Gerechtigkeit und Ungleichheit

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„Gerechtigkeit“ ist im Alltagsbewusstsein ein ebenso gängiger wie unscharfer Ausdruck. Dass dieser oder jener Sachverhalt ungerecht sei, das wird gerne und häufig vorgeworfen.

Und es wird damit die Erwartung verknüpft, dass der angesprochene andere Mensch doch bitte unmittelbar einsehen müsse, dass die Aussage, es bestehe eine Ungerechtigkeit, berechtigt und zu unterstützen sei.

Eine solche subjektivistische Forderung ist naiv, denn sie versäumt es darzulegen, aus welchen Gründen und gemessen wie und woran denn etwas ungerecht sei. Wer dies versucht wird bemerken, dass dies so einfach gar nicht ist. Nicht ohne Grund reflektiert die Philosophie seit der Antike bis in unsere Tage diesen Begriff.

Beispielsweise wird in der Gleichstellungspolitik ohne nähere Analyse ständig pauschal behauptet, eine Unterrepräsentanz von Frauen – im Hinblick auf lukrative berufliche Positionen – sei ungerecht. Die sogenannte „Geschlechtergerechtigkeit“ sei verletzt. Und diese Behauptung dient dann als moralische Legitimation für Männerdiskriminierung. Aber weder wird das jemals tragfähig begründet noch wird auf die publizierten kritischen Einwände überhaupt eingegangen, geschweige, dass sie widerlegt würden. Und das ist aufgrund der derzeitigen Verteilung der Machtpositionen tatsächlich nicht nötig – allerdings auch n u r deswegen. Und deshalb besteht hier eine Begründungslücke.

Mit dem von Minister Schäuble verwendeten Ausdruck der „Gerechtigkeitslücke“ wird – aus der Perspektive derer, die sozial „oben“ sind – immerhin eingeräumt, dass die Empfindung derer, die sozial „unten“ sind, sie seien sozial und ökonomisch in einer ungerechten Weise benachteiligt, zumindest nicht falsch sei. Diese Aussage bedarf jedoch der empirisch-statistischen Objektivierung, und dieser Aufgabe haben sich Joachim Bischoff und Bernhard Müller in dem Artikel „Europameister in sozialer Ungleichheit“ gestellt.

Eine ihrer Kernaussagen lautet:

„Der im Bundesbank- wie EZB-Bericht dokumentierten krassen Ungleichheit in der Verteilung der Vermögen (und der Einkommen) innerhalb und zwischen den Nationen des Euroraums unterliegt die wachsende Spreizung der Primäreinkommen. Diese Disparitäten in der Einkommens- und Vermögensverteilung sind aber nicht nur sozial ungerecht, sondern bedrohen auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Stagnierende bzw. sinkende Lohneinkommen und Sozialtransfers wie auch die durch die steuerliche Begünstigung der Vermögenseinkommen erzwungene Begrenzung der Staatsausgaben (Kürzungen öffentlicher Ausgaben für die Infrastruktur und Dienstleistungen) schwächen die inländische Nachfrage. Um aus deflationären Konstellation herauszukommen, gibt es reichlich gesellschaftliche Stellschrauben. Dazu gehören auch die massiven Eingriffe in die Verteilungsstrukturen (Erhöhung der Einkommenssteuer für Besserverdienende, Wiedereinführung der Vermögenssteuer etc.), die die Vermögensbesitzer zur Finanzierung öffentlicher Investitionen (Erhalt und Ausbau des öffentlichen Vermögens) und zur Begrenzung der staatlichen Verschuldung heranziehen. Für einen solchen Kurswechsel zeichnen sich allerdings gegenwärtig keine mehrheitsfähigen gesellschaftlichen Bündnisse ab.“

Es geht hier also speziell um ökonomische Verteilung im Allgemeinen, und es geht um die   „Verteilungsgerechtigkeit“ im Besonderen; letztere wird in ihrem Artikel sowohl von der subjektiven wie von der objektiven Seite im europäischen Vergleich angegangen, um nachzuweisen, dass die ökonomische Ungleichheit in Deutschland besonders ausgeprägt sei.

Fazit: Sozioökonomische Ungleichheit kann und muss unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden.

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Erstens geht es um eine soziostrukturelle Analyse im Hinblick auf die verschiedenen sozialen Lebenslagen und ihre jeweilige sozioökonomische Bedingtheit, also um die Konstitution und Reproduktion sozialer Klassen und Schichten.

Zweitens muss die seit David Ricardo zentrale Frage der Funktionalität bzw. Dysfunktionalität der  sozioökonomischen Verteilung im makroökonomischen Kreislaufzusammenhang untersucht und beantwortet werden; heute hat sich dies besonders Heiner Flassbeck zur Aufgabe gemacht.

Drittens geht es um die Frage, ob und inwieweit die ökonomische Ungleichheit und ihre Veränderung im Zeitablauf im Hinblick auf verursachende Handlungen und auf die Auswirkungen moralisch begründet und gerechtfertigt werden kann. Das ist besonders schwierig bzw. unmöglich, wenn die  Kinderarmut thematisiert wird, denn Kinder tragen keine auch nur denkbare Verantwortung für ihre soziale Lage (vgl. „Verschämte und verschleierte Armut“).

Viertens muss, z. B. aufgrund der AGENDA-Politik des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts,  aus sozialpolitischer Perspektive die Frage aufgeworfen werden, ob und ggf. inwieweit die Bundesrepublik Deutschland noch der Norm des Art. 20 des Grundgesetzes entspricht:
Art. 20 (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

 

guenter buchholz
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Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.