im Schutz der Anonymität möglich (vgl. Kreis 1 und 2). Und dieser Umstand verweist zurück auf gesellschaftliche Bedingungen, sozialpsychologische, machtpolitische und repressive nämlich.

Als Beispiel gehe ich hier auf das Interview # 7 aus dem Kreis „Leben“ ein. Es ist überschrieben mit: „In ALG II gefallen – Was bleibt sind zwei Katzen.“

Es berichtet ein anonym bleibender, langjährig tätiger ehemaliger Betriebsleiter, ein qualifizierter Bauingenieur, der später auf Elektronik umschulte und sich auf diesem Feld spezialisierte, ein Mann, der einfach das Pech hatte, in einem Unternehmen zu arbeiten, das durch seinen Chef anscheinend am Rande der Legalität geführt und letztlich insolvent wurde. Zugleich berichtet er, wie dieses Unternehmen in den Markt eingespannt war, und warum und wie – nämlich destruktiv – sich die Globalisierung für das Unternehmen auswirkte. Beeindruckend für mich waren dabei besonders die nüchterne Klarheit und der Wirklichkeitssinn, mit dem die Zusammenhänge auf Unternehmens- wie auf Marktebene gesehen und dargestellt wurden. Ebenso nüchtern, aber zugleich sehr melancholisch, berichtet er dann über seine gesellschaftlichen Erfahrungen als Mensch, der ökonomisch nicht länger gebraucht wird, und was das mit dem betroffenen Menschen macht.

Die Ausgliederung aus dem Produktionsprozess führt ihn in die Abhängigkeit von der staatlichen Arbeitsverwaltung und aus einer Subjekt- in eine Objektrolle. Die heutigen Rechtsnormen hierfür sind durch die Regierungen SPD/GRÜNE unter Mitwirkung der damaligen Opposition restriktiv gehalten, insbesondere bei ALG II. Die finanziellen Einschränkungen beim Übergang in ALG II wirken sich sehr spürbar und einschränkend aus:

„Wie ungerecht es in diesem Bereich zugeht, kann nur jemand verstehen, der Hartz IV bekommen hat. Ich habe es vorher selbst nicht verstanden. Auch als Arbeitsloser habe ich anders über Hartz IV-Empfänger gedacht als später, nachdem ich selbst einer geworden war. Ich habe auch gesagt: Man muss doch mit 364 Euro plus Miete und allem – insgesamt bekommt man als Hartz IV- Empfänger 737 Euro – hinkommen. Aber wenn man dann sieht, was man da überhat, und wenn man einigermaßen vernünftig leben will – seinen Lebensstil kann man ohnehin nicht aufrechterhalten – in einer 50-Quadratmerter-Wohnung, die sauber sein soll, wofür man Reinigungs- und Putzmittel kaufen, wo man in meinem Fall auch die Katzen ernähren muss und sich nicht hängen lässt und irgendwo mit anderen Leuten Alkohol trinken geht, weil man aufgegeben hat, dann hat man es wirklich schwer.“ (S. 109 f.)

Die finanziellen Einschränkungen erzwingen eine Absenkung der Lebensqualität, weil nur noch das allernötigste bezahlt werden kann. Die früheren sozialen Beziehungen zerfallen, und es beginnt der Weg in eine soziale Isolation.

„Man denkt selbst, dass man zu nichts mehr nutze ist. Alles, was man gemacht hat, ist weg. Na gut, Leiterplattenherstellung gibt es in Europa nicht mehr, aber ich bekomme ja auch keine Umschulung, um irgendetwas anderes machen zu können, weil ich über 50 bin. Ich muss noch bis 66 arbeiten, weiß aber gar nicht, wie ich das machen soll. Wenn das mit der Arbeit, die ich jetzt habe, für 7,26 Euro die Stunde, nicht geklappt hätte, hätte ich immer noch keinen Job. Aber jetzt habe ich etwas, um aus dieser Situation rauszukommen. Es ist wirklich schlimm, wenn man dann sagt: ´Ein Hartz IV – Empfänger, mein Gott, der hat seine 364 Euro, da kann man von leben; man braucht nicht zu arbeiten, man kann den ganzen Tag zu Hause bleiben und `Fernsehen gucken`. Das geht eben nicht. Man kann sich nichts erlauben. Man sitzt wirklich zu Hause, trinkt Wasser, isst Brot und das war´s. Man hat wirklich nichts.“ (S. 111)

Und warum möchte dieser Mann, der in ein nicht persönlich zu verantwortendes, sondern in ein gesellschaftlich bedingtes Unglück geraten ist, anonym bleiben? Er sagt: „Wenn ich meinen Namen nenne, dann stelle ich mich gegen die Gesellschaft und dazu fühle ich mich einfach im Moment nicht stark genug.“ (S. 121) Wer wissen will, wie es im Arbeitsleben, in Unternehmen, auf den Gütermärkten und auf dem Arbeitsmarkt sowie in der Arbeitslosigkeit wirklich zugeht, dem sei dieses ausführliche Interview sehr empfohlen.

