Es schneit wie in einem Schüttelglas, als ich nach Vietnam aufbreche. Ich habe sofort die Melodie von „I’m dreaming of a white Christmas“ vor meinem geistigen Ohr. Auch wenn Weihnachten schon vorbei ist, ich spüre doch etwas von der frohen Erwartung eines Kindes vor dem Fest. Ich freue mich auf ein „White Christmas“ in Vietnam.
Mit diesem Lied wurde der Krieg beendet. Es war das verabredete Geheimzeichen: Als ständig „White Christmas“ im Soldatensender lief, wusste jeder GI, dass der Krieg vorbei ist, es war das Signal zum Rückzug. Es passte so gar nicht zum sonstigen Musikprogramm und zur grünen Hölle, in der die Soldaten steckten.
Weihnachten wieder zu Hause zu sein, war ein Wunsch, der lange unerfüllt bleiben musste. Auch wenn sie zu Hause inständig darum baten und immer dringlicher forderten: „Bring the boys home for Christmas.“ Der Traum, einen Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand rechtzeitig zu Weihnachten zu erreichen, war ein Traum, der nur von einer Seite geträumt wurde. Die andere Seite hatte womöglich ähnliche Träume, aber andere Termine. Im Ersten Weltkrieg gab es auch nur an der Westfront eine Waffenrufe. Da wurde Heilig Abend nicht geschossen, das musste nicht abgesprochen oder ausgehandelt werden, das war einfach so, da schwiegen die Waffen, als wäre das von einer höheren Instanz angeordnet, so wie auch in Abtreibungskliniken an Weihnachten grundsätzlich nicht gearbeitet wird. An der Ostfront dagegen wurde geschossen. Auch in Vietnam. Da wird nicht Weihnachten gefeiert, sondern das TET-Fest.
Danach ist die berühmte TET-Offensive benannt, die am 30. Januar 1968 startete, und zwar militärisch ein Misserfolg war, bei dem die Kommunisten bis zu 100 000 Mann verloren, aber dennoch eine Wende brachte mit einer im wahrsten Sinne „brennenden Botschaft“. Als live aus Saigon berichtet werden sollte, dass die Lage stabil ist, sah man im Hintergrund die Botschaft brennen. Die Stimmung im Lande kippte. Damals war ich als Austauschschüler in den USA und habe für die Soldaten gebetet und haben ihnen zur Aufmunterung und als Zeichen meiner Solidarität Kaugummis geschickt. In der Nachbarschaft von Hartford, Michigan lebte eine Familie, die, wie es hieß, einen Sohn in Vietnam verloren hatten. Immer wenn wir in unserem Pontiac daran vorbeikamen, verstummten die Gespräche und wir fuhren etwas langsamer.
Doch ich gehörte auch zur unruhigen und zur kritischen Jugend, auch wenn ich nicht durch die Straßen lief und „Ho-, Ho-, Ho Chi Minh“ skandierte. Ich kaufte von meinem Geld, das ich auf der Obstplantage verdient hatte, die Platte von Simon and Garfunkel, auf der „Silent Night“ gesungen und eine Nachrichtenstimme im Hintergrund als provozierender Kontrast dazu immer lauter aufgedreht wurde. Zum Schluss heißt es, dass Nixon erklärt habe, dass die Opposition gegen den Vietnam-Krieg im eigenen Land zu den gefährlichsten Waffen gehörte, die gegen die USA gerichtet sind.
Einmal kam ein Offizier zu uns in die Schulklasse, setzte sich lässig auf das Pult und erzählte, dass es in Wirklichkeit viel schlimmer sei als im Fernsehen. Es wäre ein verdammt harter Job, den es da zu erledigen gäbe. Einmal dachte ich, er hätte sich verplappert und Viet Cong und Viet Minh verwechselt, er musste selber zugeben, dass die Amerikaner nicht richtig zwischen Nordvietnamesen und Südvietnamesen unterscheiden und sich kaum verständigen konnten. Darauf kam es nicht an. Ich hatte das Gefühl, dass die meisten Jungs am liebsten sofort mitgegangen wären, um den verdammt harten Job zu übernehmen. Die Aussicht auf einen Heldentod schreckte sie nicht, sondern lockte sie. Ich wusste schon, wie sie redeten: „So what?!“, sagten sie: Ich könnte auch morgen auf der Straße sterben. „Just as well“.
