Die Angst vor der Objektivität

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Der Begriff der Objektivität ist in Verruf geraten. Postmoderne und feministische Autoren entwickeln ihre Positionen in Abgrenzung zur metaphysischen bzw. absoluten Objektivität.

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Doch sollten wir deshalb auf Objektivität verzichten? Oder lässt sich ein Begriff von Objektivität finden, der nicht-metaphysisch wäre und an dem sich die wissenschaftliche Forschung orientieren könnte?

Allgemeine Begriffsbestimmung von Objektivität

„Objektiv“ ist etwas, das unabhängig von erkennendem Subjekt bzw. von subjektivem Für-wahr-Halten besteht. „Objektiv“ bedeutet ferner „frei von emotionaler Färbung“,(1) von individuellen und partikularen Interessen. Objektive Erkenntnis soll demnach neutral, unparteilich sein. Darüber hinaus wird „objektiv“ auch als allgemeingültig und überprüfbar bestimmt.

Oft werden die Begriffe „objektiv“ und „Objektivität“ mit den Begriffen „wahr“ und „Wahrheit“ in Verbindung gebracht. Etwas ist wahr, wenn es objektiv ist. Objektivität kann in diesem Sinne als ein Merkmal bzw. ein Kriterium der Wahrheit aufgefasst werden.

Eine kurze Geschichte der absoluten Objektivität

In der Geschichte der Philosophie wurden Objektivität und Wahrheit meist in einem absoluten Sinne verstanden. Platon ist der Auffassung, dass hinter den wahrnehmbaren, veränderlichen und vergänglichen Gegenständen eine geistige, unveränderliche und unvergängliche Realität besteht: die Welt der Ideen.

Ideen sind nichts Subjektives, also keine subjektiven Vorstellungen der Menschen, sondern etwas Objektives, an sich und unabhängig vom erkennenden Subjekt Seiendes.(2) Ideen sind nicht entstanden und können nicht vergehen, sind demnach ewig. Da sie an sich und unabhängig vom erkennenden Subjekt – überhaupt unabhängig vom menschlichen Bewusstsein – bestehen, sind sie auch selbständig, bilden selbständige Größen. Da sie nicht wie die wahrnehmbaren Gegenstände in Raum und Zeit existieren, sind sie unkörperlich und geistig; sie übersteigen den Bereich der „physis“ (Materie), sind somit metaphysisch.

Weitere Merkmale, die Platon den Ideen zuspricht, sind: Vollkommenheit, Unteilbarkeit und Unbeweglichkeit. Die wahrnehmbaren, raum-zeitlichen Gegenstände sind nach Platon Abbilder der Ideen. Sie existieren nur, sofern sie an den Ideen „teilhaben“.

Wir sehen, dass Platon Objektivität in einem sehr emphatischen, absoluten Sinne versteht. Ideen sind Substanzen/Wesenheiten, die an sich, unabhängig von Menschen bestehen, denen Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Vollkommenheit zukommt.

In der Tradition der christlichen Philosophie und Theologie finden wir ebenfalls einen absoluten Begriff von Objektivität. In Anlehnung an die Antike Philosophie, insbesondere die Platonische und die Aristotelische, ist Gott das Absolute, also das Unbedingte, Unabhängige und Selbständige. Er ist das Von-sich-selbst-Seiende bzw. das in sich und aus sich bestehendes Sein. Gott ist ferner das Vollkommene und das Vollendete. In der Hierarchie des Seienden stellt er das höchste Wesen dar.
Thomas von Aquin bestimmt Gott als reine Wirklichkeit (lat. „actus purus“), eine von allen Möglichkeiten reine, vollkommene Wirklichkeit.(3) Gott ist demgemäß alles, was er sein kann; alle seine Möglichkeiten sind verwirklicht. Da alles geschöpfliche Seiende an dem göttlichen Sein – in unvollkommener Weise – teilhat, sind Erkenntnisse über Gott möglich, wenn auch nur in analoger Weise (lat. „analogia entis“).

