Von Vorurteilen befreit: Medien in Deutschland zu Polens Rolle in der Europäischen Union

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Polens Weg in die EU

Vorrangiges Ziel der polnischen Außenpolitik seit 1989 war der Beitritt zur Europäischen Union. Neben historischen und ökonomischen Gründen spielten dabei auch sicherheitspolitische Überlegungen eine wichtige Rolle.

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Schon am 19. September 1989 wurde ein „Abkommen über die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen Polen und der Vorläuferorganisation der EU, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), unterzeichnet.

Am 25. Mai 1990 beantragte Polen, über ein Assoziierungsabkommen zu verhandeln. Der Vertrag konnte bereits am 16. Dezember 1991 unterzeichnet werden. Die Verhandlungen auf Antrag Polens vom 8. April 1994 über einen Beitritt zur EU dauerten bis Dezember 2002. Polen ist Vollmitglied der Europäischen Union seit dem 1. Mai 2004. Am 1. Juli 2011 übernahm Polen die EU-Ratspräsidentschaft, die jeweils auf sechs Monate begrenzt ist. Mit dem ursprünglich für 2012 angestrebten Beitritt auch zum Euro-Raum lässt sich Polen inzwischen „lieber Zeit“, berichten deutsche Zeitungen, wegen der aktuellen Turbulenzen und angesichts von bloß 13 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung bei Umfragen. (1)

„German Angst“ am Anfang

Deutschlands Arbeitsmarkt würde überschwemmt von Polen und anderen Osteuropäern, die dann den Deutschen Arbeitsplätze wegnähmen. Noch kurz vor dem Fall der Restriktionen fasste z. B. das Wirtschaftsmagazin Focus Money die öffentliche Stimmung samt weit verbreitetem Meinungsbild so zusammen: „Arbeitnehmerfreizügigkeit/Die Angst vor den Nachbarn im Osten“(2). 72 Prozent der befragten Deutschen erwarteten eine höhere Arbeitslosigkeit durch billigere Arbeitskräfte, 64 Prozent befürchteten sogar einen Ansturm. (3)

Bei der Osterweiterung der EU hatte Deutschland für seinen Arbeitsmarkt eine Sonderregelung durchgesetzt. Erst sieben Jahre nach dem Beitritt in die EU, also erst seit dem 1. Mai 2011, gilt Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auch für die neuen Bürger der EU. Profitiert von dieser Blockade haben vor allem Großbritannien und Irland. Dort waren die osteuropäischen Neubürger von Anfang an willkommen. Deutschland ging am Ende nahezu leer aus.

Denn im ersten Jahr nach der Öffnung kamen aus acht Ländern Osteuropas bloß 90.000 Arbeitnehmer, statistisch waren dies lediglich 1,1 Prozent. Der Westdeutsche Rundfunk bilanziert: „Den Arbeitsmarkt abzuschotten war ein Fehler“. „Fachkräftemangel“ ist aktuell eines der zentralen Themen in der politischen Diskussion und somit in den deutschen Medien. Zudem konnten sich durch die späte Öffnung illegale Formen von Beschäftigung entwickeln, Schwarzarbeit und Scheinselbständigkeit mit Steuer- und Sozialversicherungsbetrug. „Dubiose Baufirmen oder Haushalte, die eine Pflegerin brauchen, sind die einzigen, die von den Osteuropäern profitieren. Den großen deutschen Unternehmen dagegen hat die späte Öffnung des Arbeitsmarktes – anders als versprochen – nichts gebracht, weil die Fachkräfte schon früh in andere EU-Staaten ausgewandert sind. Der Fachkräftemangel ist somit auch die Folge der jahrelangen Abschottung des Arbeitsmarktes.“ (4) „Ökonomisch klug war es nicht. Dafür aber politisch sehr opportun“ (5), also vermuteten innenpolitischen Platzvorteilen geschuldet.

Viel zu spät musste sich die Bundesagentur für Arbeit selbst nach Polen auf den Weg machen, um vor Ort Arbeitskräfte anzuwerben. (6)

Heute wird Polen als Vorbild in der EU und …

Die überregionale Tageszeitung „Die Welt“ staunt: „Warum eigentlich ist nun ein Land, dessen ‚polnische Wirtschaft’ in älteren deutschen Wörterbüchern als Synonym für Misswirtschaft fungierte, in den letzten Jahren so gut durch die Krise gekommen? (…) Die polnische Hausfrau hat solide gewirtschaftet und keine Geschenke verteilt. (…) Aber die Polen haben gelernt, was manche in der EU schon wieder verlernt haben: die Ärmel hochzukrempeln. Europa wird die polnischen Tugenden noch gut brauchen können.“ (7)

… für Deutschland gezeigt

Die Bild-Zeitung, stärkstes Massenblatt, sieht sich in Übereinstimmung mit dem obersten Repräsentanten Deutschlands: „Ist Fleiß noch eine typisch deutsche Tugend? Oder überholen uns unsere Nachbarländer beim Wirtschaftswachstum, weil sie bereit sind, härter anzupacken? ‚Polen sind fleißiger als Deutsche’, sagte Bundespräsident Joachim Gauck (…) beim Treffen mit seinen Amtskollegen aus Italien und Polen in Neapel, bei dem er das aufstrebende Polen als ‚Motor der europäischen Idee’ würdigte. Eine Provokation? Sicher. Aber mit realem Hintergrund…“ (8)