Ich habe Sergeant Barry Sadler gesehen – im Fernsehen, wie er in Unform auftrat und die Ballade von den Green Barretts sang. Am Ende des Liedes erhält die Ehefrau ein Schreiben, dass ihr Mann seinem Schicksal begegnet sei, sein letzter Wunsch ist es, seinen Sohn auch zu einem Elitesoldaten zu machen, zu einem von Amerikas Besten, zu einem der „fighting soldiers from the sky … they jump and die“. Die Deutschen kannten das Lied nur von Freddy: „Hundert Mann und ein Befehl. Und ein Weg, den keiner will.“
Nun war ich auf dem Weg nach Vietnam, das immer noch mit Schattenbildern aus meiner Jungend, mit Krieg, Hubschraubern, Protestsongs und Pazifismus verbunden ist. Ein Land, mit dem ich mich schicksalhaft verbunden fühle, auch wenn es nur ein dünner Faden ist. „Vietnam“ war das Zauberwort meiner linken Vergangenheit, das Passwort zu einem kompletten Weltbild, in dem klar war, wer die Guten wer die Bösen sind. Auch als in den neunziger Jahren der Schlager „Ra-, Ra-, Rasputin“ von Boney M im Radio lief, habe ich daraus noch weit entfernt „Ho-, Ho-, Ho Chi Minh“ herausgehört.
Ho Chi Ming City, wie Saigon heute heißt, hat circa 12 Millionen Einwohner; man hat den Eindruck, dass sie alle im Moment anwesend sind und neben dir stehen. Gut wenn man auf dem Hinflug einen Platz am Gang hatte und sich schon daran gewöhnen konnte, ständig angeschubst zu werden, man wird auch in Vietnam ständig getätschelt und angefasst, wie man es bei uns nur aus Talkshows mit Michel Friedmann kennt. Man muss sich auch schnell an große Zahlen gewöhnen, der Geldautomat gibt höchsten 2 Millionen Dong heraus (das sind etwa 77 Euro). Vietnam hat heute etwa 90 Millionen Einwohner, bei einer umgedrehten Bevölkerungspyramide, es gibt fast keine alten Leute.
Sie kämen auch nicht über die Straße. Wie in Fischschwärmen bewegen sich die Motorradfahrer in einem ständigen Strom. Sie sehen so jung aus, dass man sich besorgt fragt, ob die überhaupt einen Führerschein haben. Viele tragen einen Mundschutz, so dass es so wirkt, als hätte man es mit einem Geschwader von Terroristen zu tun. Wenn man auf die andere Straßenseite will, muss man einfach losgehen und sich der Gemeinschaft anvertrauen und jedem Motorradfahrer die Chance geben, knapp hinter dir vorbeizufahren. Hier gilt das Wort von Wolf Biermann „Warte nicht auf bessre Zeiten“; es ist aussichtslos, der Strom wird nicht nachlassen, alles fließt, das Leben ist jetzt. Man muss einfach los. Es bleibt einem sowieso nichts walter ulbricht, wie man früher in der DDR sagte. Wie man an den oft fehlenden Rückspiegeln erkennen kann, gilt hier auch die Parole von Bob Dylan „Don’t look back!“ Es geht nach vorne, es geht voran. Seit 2008 ist Vietnam Schwellenland, im Jahre 2020 wollen sie eine Industrienation sein.
Wenn man etwas vom Krieg sehen will, muss man in die Museen. Im Kriegsmuseum werden die Fotografen gewürdigt, die mit ihrer Berichterstattung dazu beigetragen haben, dass die Stimmung kippte und zur größten Waffe gegen die USA wurde. Das Ho-Chi-Minh-Museum verzichtet auf schockierende Fotos, als würden sie den Ratschlag von Roland Barth befolgen, der sich gegen solche Darstellungen ausgesprochen hat und meinte, dass die Vorstellungen, die man sich in seinem Kopf macht, sowieso immer schlimmer sind als jedes Bild. Das Museum macht einen freundlichen Eindruck. Wir sehen Fotos von Freudenfesten, wir sehen den Dirigierstab von Dr. Ho-Chi-Minh, seine Reisschale, und eine Nachbildung des Schiffes, auf dem er als junger Mann nach New York ins Ungewisse aufbrach, um sich zunächst als Kellner durchzuschlagen, später nach Frankreich ging und 1919 an der Friedenskonferenz von Versailles teilnahm. Er hatte bis zu 50 verschiedene Pseudonyme und er war zweimal verheiratet – was zunächst geheim gehalten wurde. Man kann ihm sicher vieles nachsagen, aber nicht, dass er ein Freund der Chinesen gewesen wäre.
