Politik als Event – offener Brief an Jürgen Trittin

Juergen Trittin

Offener Brief

an den Bundestagsabgeordneten und Fraktionsvorsitzenden der „GRÜNEN/ BÜNDNIS 90“, Jürgen Trittin, bezugnehmend auf den Essay von Harald Welzer „Das Ende des kleineren Übels“, Spiegel 22/ 2013 und die Erwiderung von Jürgen Trittin „Kämpfen oder Schmollen“, Spiegel 27/ 2013

Juergen Trittin

Vor der Wahl ist nach der Wahl!

Auch nach der Wahl wird es eine Perspektive für künftige politische Führung nur mit einem Mehr an direkter Demokratie geben!

„Der Volksmund, der heute gab, wird morgen nehmen, ganz nach Laune.(Horaz)

Wenn jetzt wieder die Bühne des Bundestagswahlkampfes eröffnet wird, ist es immer förderlich, in die Vergangenheit zu schauen, um die gegenwärtige gesellschaftliche Situation in einen Zusammenhang mit der Politik der Vergangenheit zu bringen und den darin handelnden Akteuren. Dieses werde ich hiermit beispielhaft tun.

Vor einigen Wochen hatte ich ein Gespräch mit einem gut ausgebildeten jungen Mann. Dieser sagte mir: „… Die heutigen Politiker im Parlament wirken für mich wie Fremde im eigenen Land!“ Wir waren uns einig: Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich übrigens bin 62 Jahre alt. Für mich ist die Übergangszeit der Wahl des kleineren Übels bereits vor H. Welzers veröffentlichem Essay zu Ende gegangen. Der genannte junge Mann wählt nicht mehr und das schon seit Jahren und ist seinem eigenen Selbstverständnis nach unzweifelhaft demokratisch und rechtstaatlich orientiert und dabei durchaus an gesellschaftspolitischen Themen interessiert.

Ihr Vorwurf des „Schmollens“ in bezug auf die Mentalität von „Nichtwählern“ ist nichts weiter als eine rhetorische Konstruktion, die letztlich an das Gewissen des möglichen Wählers des „kleineren Übels“ appellieren soll vor der jetzt anstehenden Bundestagswahl, sonst gar nichts! Wissen Sie nicht, dass bei jedem der Wendepunkt bei der Wahl des „kleineren Übels“ eines Tages überschritten sein wird? Haben Sie noch nicht mitbekommen, daß die NICHT-WÄHLER mittlerweile die stärkste Partei im Land sind und die Wahlbeteiligung ein Rekord-Tief seit dem Ende des II. Weltkrieges erreicht hat?

Sie dagegen rufen trotz aller seit Jahren öffentlich bekannten politischen Aktivitäten H. Welzers diesem vollmundig und wortradikal zu, in seiner Haltung drücke sich eine „undemokratische Arroganz“ aus. Sie, an der Seite der von Ihnen beschworenen „gesellschaftlichen Mitte“, die den Kampf um die politische Macht aufnimmt und die sich dabei gegen die „Anti-Demokraten“, die nicht wählen gehen, positionieren muss. Sie haben den Nicht-Wähler als Ihren politischen Feind auserkoren. So einfach lösen Sie mit immer neuen Worthülsen und Etikettierungen die vorhandenen gesellschaftlichen Erosionen und die breite Kritik an Politik und Institutionen auf, die alle Teile der Gesellschaft erreicht hat.

Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass die Beteiligung bei den Kommunalwahlen in einzelnen Kommunen bzw. Stadtteilen um 20 % liegt? Diese Zahl ist in jedem Fall besorgniserregend und hat für mich unmissverständlich etwas mit dem Modell gegenwärtiger Politik zu tun, die seit dem Ende des II. Weltkrieges für verschiedene Politiker und Parteien offensichtlichlich immer noch richtungsweisend ist! Sie dagegen sagen, „Politikverdrossenheit“ sei das Argument des „Stammtisches“, der ja übrigens in vergangenen Zeiten eng mit dem Tabakgenuss verbunden war, dem Sie jetzt den Garaus gemacht haben. (Stammtisch, auch so ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert, der langsam ausstirbt.)