Dieses Buch, das so viele verschiedene Themen aufgreift, hat nach Auffassung des Rezensenten dennoch ein einziges zentrales Thema und somit einen wenn auch versteckten „Roten Faden“. Es ist die gesellschaftliche Entfremdung (Marx 2009; Israel 1972) und der pädagogische Versuch, diese Entfremdung im je konkreten Zugang zu umkreisen, zu erkennen und punktuell zu durchbrechen. Wäre er gescheitert, dann wäre alles in der Ordnung, nämlich der bestehenden, aber er ist eben nicht misslungen. Das macht seine Bedeutung aus.

Entfremdung hat empirisch viele Facetten: zum Beispiel soziale Ohnmacht und soziale Ausgrenzung von Menschen, deren Arbeitskraft nicht (mehr) nachgefragt wird, oder Fremdbestimmung durch Personen (in Unternehmen und Bürokratien) oder durch sogenannte Sachzwänge, darunter jene, die als Wettbewerb (Globalisierung) bezeichnet werden.

Entfremdungserfahrungen vielfältigster Art sind für alle Menschen so alltäglich, dass sie für den Normalzustand gehalten werden. Die Unterordnung unter diesen falschen, weil entfremdeten „Normalzustand“ wird kaum je reflektiert und begriffen, sondern mündet in eine grundlegende Resignation in Verbindung mit kompensatorischen Ersatzbefriedigungen, die wiederum als Konsumismus ökonomisch genutzt werden. Eine Sinnerfahrung des eigenen Daseins kann so gerade nicht entstehen. Die innere Leere wächst.

Unsere Schulen und Hochschulen sind in doppeltem Sinn entfremdete Institutionen, nämlich zum einen als einer politischen Herrschaft unterworfenen Institution, zum anderen als Vermittlerin eines herrschaftlich geprägten Lehrplans – einschließlich der zugehörigen Lehr- und Lernmethoden. Und über die in den Interviews dargestellten besonderen Themen hinaus ist es dies, wogegen sich implizit das vorliegende Buch pädagogisch und didaktisch wendet. Nicht zuletzt deshalb ist es auf institutionellen und gesellschaftlichen Widerstand gestoßen.

Im Interview # 12, das dem Kreis 2: Geld angehört, wird sichtbar, dass und in welcher Art und Weise sich die Entfremdung als moralisches Problem einzelner Personen und zugleich als Widerspruch zwischen einer Bank und ihren Kunden darstellen kann, und zwar hier am Beispiel der Bankberatung. „Eine ehemalige Bankangestellte gibt Auskunft“ ist dieses Interview überschrieben:

„Nach dem Abitur habe ich eine dreijährige Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht, habe alle Bereiche durchlaufen (…) und dann als Schaltermitarbeiterin gearbeitet. Das ist im Grunde ein anderer Begriff für Sachbearbeiterin. Ich habe hauptsächlich technische Sachen gemacht, weil ich nicht in die Anlageberatung wollte.“

Warum wollten Sie nicht in der Anlageberatung arbeiten?

„(…) es begann sich schon zu meiner Zeit abzuzeichnen, dass die Anlageberatung vonseiten der Banken eigentlich keine wirklich neutrale Beratung sein konnte. Man müsste das Ganze meiner Meinung nach umbenennen: es ist eigentlich ein Verkaufsjob geworden. So habe ich das jedenfalls erlebt. Es gab gewisse Produkte, die an den Mann gebracht werden mussten, und gewisse Kontingente. Wenn zum Beispiel eine neue Wertpapieranleihe aufgelegt wurde, dann bekam man ein gewisses Kontingent, das man verkaufen musste, und dann wurden Kunden ausgeguckt, von denen man der Meinung war, dass sie so etwas kaufen würden.“

Diese Vorgaben lehnten Sie ab?

Unter einem Berater stelle ich mir eigentlich jemand Neutrales vor, jemanden, der wirklich guckt, was für einen Kunden, der 10.000 Euro anlegen möchte, das Beste ist und nicht, welches Produkt er diesem Kunden verkaufen muss.

Und wenn ein Berater das damals tatsächlich gemacht hätte? Wenn sein Motiv nur eine uneigennützige Kundenberatung gewesen wäre, hätte das für ihn irgendwelche negativen Konsequenzen gehabt?