Seine Gießkanne ist ausgestellt. Die sieht man auch auf einem der alten Propaganda-Poster, die hier als Souvenir verkauft werden: Onkel Ho gießt eine Pflanze, die nur im Süden wächst, die nun aber bis in den Norden hineinragen soll, damit zusammenwächst, was zusammengehört. Die Teilung des Landes war härter als in Deutschland. Verwandtenbesuche gab es gar nicht, Postkarten nur unter Aufsicht des Roten Kreuzes. Die Trennung war eine alte Wunde, die Vereinigung ein alter Traum. Die letzte nicht gerade glückreiche Kaiserdynastie wurde extra in Hué, das etwa auf halbem Weg zwischen Hanoi und Saigon liegt, errichtet, um damit ein Zeichen zu setzen und eine bis dahin geltende Teilung zu überwinden. Ho Chi Minh war – so kommt es mir jedenfalls vor – in erster Linie Patriot, er liebte sein Vietnam mit seiner eigenwilligen Kultur. In der Bildung – hier glaube ich der Propaganda – sah der „große Lehrer“ eine Möglichkeit zum Aufstieg für die Armen, und so war er nicht kunst- und nicht intellektuellenfeindlich. Im Unterschied zu Diktatoren wie Pol Pot. Womöglich war der Wunsch nach Unabhängigkeit, nach Frieden und Wiedervereinigung die eigentliche Sehnsucht der Vietnamesen, stärker als der Traum von einer kommunistischen Zukunft.
Der Wiedervereinigungszug fährt nun durch – von Saigon über Hué nach Hanoi. Allein von Saigon nach Hué sind es tausend Kilometer. Wir wollen zum Bahnhof in der unberechtigten Hoffnung, dass wir uns da Karten reservieren können und in dem naiven Glauben, dass wir den Bahnhof zu Fuß erreichen und leicht finden. Dabei waren wir vorbereitet und hatten die Stadtpläne aus dem Reiseführer gerupft. Doch nun standen wir fußmüde und ratlos mitten im Gewimmel der Motorräder. Wir sahen nicht mal ein Hinweisschild. Man sagt ja gerne, dass man „nur Bahnhof versteht“, aber wir verstanden nicht mal, worum wir nicht mal den Bahnhof finden konnten.
Man kann nicht vietnamesisch radebrechen. Ähnlich wie im Chinesischen, wo verschiedene Töne gebildet werden, werden hier die einsilbigen Worte so unterschiedlich betont, dass der Fremde nicht mitreden kann. Die Buchstaben kommen einem auf dem ersten Blick bekannt vor, aber es bleibt ein Rätsel, in welchem Verhältnis das geschriebene Wort zum gesprochenen steht. Die Schrift wirkt seltsam unaufgeräumt, eine Vielzahl von Akzenten und Querstrichen verzieren die Buchstaben am unteren Ende, in der Mitte und vor allem oben, um klar zu machen, dass hier jeder noch so kleine Raum genutzt wird. Vielleicht soll damit auch auf die Vielfältigkeit des Lebens auf den Dächern, mit all den Leuchtreklamen, Pflanzen und dem Federvieh, das da oben lebt, hingewiesen werden. Wir hätten uns noch besser vorbereiten können, schließlich gibt es eine Internetseite, auf der alle Besonderheiten des Schienenverkehrs behandelt werden, und auf der zu lesen ist, dass man den Bahnhof in Saigon tatsächlich schwer findet.
Wir hatten es schließlich doch geschafft und sahen uns in Hué die bunte Kirche der Cao-Daisten an, die Jesus verehren, Konfuzius, Buddha und Victor Hugo, mit dem sie durch Seancen Kontakt aufgenommen hatten. Das mag lächerlich klingen, aber Anfang 1900, in der Gründungszeit der Cao Daisten, wurden ähnliche Versuche auch in Europa gemacht, auch wenn daraus keine Religion hervorging. Victor Hugo gilt nicht nur als großer Menschenfreund, sondern auch als Theoretiker in Gottesfragen, als Deist. Die Franzosen hatten ihn nach Vietnam gebracht. Außerdem den Kaffe, Wein, Baguette, Kohlrabi und anderes Gemüse, sowie die Guillotine, die von den Amerikanern für mobile Standgerichte weiterverwendet wurde.