Der Weg zum Erfolg

Analysiert und bewertet wird der Aufstieg Polens in der Presse wie folgt:

1. Stabile Regierung

Erstmals seit 1989 hat eine polnische Regierung volle vier Jahre amtieren können und anschließend eine Wahl gewonnen. Das Kabinett unter Donald Tusk „ist eine der stabilsten Regierungen in Europa. Das wirkt auch nach außen: Die Ratspräsidentschaft Polens in der EU kann sich sehen lassen. (…) Eine ruhige Hand zu behalten in einer Gesellschaft, die in den letzten 22 Jahren so dramatische Umbrüche erlebt hat wie die polnische, ist schon an sich eine besondere Leistung.“ (9)

2. Starke Wirtschaft

So bilanziert z. B. das „Handelsblatt“: „Das neue Kraftzentrum in der Mitte Europas, Polens Wirtschaft brummt unaufhörlich und inzwischen ist das Land zu einer neuen Lokomotive für die Wirtschaft in Europa geworden. Viele Ökonomen sprechen vom ‚Wunder an der Weichsel’.“ (10)

Rückblick auf eine positive Entwicklung der Medienresonanz

Diese schon überschwänglich positiven Bewertungen der polnischen Politik und Wirtschaft in deutschen Medien ist umso bemerkenswerter, nachdem lange Zeit übertrieben kritische Urteile überwogen. So mokierte sich die Wochenzeitung „Die Zeit“ über „neonationale Töne (…) ein eigentümlicher Neo-Sarmatismus, eine barocke ‚Politik der Würde’, sehr national, die sich für Konsequenzen nicht interessiert“. (11)

„Die Zeit“ dagegen wusste, welche Konsequenz eigentlich gezogen werden müsste: „Warschau, wird deswegen in den Berliner Kulissen getuschelt, sei das letzte Schiff im Geleitzug geworden, aber damit werde es seiner Rolle und seiner Verantwortung für Europa schlicht nicht gerecht. Schon sind Stimmen zu hören, die bedauern, dass es keinen Weg für EU-Mitglieder gibt, sich hinauszuwählen. Polen könne ja gehen. Man spürt: Die Geduld geht zu Ende. Polen, sagen wir es ruhig offen, ist zum Sorgenkind Europas geworden.“ (12)

„Der Spiegel“ fabulierte über „die Großmannssucht eines Parvenüs, der in den letzten Jahren wirtschaftlich gewaltig aufgeholt hat“ und sah Polen schon „auf dem besten Wege, in der EU zum notorischen Störer zu werden“. (13)

Immerhin, womöglich sogar selbstkritisch, bilanzierte dieses Magazin dann eineinhalb Jahre später: „Den deutschen Medien galten die Polen pauschal als ein Volk des frustrierten Geschichtspathos, überempfindlich und rückständig“. (14)

Völlig gegenteilige Kommentierungen, wie eingangs gezeigt, dagegen heute. Einige weitere Beispiele:

– Polens EU-Ratspräsidentschaft wurde positiv gewürdigt, obwohl selbstgesetzte ambitionierte Ziele durch die Bankenkrise (sogenannte Euro-Krise) sowie durch den „arabischen Frühling“ zurückgesteckt werden mussten und mehr reagiert als agiert werden konnte. Die „Frankfurter Rundschau“ z. B. kommentierte anerkennend: „Auf Deutsch: die polnische Ratspräsidentschaft hat dafür gesorgt, dass der Laden angesichts der unterschiedlichen Interessen während der zahlreichen Finanzgipfel der letzten Wochen nicht auseinander flog.“ (15)

– Für ihre Kritik an der Energiewende nutzte „Die Welt“ die polnische Position sogar als innenpolitische Munition: „Jetzt ziehen Polen und Tschechien den Stecker und bauen gewaltige Schalter an den Grenzen auf, weil sie für den ohnehin ungebetenen Import deutschen Grünstroms keinen Blackout riskieren wollen. Die Nachbarn handeln in Notwehr, niemand kann ihnen einen Vorwurf machen. (…) Der Bundesregierung hat es gefallen, Entscheidungen wie den Atomausstieg mit europaweiten Auswirkungen ohne Konsultation der Partnerländer durchzuziehen. Der Ökostrom-Ausbau wurde ohne Rücksicht auf Transportkapazitäten durchgepeitscht. Für ihre kurzsichtige, aktionistische und egozentrische Energiepolitik bekommt die Regierung jetzt die Quittung präsentiert.“ (16)

– Der polnischen Kritik an dem dreiteiligen Weltkriegsfilm des Zweiten Deutschen Fernsehens „Unsere Mütter, unsere Väter“ wurde viel Verständnis entgegen gebracht: „Die Empörung der Polen ist berechtigt“. (17)