Höchste Objektivität kommt nicht nur Gott, sondern auch den Offenbarungswahrheiten zu. Die Offenbarung – die Kundgabe der göttlichen Wahrheiten – stellt einen absoluten, nicht unbezweifelbaren Wahrheitsanspruch. Offenbarungswahrheiten können nicht begründet oder nachgeprüft, sondern nur im Glauben durch das übernatürliche Licht (lat. „lumen supranaturale“) erfahren werden.

Eine weitere Etappe in der Geschichte der absoluten Objektivität bildet die Philosophie Hegels. Sie wird als objektiver bzw. absoluter Idealismus bezeichnet. Nach Hegel stellt die gesamte Wirklichkeit eine Einheit, ein zusammenhängendes Ganzes dar. Das einigende Grundprinzip wird als Geist bezeichnet. Er ist nichts Statisches, sondern befindet sich in Bewegung und erkennt sich selbst im Durchgang durch immer höhere Entwicklungsstufen: Er äußert sich als subjektiver Geist im einzelnen Menschen, als objektiver Geist in der Gesellschaft, genauer in: Moralität, Recht, Geschichte und Staat, und als absoluter Geist in Kunst, Religion und Philosophie.(4) Auf der höchsten Stufe, der des absoluten Geistes, erkennt sich der Geist als das Absolute, d.h. als frei, unabhängig und unbedingt. Dieses Erkennen bezeichnet Hegel als „absolutes Wissen“.

Auch das absolute Wissen ist im höchsten Maße objektiv. Es erfasst das Ganze der Realität (Idee/Denken und Natur), das heißt die Totalität des Seienden. Es ist aber nicht nur allumfassendes, sondern auch sicheres Wissen. Es ist im gewissen Sinne abgeschlossen; es kann qualitativ nichts Neues hinzukommen.

Bei Hegel kommt noch ein weiteres Objektivitätskriterium hinzu: die Notwendigkeit. Die Entwicklung des Geistes und seiner Äußerungen (z.B. der Geschichte) ist notwendig im Sinne von: Es hätte nicht anders verlaufen können. Beispielsweise verfolgt die Geschichte einen notwendigen Gang; sie hätte nicht anders verlaufen können.(5)

Für Karl Marx ist die Unterscheidung zwischen einem sozio-ökonomischen Unterbau („Basis“) und einem ideellen Überbau („Bewusstsein“) von zentraler Bedeutung.(6) Zum Unterbau gehören in erster Linie die Produktionsverhältnisse (z.B. Eigentumsverhältnisse) und Produktionsmittel, die in der Warenproduktion eingesetzt werden (z.B. Maschinen), zum Überbau gehören Moral, Religion, Metaphysik, aber auch Recht, Politik und Staat.

Der Unterbau bestimmt den Überbau. Anders formuliert: Der Überbau ist Ausdruck des Unterbaus. Entscheidend ist, dass Marx im Falle der Unterbauphänomene von materiellen Verhältnissen spricht, wobei er den Begriff der Materie sehr weit fasst (er umfasst demnach nicht nur die unbelebten, sondern auch die sozio-ökonomischen Verhältnisse). Produktionsverhältnisse bilden die materielle Realität und sind im höchsten Maße objektiv. Materielle Verhältnisse bestehen objektiv.

Marx analysiert diese materiellen Verhältnisse und wir finden bei ihm Ansätze zu einer empirischen Forschung, obgleich ihm die heute verwendeten Methoden der empirischen Sozialforschung noch nicht bekannt waren.(7) Insofern kann man im Falle der Marxschen Analysen der ökonomischen Verhältnisse nicht von absoluter, sondern von empirischer Objektivität (zur empirischen Objektivität vgl. unten) sprechen.

Marx behauptet aber auf der anderen Seite:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige (Hervorhebung, A. U.), von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.“(8)

In Anlehnung an Hegel spricht Marx an dieser Stelle vom notwendigen Verlauf der Geschichte. Die Geschichte hätte nicht anders verlaufen können. Und Marx scheut nicht davor, Aussagen über die zukünftige Entwicklung zu machen. Der Geschichtsverlauf ist notwendig im Sinne von unabdingbar. Objektivität wird hier in einem absoluten Sinne gefasst.