Ich habe es nicht erlebt, dass sich jemand nicht an dieses Verkaufsprinzip gehalten hat, weil natürlich jeder irgendwo unter dem Druck steht, seinen Arbeitsplatz erhalten zu wollen, und so handelt, um einfach gewissen Erwartungen gerecht zu werden.

Ich denke, jemand, der sich nicht so erhalten könnte, wäre gar nicht erst Berater geworden. Mir hat man oft angetragen, ob ich nicht in die Beratung gehen wolle, und meine Arbeitskollegen meinten, dass ich doch eigentlich das Zeug dazu hätte, aber ich habe gesagt: ´Nein, ich kann mich damit nicht identifizieren. Ich bleibe lieber Sachbearbeiterin; ich möchte nachts noch ruhig schlafen können.´ (…).

Wie hat sich die Situation im Bankensektor in den letzten zwanzig Jahren ihrer Einschätzung nach geändert, sofern sie sich überhaupt geändert hat?

Ich denke, die Tendenz geht schon dahin, dass es aggressiver geworden ist, dass immer mehr verkauft werden soll, die Berater und Verkäufer unter immer stärkerem Druck stehen. (…) Sobald die meinen, sie müssten wieder irgendwas verkaufen, wird man sofort angerufen. Und ich denke, transparenter ist das Ganze bei alledem auch nicht geworden. Die haben jetzt zwar Vorschriften, was sie machen müssen: Bei Beratungsgesprächen muss beispielsweise ein Protokoll geführt werden, das man dann auch zugeschickt bekommt. Aber dieses Protokoll ist mehrere Seiten lang, kleingedruckt, und als Kunde hat man vielleicht das Gefühl, dass sie sich Mühe geben; aber herauszulesen, was wirklich dahintersteckt, ist sehr mühsam. Für mich mit meinem Hintergrundwissen ist es schon schwer zu verstehen, und ich denke, für einen Laien ist es fast unverständlich.“ (S. 160 ff.)

Mit solchen Widersprüchen der Praxis, die in den absichtsvollen Lehr- und Lernprozessen gerade nicht vermittelt werden, reflektierend und handelnd so gut wie eben möglich umgehen zu lernen, das gehört zu den Herausforderungen des Berufslebens einer von Entfremdung gezeichneten Ökonomie und Gesellschaft. Die anonym gebliebene Bankkauffrau hat ihren Weg offenbar gefunden.

Die Erfahrung, dass dieses Buch gesellschaftlichen Widerstand provoziert hat, zeigt an, dass hier eine Chance genutzt worden ist. Denn nun liegt ein Muster vor, ein Projekt, eine Vorgehensweise, die aufgegriffen und wiederholt werden kann und wiederholt werden sollte, wo immer es Pädagogen darum geht, die curriculare, entfremdete Sozialisation exemplarisch in eine nicht-entfremdete zu überführen.

Die Folgen sind, dass in Freiheit, mit Neugier und aus innerem Interesse das gelernt werden kann, was lebensnah, wichtig, sinnvoll und wahr ist. Sehnsucht nach Wahrheit: So sollte es idealerweise auch und gerade im wissenschaftlichen Studium sein. Sinnhaftigkeit, Freiheit und Motivation ermöglichen und sichern unentfremdete Lernprozesse. Und Zwang, Reglement und extrinsische Motivation haben gegenteilige Wirkungen. Sie zielen auf die Anpassung an die entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnisse: die neoliberale Hochschulreform (Bachelor-Master-System) beabsichtigt und verwirklicht genau dies. Und wo diese resignative Anpassung eine vollständige und damit unbewusst gewordene ist, da wird die Entfremdung – also das gesellschaftlich Unwahre – verteidigt. Und eben das ist der Initiatorin widerfahren.

Der Rezensent kann diesem wichtigen Buch nur möglichst viele Leser wünschen; Eltern und Lehrern vor allem, aber auch Hochschullehrern und Studenten der Pädagogik, sowie Politikern und Ministerialbeamten.

Anmerkungen

  • Christa Maria Bauermeister – Alfelder Initiative Geld und Leben (Hrsg.): Sehnsucht nach Wahrheit – Schüler befragen ihre Region und begreifen die Welt.
  • Alfeld/Leine 2012, 672 Seiten, 19,99 EUR. ISBN 978-3-9811183-4-6.
  • Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Kommentar von Michael Quante, Frankfurt/Main 2009, [V] S. 82 ff., ISBN 978-3-518-27015-8
  • Israel, Joachim, Der Begriff Entfremdung, Reinbek bei Hamburg 1972.
  • Buchholz, Günter: Die Zukunft der Hochschulen.
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Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.