Doch was für ein Wort würden Sie anstatt Politikverdrossenheit bevorzugen, angesichts solcher Quoten an Wahlbeteiligung? Die niedrige Wahlbeteiligung ist ja eine Tatsache, Stammtisch hin oder her! Ich frage Sie, ab welcher Quote Wahlbeteiligung nach unten hin würden Sie nicht mehr von einer demokratischen Legimitation der gewählten Parteien/Politiker sprechen? Bei Ihnen hat es sich noch nicht herumgesprochen, dass die Krise (in allen demokratischen Gesellschaften Europas) sich darin ausdrückt, dass der Bürger diese als ein Ungenügen der Politik und ihrer Institutionen wahrnimmt, die nicht mehr zu den Bedürfnissen der Bürger passen will. Sie dagegen werfen H. Welzer vollmundig die „Verachtung der Demokratie“ vor – ein rhetorisch und demagogisch „starkes“ Stück, aber auch nicht mehr, weil dieser zu dem Schluß kommt: „… Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung eines Einverständnisses mit der Politik der Parteien.“

Wenn Sie also H. Welzer „Verachtung der Demokratie …“ vorwerfen, dann frage ich Sie, wer Ihnen die Definitionshoheit erteilt hat, wie Demokratie heute und in der Zukunft auszusehen hat? Hat es sich in Ihrer Partei und in den Parlamenten noch nicht herumgesprochen, dass diese Krise eine systemische ist? Haben Sie überlesen, das H. Welzer z.B. von der Abschaffung des Fraktionszwanges spricht, dass er von der Einführung direkt demokratischer Beteiligung spricht, dass er von der Abschaffung des Berufspolitikertums spricht? Die herrschende Politik und ihre Institutionen können sich nicht mehr aus sich selbst heraus reformieren. Eine grundlegende Veränderung ist angesagt; wie das gehen könnte, darüber müsste eine große gesellschaftliche Diskussion eröffnet werden, die von allen Parteien und Institutionen gewollt und angeregt werden muss und für die „Orte und Plätze“ eingerichtet werden müssten.

Eine mündige Bürgerschaft, die das Gemeinwesen zu ihrer eigenen Sache erklärt, ist nur mit einem gehörigen Mehr an direkter Demokratie möglich

Die Perspektiven für ein zukünftiges Politikverständnis liegen nicht in Ihren vorgetragenen absurden Polarisierungen, sondern in Förderugen einer mündigen Bürgerschaft. Dieses ist nur mit mehr direkter Demokratie möglich! Davon sind Sie und alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien bisher jedoch weit entfernt. Ich wohne in Köln (steht hier symbolisch für die vorherrschende Kommunalpolitik) und bekomme täglich die wirklich haarsträubenden Vorkommnisse rund um Politik und Verwaltung mit. Die ritualisierten Mechanismen der Vorteilsnahme im Namen der eigenen Partei und Person, das „Pöstchen-Geschachere“, die Vorteilsnahme für sich selbst, die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, indem diese von einem Amt zum anderen, von einer Partei zu anderen geschoben wird usw., oder man bekommt die Auskunft, man wisse einfach nicht, wie, wann, wo was geschehen sei … und, und, und. Diese Politik wird auf den verschiedensten Ebenen seit Jahren unerschütterlich immer wieder neu reproduziert, wobei nur noch die wechselnden politischen Akteure für so genannte „Veränderungen“ sorgen.