Das Ideal vom guten Menschen, das Cao Daisten gebietet, nicht zu lügen und nicht zu töten, untersagt es ihnen nicht nur, Tiere zu töten und Fleisch zu essen, sondern auch, sich am Krieg zu beteiligen. Doch das hatten sie leider schon getan, als sie auf der Seite der Franzosen gegen Ho Chi Minh gekämpft hatten, nun war es für eine aus dem Glauben begründete Neutralität zu spät. Sie wollten selber nicht töten, mussten aber fürchten, nach dem Sieg der Kommunisten getötet zu werden. So kam es auch. Es gibt eben keinen Mittelweg.
Wie hätten wir uns entschieden? Wir waren drei Männer, die da auf den Treppenstufen der Kirche hockten. Alle drei Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten. Einer von uns Franzose, er hatte einen kontrollierten Selbstmordversuch unternommen, um der Einberufung zu entgehen – gut vorbereitet, es standen vier vollgetankte Autos in Bereitschaft, damit sichergestellt war, dass er zur rechten Zeit, im richtigen Krankenhaus beim richtigen behandelnden Arzt ankommen würde, der eingeweiht war und ihn wieder ins Leben zurückbrache. Der Ossi von uns, der obendrein den Dienst in der so genannten Spatentruppe verweigert hatte, wurde zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die aber, wie man wissen muss, als reine Erziehungsmaßnahme gedacht waren, den Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee hätte er danach trotzdem antreten müssen, oder weiter im Gefängnis bleiben, oder aber sich für die Einsatz bei der Baikal-Amur-Magistrale verpflichten – wenn es nicht alles ganz anders gekommen wäre. Der dritte war ich, bei mir war es beschämend einfach, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Trügerisch einfach. So lässt es sich gut vom Frieden träumen.
Der Liedermacher Trinh Cong Son musste jahrelang in ein Umerziehungslager. Er gilt als der Bob Dylan von Vietnam. Was ihn vor allem von Bob Dylan unterscheidet ist sein fehlender Weltruhm. Ganz abwegig ist die Zuschreibung jedoch nicht. Er hinterließ neben seinen Politsongs auch zahlreiche Liebeslieder und obendrein buddhistisch beeinflusste Kunststückchen über das Schicksal und über den Tod. Er war politisch, aber nicht politisch genug. Schon die Liebeslieder waren verdächtig, die pazifistischen erst recht. Er hatte es sogar gewagt, den „Amerikanischen Krieg“ als „Bürgerkrieg“ zu bezeichnen, und so waren seine Lieder sowohl im Norden als auch im Süden verboten. Auch heute noch muss eine Veranstaltung, bei der seine Lieder präsentiert werden, von der Kulturpolizei genehmigt werden.
Er wurde im Krankenhaus zum Liedermacher, er hatte einen Sportunfall, doch da bin ich nicht sicher. Womöglich habe ich das nicht richtig verstanden, vielleicht hatte er sich auch selbst Verletzungen zugefügt, um dem Krieg zu entgehen. Ich verstand von den Liedern auch nicht viel. Nur soviel, dass ich sagen kann, dass sie gut sind, sie sind anspruchsvoll und traurig. Es war gesteckt voll im „Social Club“ in Hanoi, die meisten standen oder hockten auf dem Boden wie bei einer Kinderveranstaltung. Manche Lieder waren bekannt, manche hinterließen Stille. Es waren nur junge Leute da (jedenfalls kam ich mir alt vor); freundliche Vietnamesen, die den Krieg wahrscheinlich nur vom Hörensagen kannten und sich nun selbst und ihre Geschichte besser kennen lernen wollten. Anschließend wurde diskutiert, wie man das bei uns auch von politischen Veranstaltungen kennt, jedoch in einem ruhigen, angenehmen Ton, wie man ihn bei uns nicht kennt.
Von den Texten, die nur zum Teil übersetzt wurden, konnte ich nur Bruchstücke mitnehmen. Doch diese Bruchstücke sagten mir immerhin soviel, dass ich nicht sagen muss, dass ich nur „Bahnhof“ verstanden hätte. Die Formulierung „Ich verstehe nur Bahnhof“ kommt aus dem Ersten Weltkrieg. Mit „Bahnhof“ war der Befehl zum Rückzug gemeint. „Ich verstehe nur Bahnhof“, wurde von Soldaten gesagt, die so verzweifelt waren, dass sie nur noch nach Hause wollten und damit ausdrückten: Der einzige Befehl, den ich entgegennehme, müsste lauten: „Bahnhof“. Wenn man diese deutsche Sprachschöpfung ins Englische übersetzen wollte, könnte man vielleicht sagen: Sie heißt soviel wie: „I am dreaming of a white Christmas.“