Anne Applebaum, die durch ihre Studie über den Gulag in Deutschland erstmals einem größeren Publikum bekannt wurde, geht in ihrem neuen Buch der Frage nach, wie es den Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg gelingen konnte, „die so unterschiedlichen Nationen Osteuropas in eine ideologisch und politisch homogene Region umzuformen“, aus „Gegnern und Verbündeten Hitlers … ein Ensemble scheinbar identischer Staaten“ zu schaffen.
Dafür hat Applebaum nicht nur in 25 Archiven recherchiert, sondern auch an die hundert Zeitzeugen befragt. Daraus entstand eine ungewöhnlich lebendige, detailreiche Studie, die viele vergessene historische Ereignisse ins europäische Gedächtnis zurückholt.
Um die Mammutaufgabe bewältigen zu können, konzentrierte Applebaum sich auf drei Staaten: Polen, Ungarn und die DDR.
Während die Sowjetisierung der in die UdSSR gezwungenen Staaten immerhin mehr als zwei Jahrzehnte dauerte, gelang es in Osteuropa innerhalb von nur fünf Jahren. Das lag an den Erfahrungen, auf die man inzwischen zurückgreifen konnte. Das sowjetische Lagersystem war voll entwickelt, die Geheimpolizei hatte Routine und ihre Methoden verfeinert.
Dabei gingen die Sowjets anfangs mit nackter Gewalt vor. In allen Ostblockländern wurden hunderttausende Menschen verhaftet, verurteilt und in den Gulag verschleppt. In manchen Ländern gab es Schauprozesse mit Todesurteilen, wie in Moskau 1937. Auch Bevölkerungsaustausch durch Zwangsumsiedlungen wurde praktiziert. Zu den unbekannt gebliebenen geschichtlichen Katastrophen Europas gehört die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung aus der Westukraine in die ehemals deutschen Gebiete, die Polen zugeschlagen wurden.
Die Gedankenlosigkeit, mit der die Westmächte Stalin Ostpolen, das er im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 besetzt hatte, der Sowjetunion einverleiben ließen, macht heute sprachlos. Damals führte Churchill Stalin mit Streichhölzern vor, wie er sich den neuen Grenzverlauf Polens vorstellte und machte damit in einem Augenblick Millionen Menschen heimatlos. Eine Zeitlang gab es bewaffneten Widerstand gegen die Zwangsverschleppungen. Die Polen hofften aber vergebens aus Unterstützung aus dem Westen, so wie 1956 die Ungarn. Sie mussten ihren aussichtslosen Kampf aufgeben.
Applebaum arbeitet heraus, dass die entwurzelte, heimatlose Bevölkerung des Ostblocks eine wichtige Voraussetzung für die schnelle Sowjetisierung war. Im gesellschaftlichen Umbruch entstehen immer neue Karrieremöglichkeiten, je größer die Veränderung, desto mehr. Diejenigen, die diese Möglichkeiten ergriffen, bekamen ein „brandneues Gefühl von Kontrolle und Macht“. Im Austausch dafür mussten sie nur „die Augen vor den Widersprüchen zwischen Propaganda und Wirklichkeit verschließen“.
Applebaum untersucht in einzelnen Kapiteln die Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Kunst, Medien und des öffentlichen Lebens, bei der kein Stein auf dem anderen blieb. Das Ergebnis sollte der „neue“ Mensch sein, der in sozialistischen Städten ein staatlich gelenktes Leben führt, bei dem sogar Theaterbesuche vorgeschrieben wurden. Niemand war von der Erziehung zum „Homo sovieticus“, wie es der sowjetische Dissident Sinowjew nannte, ausgenommen. Sie begann im frühesten Kindesalter. Schon Kleinkinder sollten nicht von ihren Eltern, sondern in Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Horts, Ferienlagern erzogen werden. Schriftsteller machten sich daran, Kinderbücher umzuschreiben oder neue, im Sinne der kommunistischen Ideologie, herzustellen.
Wer dieses Kapitel liest, bekommt automatisch Gänsehaut angesichts der Ähnlichkeiten mit der aktuellen, von Frau Von der Leyen forcierten, Krippenpolitik, der von den Linken und den Grünen geforderten Einheitsschule und der Umschreibung von Kinderbüchern im Sinne der political correctness.
Im Erwachsenenalter wurde die Erziehung des sowjetisierten Menschen fortgesetzt. Es wurde ein permanentes Bekenntnis zum Kommunismus verlangt. Am Ende sollte der Homo sovieticus sich eine Ablehnung des Kommunismus nicht einmal mehr vorstellen können.