Die falsche Alternative: Entweder absolute Objektivität oder postmodernes Wissen

Eine der einflussreichsten geisteswissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart ist die sog. Postmoderne. Sie ist nicht nur in theoretischen, insbesondere kulturkritischen, Debatten einflussreich, sondern hat sich auch institutionell an den Universität in Lehre und Forschung etabliert. Darüber hinaus spielt sie mittlerweile in den Leitmedien und in der Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle (zu erwähnen wäre hier z.B. das Projekt des Gender Mainstreamings, das auf postmoderne, insbesondere genderkonstruktivistische Positionen zurückgeht).

Postmoderne Ansätze entwickeln sich in einer bewussten Abgrenzung zu Metaphysik, allgemeingültiger Erkenntnis, totalisierendem Denken, Absolutheitsansprüchen, Wahrheit und (absoluter) Objektivität.
Nach Rainer Schnell u. a. weisen postmoderne Ansätze folgende Kernpunkte auf: 

„- Jeder Aspekt der Unternehmung ´Wissenschaft` kann nur durch seinen lokalen und kulturellen Kontext verstanden werden:
– auch Naturgesetze sind soziale Konstruktionen;
– wissenschaftliche Theorien sind gleichberechtigte ´Texte` oder ´Geschichten` neben anderen;
– da vermeintliche Tatsachen keine eindeutigen Aussagen über wissenschaftliche Ergebnisse ermöglichen, kann über die Wahrheit von Sätzen nicht innerhalb von ´Wissenschaft` entschieden werden:
– da es keine objektive Wissenschaft geben kann, ist es umso wichtiger, explizite Ziele ´emanzipatorischer Wissenschaft` in den Prozess wissenschaftlicher Forschung aufzunehmen.“(9)

Jean-François Lyotard, einer der prominentesten Vertreter der Postmoderne, entfaltet seine Philosophie vor dem Hintergrund einer Kritik an der traditionellen Metaphysik. Er lehnt den Versuch der Metaphysik ab, von einem welttranszendenten Prinzip oder einem höheren Standpunkt aus das Ganze (Totalität) zu erklären.(10) Daher ist eine umfassende und allgemeingültige Erklärung der Welt nicht möglich. Anders ausgedrückt: Es ist Lyotard zufolge nicht mehr möglich, „jedes Problem auf den Zustand des Systems als Ganzen“ zu beziehen.(11) Als Beispiele für totalisierende Welterklärungen („Metaerzählungen“) nennt er die Theorien von Hegel und Marx.

Nach Lyotard gibt es daher kein allumfassendes System, keine allgemeingültige Theorie und kein universelles Wissen. Daraus folgt, dass es für ihn auch keine Objektivität in dem oben genannten absoluten Sinne geben kann. Vielmehr gibt es eine Pluralität von „Sprachspielen“ bzw. „Diskursen“, die gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander bestehen (zu den Diskursen zählt er z.B. den Text eines Philosophen, den Bericht eines Historikers oder einen Roman).

Die einzelnen Diskursarten sind inkommensurabel (unübersetzbar),(12) das bedeutet, dass jede Diskursart seine eigenen Regeln hat. Zwischen den Diskursarten gibt es keine Einheit und keine übergreifende Vermittlungsinstanz, sondern Widerstreit.(13)

Auch Richard Rorty, ein weiterer prominenter Vertreter der Postmoderne, entwirft seine philosophische Konzeption im Gegensatz zu metaphysischen Auffassungen. Er ist der Überzeugung:

„… es würde uns helfen, die Hoffnung hinter uns zu lassen, die Philosophie werde irgendwie eine Verbindung herstellen zwischen uns und einer ahistorischen, absoluten Instanz.“(14)

Rorty möchte sich von der „objektivistischen Tradition“ lösen, in der nach transzendenten bzw. metaphysischen Gründen gesucht wurde, Gründen, die allgemeingültig sein sollten. Und in aller Deutlichkeit hebt er hervor, dass er sich nicht darum bemüht, einen „Gottesstandpunkt zu erreichen …“ (15) Für den Pragmatisten Rorty ist die Wahrheit „das, woran zu glauben für uns gut ist.“(16) Er betont weiterhin, dass „alle unsere Urteile durch historische Zufälligkeiten bedingt sind.“(17)