Natürlich mischt die Partei der „Grünen“ da voll mit. Der Bürger ist hier der letzte Störenfried im Glied. Das alles geschieht täglich, stündlich, ohne Aussicht auf Änderung! Ich rede hier immer auch über die Politik quer durch alle Parteien! Forderungen, wie die der „Partei der Nichtwähler“, sind vermutlich Ihrer und auch den anderen im Bundestag vertretenden Parteien vom eigenen Selbstverständnis her wesensfremd, da diese perspektivisch unmissverständlich auch an Ihrer bisherigen Daseinsberechtigung Zweifel aufkommen lassen.

Die zukünftige Perspektive für politische Führung und Gestaltung heißt nicht Mitgliedschaft und Gefolgschaft, sondern Einführung verschiedenster Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung. Die Parteien jedoch werkeln munter weiter vor sich hin und glauben jeweils, dass sie sich selbst weiter über die vermeindliche „Schwäche“ des politischen Gegners definieren und profilieren können. Das übliche Wahlkampfgeträllere wie seit Jahren wird also fortgesetzt und findet kurz vor dem Bundestagswahlkampf immer wieder seinen traurigen Höhepunkt. Und Sie glauben, dass das keiner merkt?

Folglich sind es Forderungen wie die der „Partei der Nichtwähler“, vor denen Sie sich fürchten müssen, weil sie ihre eigene politische Existenz als Berufspolitiker letztlich in Frage stellen:

  • Strikte Trennung von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat
  • Begrenzung der Abgeordnetenmandate und Regierungsämter auf zwei Legislaturperioden
  • Ankoppelung der politischen Tätigkeit auf zwei Legislaturperioden
  • Beschränkung der staatlichen Parteienfinanzierung auf die reine Erstattung der Kosten für einen
  • angemessenen Wahlkampf
  • Abschaffung des Fraktionszwanges
  • Abwahlmöglichkeit von Amtsinhabern

Nun, Herr Trittin, wie wäre es für das Eintreten solcher Forderungen und deren Umsetzung? Sie und Ihre Partei sowie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien werden sich solche zukunftsweisenden Forderungen nicht zu eigen machen, weil es für Sie in erster Linie um Selbstabsicherung geht. Diese Mechanismen verlaufen übrigens nicht anders wie in der Wirtschaft, im Management etc. Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass es darüber z.B. vom Max-Planck-Institut aussagekräftige Untersuchungen gibt?

Die oben genannten Forderungen scheinen mir u.a. geeignet zu sein, dieser Strategie ein Ende zu bereiten, deshalb wiederum werden Sie diese „ausschweigen“, da sie es wagen, das Bestehende in Frage zu stellen, um etwas Neues zu versuchen, mit Beteiligung aller gesellschaftlichen Schichten und mit den Möglichkeiten an einem Mehr an direkter Demokratie. Das vorherrschende in der Politik ist mit der Beschreibung von „Fehlern“ in keinster Weise erklärt, denn es handelt sich um systemische Ursachen. Die Idee der Gestaltung eines Gemeinwesens, bei dem man das Gefühl hat, sich als Mensch mit anderen selbst regieren zu können und wo dabei dem Einzelnen tatsächlich das Wort erteilt wird, ist bar jeglicher Realität in dieser politischen Verfassung und Praxis.

Herr Trittin, Sie sind ein Demagoge in der Definition „… der die Sache, die er durchsetzen will, für die Sache aller Gutgesinnten ausgibt, und die Art und Weise, wie er sie durchsetzt oder durchzusetzen vorschlägt, als die einzig mögliche hinstellt „. (Martin Morlock, 1977)

„Es gibt kein Recht auf Faulheit“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder)

Doch mit wem ich es zu tun habe, wurde mir endgültig klar, als Sie schrieben: „Eine billige Ausrede für die linke Selbstentmachtung ist … dass es auch Hartz IV und Steuersenkungen gegeben hat …“. Abgehakt als „Selbstkritik“ unter dem Motto: „… denn das unterstellt, aus Fehlern und Niederlagen nicht lernen zu können“. Herr Trittin, das waren keine Fehler, sondern bewusste politische Entscheidungen mit Ihrer Regierungsbeteiligung! Das ist genauso billige Rhetorik wie Heidi Klum sie bringt, wenn ihr jetzt nach zwanzig Jahren „Next Top-Model“ „auffällt“, diese Sendung sei „sehr eindimensional“. Zur Ergänzung Ihres „politischen Stammbuches“ mit Ihrer Beteiligung nehmen wir zuerst das Arbeitslosengeld II, seit 2005 auch Hartz IV genannt.