Probleme

Auch bei guten bis engen und vertrauensvollen Beziehungen gibt es natürlich Probleme und Konfliktpotential. Im Energiebereich wird konträr argumentiert und gehandelt. Deutschland protestiert gegen den Bau von Atomkraftwerken in Polen und Polen gegen die Folgen der deutschen Energiewende für Polens Stromnetze. Polen sieht seine Autarkie im Energiebereich, also Unabhängigkeit von Russland, nur durch den weiteren Einsatz von Kohle und Kernenergie gesichert. Deshalb wehrt es sich gegen verbindliche Reduktionsziele innerhalb der EU. Bau und Erweiterung der Nord-Stream-Pipeline für Erdgas aus Russland nach Deutschland durch die Ostsee an Polen vorbei wird skeptisch betrachtet. Probleme müssen auch wegen unterschiedlicher Positionen bei der mehrjährigen Finanzplanung der EU ausgetragen und gelöst werden, vor allem bei der Umverteilung der Agrar-Direktzahlungen.

Bilanz

Als Ergebnis kann festgehalten werden: Medien in Deutschland berichten inzwischen sehr sachlich über Polen, sogar mit viel Verständnis für die polnische Seite. Politikern sowie weiteren Persönlichkeiten Polens wird regelmäßig Gelegenheit gegeben, in Interviews und sonstigen Beiträgen ihre Standpunkte darzustellen.

Gefördert und bestärkt wurde diese positive Entwicklung auch durch den Deutsch-Polnischen Journalistenpreis, mit dem seit 1997 Beiträge prämiert werden, die über das jeweilige Nachbarland sachlich und differenziert berichten. Seit 2008 wird dieser Preis während der Deutsch-Polnischen Medientage verliehen, zuletzt im Juni 2013 in Wroslaw (Breslau).

Kampagnen gibt es gelegentlich noch bei sportlichen Anlässen. Damit kann man in guter Nachbarschaft aber leben.

Anmerkungen

(1) Beitritt zur Euro-Zone? Polen lässt sich lieber Zeit, Die Welt, 12.7.2012; Die Mehrheit der Polen lehnt den Euro ab, Frankfurter Allgemeine, faz.net, 18.3.2013

(2) Focus Money Online, 20.4.2011

(3) Eurobarometer, Sept. 2004; zitiert nach: Polenbilder in Deutschland seit 1945, Ängste nach der Wende, Bundeszentrale für politische Bildung, 13.1.2006, Informationen zur politischen Bildung, Heft 271)

(4) Nikolaus Steiner: Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne Willkommenskultur, Europäische Fachkräfte längst in England, WDR 5, Politikum, 30.10.2012

(5) Henryk Jarczyk: Zwei Jahre nach der endgültigen Öffnung des Arbeitsmarktes: der Ansturm ist ausgeblieben – Kommentar, WDR 5, Osteuropa-Magazin, 12.5.2013

(6) Arbeiter gesucht: Agentur erstmals mit Büro in Polen, Bild.de, 10.5.2011

(7) Gerhard Gnauck: Europa wird polnische Tugenden noch brauchen, Die Welt, 17.3.2013

(8) Bild.de, 20.11.2012

(9) Endlich Ruhe, Donald Tusks besonnene Politik bringt Polen Stabilität, Die Welt, 11.10.2011

(10) Handelsblatt, 8.10.2011

(11) Gunter Hofmann: Ach, Kaczynski, Die Zeit, Nr. 11, 9.3.2006

(12) Gunter Hofmann: Bizarres Theater, Zeit Online, 18.6.2007

(13) Ralf Beste, Winfried Didzoleit, Jan Puhl: Ab in die Schmollecke, Der Spiegel, Nr. 3, 12.1.2004

(14) Jan Puhl: Medienschlacht Polen vs. Deutschland: Die kleine Kampagne zwischendurch, Spiegel Online, 5.6.2008

(15) Frankfurter Rundschau, 28.12.2011

(16) Daniel Wetzel: Polnische Quittung für deutsche Energiewende, Die Welt, 29.12.2012

(17) Welt Online, 4.4.2013

Literatur

Bertelsmann Stiftung, Cornelius Ochmann: Die neue EU. Folgen der polnischen EU-Präsidentschaft, spotlight europe, 2012/1, Januar 2012

Friedrich-Ebert-Stiftung: Polen auf dem Weg zum Euro, Was kommt auf Polen und Deutschland zu? Dokumentation einer gemeinsamen Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Wirtschafts- und Handelsabteilung des Generalkonsulats der Republik Polen, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, WISO Diskurs, Juli 2007

Gatzke, Niels: Polenbild in Deutschland: Wandel und Kontinuität – von Polen als
Gegenbild der Aufklärung bis zur EU-Reformdebatte, Magisterarbeit im Fach Politikwissenschaft, Universität Potsdam, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Januar 2010

Urban, Thomas: Deutsch-polnische Klischees in den Medien, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de, 23.3.2009

Abgeschlossen im Mai 2013

This article was first published in “Krakowskie Studia Miedzynarodowe/Krakow International Studies” 2013, No. 4 – Journal of Andrzej Frycz Modrzewski Krakow University

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