Eine Untersuchung von Wissen, Erkenntnis und Wahrheit kann nur eine „soziohistorische Darstellung“ von Praktiken sein, mit deren Hilfe Menschen versuchen, Konsens über ihre Überzeugungen zu erzielen. Dabei kann es keinen ahistorischen Standpunkt geben. Objektivität wird von Rorty in einem absoluten Sinne als transhistorisch und transkulturell verstanden. Er geht noch weiter, indem er jegliche Objektivitätskriterien ablehnt. Statt von Kriterien spricht er von „praktischen Einzelvorteilen“.(18) Was „wahr“ ist, wird von Fall zu Fall hinsichtlich seiner Vorteilhaftigkeit und Nützlichkeit festgelegt.

Viele repräsentative feministische und gendertheoretische, insbesondere genderkonstruktivistische, Ansätze folgen der Postmoderne und der postmodernen Kritik an der Objektivität. Für Jane Flax gilt sogar:

„Die feministische Theorie ist eine Spielart der postmodernen Philosophie …“(19)

Beide Richtungen lehnen „allgemeingültige Regeln der Kategorisierung, Beurteilung und Geltung“ ab.

Flax und die prominenteste feministische „Wissenschaftstheoretikerin“ Sandra Harding diagnostizieren grundlegende Dualismen, die das menschliche Erkennen und die Wissenschaft bestimmen: Geist versus Natur/Körper, Vernunft versus Emotionalität, abstrakt versus konkret und Objekt versus Subjekt.(20) Das erstere wird mit „männlich“, das zweitere mit „weiblich“ in Verbindung gebracht. Objektivität bzw. das Streben nach Objektivität wird somit als typisch männlich angesehen. Diskurse, in denen Objektivität angestrebt wird, sind „patriarchale Diskurse“.

Harding lehnt „kohärente Theorien“ ab. Statt dessen spricht sie sich für „kontextgebundenes Denken und Entscheiden“ aus.(21) Sie betont, dass die feministische Wissenschaft von vornherein politischen Zielen dienen soll: Sie soll einerseits die vorherrschende patriarchale Wissenschaft dekonstruieren, andererseits die Lage der Frauen in der Wissenschaft verändern. Somit wird Unparteilichkeit als ein Kriterium für Objektivität zugunsten von Parteilichkeit für die Interessen von Frauen aufgegeben.

Dagmar Heymann hebt in Anlehnung an Evelyn Fox Keller hervor, dass die Tendenz zum Verobjektivieren, „verstanden als möglichst große Entfernung des Subjekt von einem Objekt“, für Männer „lebensnotwendig“ ist. Für die feministische Wissenschaft sind „Subjektgebundenheit von Erkenntnis“ und die „Bezogenheit auf die jeweilige Identität“ konstitutiv.(22)

Ähnlich wie Sandra Harding argumentiert Donna Haraway, eine der einflussreichsten postmodernen Feministinnen, genauer: Gender-Konstruktivistinnen. Sie lehnt einen übergeordneten Standpunkt ab, von dem aus man das Ganze (Totalität) betrachten könnte. Verortung, Verkörperung und Positionierung sollen den Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit, Abgeschlossenheit und Endgültigkeit der Erkenntnis entgegengesetzt werden. Deshalb „ …brauchen Feministinnen keine Objektivitätslehre, die Transzendenz verspricht …“(23) Auch „Unsterblichkeit“ und „Allmacht“ sind keine Ziele des Feminismus.

„Feministische Objektivität“ bedeutet nach Haraway „begrenzte Verortung“ und „situiertes Wissen“,(24) womit alle „totalisierenden Ansprüche“ abgewiesen werden. Feministische Objektivität bedeutet daher eigentlich das Gegenteil dessen, was man in der metaphysischen Tradition, aber auch in der heutigen empirischen Forschung unter Objektivität versteht. Ob diese Begriffsverwirrung von Haraway beabsichtigt ist, sei dahingestellt.