Diese „Reform“ wurde von ihrem Regierungspartner Gerhard Schröder tatsächlich mit der Aussage eingeläutet: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“! Diese Art von Zynismus erinnert an die finstersten Zeiten deutscher Vergangenheit! Doch was zog dieses Gesetz bis heute nach sich? Seit diesem Zeitpunkt wurden 356 Milliarden Euro nicht nur für tatsächliche Leistungen ausgegeben, sondern auch die Verwaltungskosten verschlingen eine gigantische Summe. 2012 bezogen insgesamt 4,5 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt.

1,3 Millionen dieser Bezieher/innen waren erwerbstätig, mussten also aufstocken, davon sind 300 000 Vollzeitstellen. Im Durchschnitt (!) verdienen die sogenannten Aufstocker 6,20 Euro BRUTTO die Stunde. Mittlerweile sind wir das Land mit dem größten Anteil an Geringverdienern in Europa, getoppt nur noch von Litauen (siehe dazu die jüngste Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB, anhand eines Vergleichs von 17 EU-Staaten). Sie treten großspurig für einen Mindestlohn von 8.50 Euro ein, während bereits vor drei Jahren die zugrunde gelegte Niedriglohnschwelle bei 9.54 Euro brutto lag. Der abhängig Beschäftigte verdient ohne Aufstockung 15.00 Euro die Stunde. Aus Steuergeldern mussten allein für „Aufstocker“ 7 Milliarden Euro aufgebracht werden, weil die Arbeitgeber Niedriglöhne zahlen. Im Einzelhandel sind es 1,5 Milliarden Euro gewesen, die die Unternehmen dank der Politik sparen konnten!

Mit der „Agenda 2010“, den Arbeitsmarktreformen der „Rot/Grünen “ Bundesregierung ab 2003, hat sich die Anzahl der verliehenen Arbeitsplätze nahezu verfünffacht. Heute sind inzwischen 18 500 Firmen bei der Agentur für Arbeit gemeldet, die Menschen auf Arbeitsplätze verleihen oder sie per Werksvertrag für andere Auftraggeber arbeiten lassen. Die offizielle Zahl der Leiharbeitsbeschäftigten lag zuletzt im Jahr 2012 bei 822 000; zusammen mit den Werksverträgen dürften sie die Millionengrenze sprengen.

Einen höheren Anteil von Geringverdienern als Deutschland hat im Vergleich von 17 EU-Staaten nur noch Litauen.