Dabei scheuten sich deutsche Kommunisten nicht, mit ehemaligen Stützen des Nationalsozialismus zu kooperieren. So plädierte der Landesjugendleiter der KPD Sachsen, Robert Bialek, dafür, ehemalige Hitlerjungen in die Organisation zu holen, um ihre Anziehungskraft zu erhöhen. Sie seien „Deutschlands natürliche Führungspersonen“, auf deren Autorität man nicht verzichten könne.
Die Vorstellung, den neuen Menschen formen zu können, war nicht neu. Es gab sie bei den Jesuiten, den Nazis, den Kommunisten. Sie ist bis heute virulent, wie political correctness und Gender Mainstreaming beweisen.
So gründlich die kommunistischen Machthaber auch vorgingen, so geglückt die Umerziehung auch zu sein schien, am Ende scheiterte das Menschenexperiment. Auf die Dauer war die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit zu groß, um nicht durchschaut zu werden. In seinem brillanten Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ empfahl der tschechische Dissident Vaclav Havel, die staatliche Allmacht durch Alternativen „unabhängigen Lebens“ zu untergraben. Das erwies sich als erfolgreiches Modell.
In allen Ländern entstanden ab Mitte der 70er Jahre oppositionelle Bewegungen: Solidarnosc in Polen, Charta 77 in der Tschechoslowakei, die Unabhängige Friedens- und Umweltbewegung in der DDR, die Ökologiegruppen in Ungarn. Voraussetzung dafür war, den „falschen und sinnlosen Sprachgebrauch“ der Herrschenden aufzugeben und „in der Wahrheit zu leben“. An dieser Stelle wird nebenbei die Frage beantwortet, was man heute tun kann, um die immer mehr um sich greifenden Sprachbarrieren zu schleifen, die verhindern sollen, dass die Realität wahrheitsgetreu abgebildet wird.
Der political correctness und ihren Auswüchsen kann man am besten begegnen, indem man sich ihrem Diktum nicht beugt, sondern auf einer Sprache, die „in der Wahrheit lebt“, besteht. Nur so kann verhindert werden, dass das Konzept der Wahrheit durch die Macht ersetzt wird. Indem Applebaum darlegt, wie durch die Überwindung der Kluft zwischen Propaganda und Realität der Kommunismus besiegt wurde, hat sie eine hochaktuelle Anleitung zum Handeln verfasst.
Der Artikel erschien zuerst auf Achse des Guten.
1952 geboren in Sondershausen, Thüringen
1970-1975 Studium der Geschichte und der Philosophie in Leipzig und Berlin
1975-1979 Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Philosophie, erstes Parteiverfahren wegen Abweichlertums, Zwangsversetzung an das Institut für Wissenschaftliche Information
1980-1983 Lektorin am Verlag Neues Leben. Seit den siebziger Jahren aktiv in der Opposition gegen das SED-Regime
1981 Mitbegründerin einer der ersten halblegalen Oppositionskreise der DDR, des Pankower Friedenskreises, seitdem Mitorganisatorin aller wichtigen Veranstaltungen der Friedens-und Umweltbewegung der DDR
1983 zweites Parteiverfahren wegen Mitarbeit in der Bürgerrechtsbewegung, Ausschluss aus der SED, Berufsverbot, Reiseverbot
1988 Verhaftung wegen versuchter Teilnahme an der offiziellen Liebknecht-und Luxemburgdemonstration mit eigenem Plakat. Verurteilung wegen „Versuchter Zusammenrottung“, nach einem Monat Haft. Abschiebung in den Westen, Aufenthalt in England, Studium der Philosophy of religion am St. John´s College Cambridge
1989 am Morgen des 9..November Rückkehr in die DDR, abends beim Mauerfall an der Bornholmer Straße dabei, Mitglied der Verfassungskommission des Runden Tisches
1990 Mitglied der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer der DDR
1990 Aachener Friedenspreis
1996 Mitbegründerin des Bürgerbüros für die Verfolgten der DDR-Diktatur
2003 Mitbegründerin des Gedenkstättenvereins des Stasigefängnisses Hohenschönhausen
1990-2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, Ausschüsse: Verteidigung, Umwelt, Wirtschaft, Kultur, Untersuchungsausschuß “Verschwundenes DDR-Vermögen”, seitdem freischaffende Autorin in Berlin
2008 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
Autorin der Achse des Guten, achgut.de, Kolumnistin der PAZ