Doch damit nicht genug der „Fehler“, wie sie politische Beschlüsse und Entscheidungen mit Ihrer Mitwirkung nennen. Mit Ihrer Regierungsbeteiligung (Rot/Grün) ist ein gigantischer Niedriglohnsektor geschaffen worden, mit prekären Arbeits-und Lebensverhältnissen, der in Europa seinesgleichen suchen kann. Das Heer der sogenannten „atypisch Beschäftigten“ wächst massiv. Zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen zählen alle befristet Beschäftigten, aber auch Mini-und Midi-Jobber, Teilzeitbeschäftigte mit einer Wochenarbeit unter 20 Stunden und Leiharbeitnehmer/innen und Werksverträgler. Summa summarum waren es 2011 insgesamt 7,81 Millionen Menschen, davon allein 4,89 Millionen Personen, die ausschließlich einen Mini-Job auf 400-Euro-Basis hatten. Das sind fast acht Millionen Menschen in prekären, also unsicheren Arbeitsverhältniseen, gut ein Fünftel aller Beschäftigten. Laut statistischem Bundesamt sind knapp 20% der Bevölkerung in Deutschland von Armut bedroht. Die unsicheren Beschäftigungsverhältnisse sind bis 2010 mittlerweile um 3,5 Millionen angestiegen, die Normalarbeitsverhältnisse als sozialversicherungspflichtige Voll- und Teilzeitstellen über 20 Stunden um 3,8 Millionen Menschen gesunken. Diese unsicheren Arbeitsverhältnisse führen zu Verhältnissen wie auf einem großen Basar. Das vermeintlich „kleinere Übel“ wird auch hier ad absurdum geführt. Die Agenda 2010 war nicht das „kleinere Übel“, sondern hat uns ein soziales Gefüge hinterlassen, in denen die Nebenwirkungen des Medikamentes, das einst versprach zu heilen, jetzt das Hauptproblem geworden sind. Heute geht es stattdessen mehr und mehr um die Frage: Wie wollen wir leben und in welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Sie hingegen halten Ihr demagogisches Gerede wohl für „unübertroffen“ und bauen einen unsäglichen Popanz auf, indem sie H. Welzer scheinbar mit „links“ überholen und denunzieren und ihm vorhalten, er würde die schlechte deutsche Tradition, die Verachtung der Politik, hinter der die Verachtung der Demokratie steckte, wieder aufwärmen. Und das alles in Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten von H. Welzer, die seit Jahren öffentlich bekannt und zur Diskussion stehen.

„Wir haben bestimmte Steuersätze gesenkt … das war übrigens das Modell von Oskar Lafontaine“ (Jürgen Trittin, Juli 2013)

Ich komme jetzt zu einem weiteren „Fehler“ mit Ihrer Regierungsbeteiligung.

Als ich kürzlich ein Interview mit Ihnen in der „AZ“ las, in dem Sie sich u.a. zur Steuerpolitik in der „Rot/Grünen“ Regierung mit Herrn Schröder äußerten, wurde mir Ihre Demagogie und die Art und Weise, wie sie Ihre eigenen Spuren verwischen und Ihre eigentliche Verantwortung im Undurchsichtigem lassen, vollends deutlich. Sie sagten: „… Wir haben bestimmte Steuersätze gesenkt, in der Hoffnung, dass mehr Geld reinkommt – das war übrigens das Modell von Oskar Lafontaine“.

Zunächst zu ihrer Verschiebung der Verantwortung auf O. Lafontaine. Soweit es sich nachvollziehen lässt, hat sich O. Lafontaine 1998/99 in seiner kurzen Amtszeit für die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15% (Steuerentlastung) für Niedrigverdiener eingesetzt. Doch die Steuersenkungen, die Sie mit Ihrer Regierungsbeteiligung in Folge unter H. Eichel als Finanzminister – mit dem Sie sich völlig einig waren – tatsächlich durchgesetzt haben, waren in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos.

„Das größte Geschenk aller Zeiten“, so die Zeitschrift „Zeit“, war die Unternehmenssteuerreform an Konzerne zu Lasten der Allgemeinheit“. Sie sagen den Leuten dazu jetzt vor der Wahl ins Gesicht: Man kann sich doch mal irren! Noch im Jahr 2000 hatte der Bund 23,6 Milliarden Euro Körperschaftssteuer von den Kapitalgesellschaften eingenommen. Nach Inkrafttreten von Eichels Reform im Jahr 2001 mit Ihrer Beteiligung fielen diese Einnahmen nicht nur komplett weg – die Firmen bekamen sogar noch fast eine halbe Milliarde vom Fiskus ausgezahlt.

Die Einkommensungleichheit ist insbesondere seit 2005 (seit der Einführung von Hartz IV durch die Bundesregierung „ROT/GRÜN“) deutlich angestiegen. Die Politik hat diese Entwicklung nicht gebremst, im Gegenteil. Die hohen Einkommen wurden steuerlich massiv entlastet, der Spitzensteuersatz sank beispielsweise in mehreren Stufen von 56% im Jahr 1990 auf 42%. Die Mehrwertsteuer, die die geringen Einkommen besonders belastete, wurde dagegen erhöht.

In der „NRZ“ vom 12.07.13 sagen Sie vollmundig: „Wir sind die Partei der Freiheit“ und erklärten dem Leser, warum Verbote Ausdruck von Liberalität sind. Es folgt Ihr „Freiheitsgedanke“ anhand des von Ihnen forcierten Gesetzes des Rauchverbotes. Ihr Freiheitsgedanke beschränkt sich in diesem Fall auf die Einschränkungen für Raucher, zugunsten derer, die sich ohne Tabakrauch auch in Eckkneipen aufhalten möchten, wie Sie sagen; doch diese „Eckkneipen“ sind im Aussterben begriffen bzw. es werden wohl jetzt die letzten verbliebenen verschwinden.

Es geht mir hier nicht um das Thema der unseligen Polarisierung Raucher – Nichtraucher, die in jüngster Zeit, nach der Gesetzgebung seltsame Blüten getrieben hat, bis zu selbst ernannten „Anti-Raucher-Bürgerwehren“, die in den Gasthäusern verdächtige Gastwirte und Raucher mit Fotos dingbar machten. Es geht mir darum, dass Sie mit dem Argument des Rauchverbotes antworten, als der Interviewer sie fragt „Sind sie heute eine Partei der Verbieter?“, und sie darauf tatsächlich antworten, das sie eine „Partei der Freiheit“ seien. Das Rauchverbot als ein Modell der Freiheit. Soweit ist es mit dem Freiheitsgedanken der europäischen Aufklärung gekommen. Es ist wirklich erschütternd! Der Advokat der Freiheit winkt hier mit Reglementierungen und Verboten im Namen der Freiheit. Wirklich sehr originell !

Was ist aus dem Gedanken der Freiheit geworden? Der Freiheitsgedanke winkt hier mit der Gesetzeskeule, und zwar unabhängig von Zigarettenrauch oder sonst was. Wie wäre es damit, dass Sie statt Regulierungen, Reglementierungen und Verbots-Gesetze dem einzelnen Bürger eine Risikokompetenz zugestehen würden und die Möglichkeit anbieten, diese auch lernen zu können, und zwar möglichst früh, von der Schule an. Da bin ich wieder bei der mündigen Bürgergesellschaft angekommen. Na, möchten Sie dafür etwas Geld ausgeben, dass schon in der Schule Risikokompetenz gelernt wird? Doch jede Fahrt im Gruselkabinett einer Geisterbahn hat auch ein Ende. Meine Fahrt hat hier ihr Ende erreicht.

Sie sind einer der Sprechblasen-Politiker, der sich selbstverständlich nicht scheut, wie kürzlich bei einer Wahlkampftour kanufahrend auf der Werra – natürlich festgehalten in einem Zeitungsfoto, Seite 1 (KSTA) -, auch mal unfreiwillig baden zu gehen. Hier wären wir schon beim nächsten Kapitel: Politik als Event! Das wäre jedoch ein neues Kapitel, das allerdings vermutlich irgendwo längst geschrieben wurde. Doch wahrscheinlich wissen viele Politiker nicht, von was hier die Rede ist.

Es grüßt Sie

zugegeben ohne viel Hoffnung auf „Besserung“

Friedrich Bensch, Köln, 15.08.2013

Verwendete Literatur

  • Jens Bergmann, ICH, ICH, ICH, Wir inszenieren uns zu Tode
  • Steffen Mau, Lebenschancen, Wohin driftet die Mittelschicht?
  • VER.DI. PUBLIK 04/2013
  • „AZ“, 22.06.2013
  • „NRZ“, 12.07.13
  • www. parteidernichtwaehler.de
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