Die „partiale Perspektive“, also die nicht auf das Ganze, sondern nur auf ausgewählte Ausschnitte der Welt gerichtete Perspektive, soll Grundlage der Erkenntnis sein. „Wir brauchen keine Totalität, um gute politische Arbeit zu leisten“, so Haraway.(25) Die einzelnen partialen Perspektiven sollen miteinander vernetzt werden, um solidarisch handeln und politische Ziele erreichen zu können. Wissenschaft wird somit von vornherein in den Dienst einer bestimmten Politik gestellt. Ähnlich wie Harding stellt Haraway das Prinzip der Parteilichkeit in den Vordergrund ihrer Konzeption. Zweck der Wissenschaft soll die Parteinahme für Beherrschte und Marginalisierte sein, d.h. vorwiegend für Frauen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass repräsentative postmoderne und feministische Autoren ihre Positionen im Gegensatz zu einer metaphysischen Vorstellung von Objektivität, also im Gegensatz zur absoluten Objektivität entwickeln. Es stellt sich für sie die Alternative: Entweder absolute Objektivität oder postmodernes, situiertes Wissen. Diese Alternative ist falsch, denn es gibt wissenschaftstheoretische Positionen, die an einem nicht-absoluten Begriff von Objektivität festhalten. Postmoderne und feministische Ansätze kämpfen gegen einen Feind, den es heute so gar nicht mehr gibt.

Objektive Realität

In Abgrenzung zum Begriff der absoluten Objektivität und zum postmodernen Wissen möchte ich im Folgenden einige Elemente einer Konzeption von Objektivität diskutieren, die sich an den Erkenntnissen der Analytischen Wissenschaftstheorie und der empirischen (Sozial-) Forschung orientiert. Dabei werde ich folgende Themen behandeln: (a) Hypothesen und Realität, (b) Beobachtung und Hintergrundwissen sowie (c) Parteilichkeit und Objektivität.

(a) Hypothesen und Realität

Trotz der Fehlbarkeit des menschlichen Erkennens können wir wahre Aussagen über eine objektiv gegebene Realität machen.(26) Dafür brauchen wir keine absolute Instanz, kein absolutes Fundament oder kein absolutes Wissen. Das menschliche Erkennen hat einen hypothetischen Charakter; es besteht aus Vermutungen, die prinzipiell widerlegt werden können. Hypothesen sind allgemeine Aussagen über die Beschaffenheit der Realität. Als Vermutungen stellen sie keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit.(27)

Aus den allgemein formulierten Hypothesen sind Aussagen über beobachtbare Sachverhalte (Beobachtungssätze) abzuleiten. Letztlich können nur durch Beobachtung verlässliche Informationen über die Realität gewonnen werden. Dabei sind die Annahme einer objektiv gegebenen Realität und der Bezug auf diese Realität als letzte Prüfungsinstanz von entscheidender Bedeutung:

„Über die Wahrheit einer empirischen Aussage (Hypothese) entscheidet die Konfrontation mit der Realität.“(28)

Eine empirische Hypothese ist dann bestätigt, wenn sie einer empirischen Überprüfung standhält, also auf die Realität zutrifft. Sie ist dann widerlegt, wenn sie an der empirischen/beobachtbaren Realität scheitert, ihr nicht entspricht.(29)

Diese Verfahren gilt sowohl für die Natur- als auch die Sozial- und Kulturwissenschaften. Auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften liegen empirische Daten vor, die überprüft werden können. Auch hier können Hypothesen formuliert und auf die (soziale) Realität bezogen werden.

Postmoderne und feministische (genderkonstruktivistische) Auffassungen lehnen hingegen die Annahme einer objektiv bestehenden Realität und den Bezug auf diese Realität als letzte Prüfungsinstanz ab. Die Ausschnitte der Realität werden als Konstrukte aufgefasst.(30) Doch jegliches Konstruieren muss sich an der empirischen Realität ausweisen. Die empirische Nachprüfbarkeit von Aussagen ist das entscheidende Kriterium dafür, die Grenze des sozialen Konstruierens aufzuzeigen.

(b) Beobachtung und Hintergrundwissen

Oben wurden Beobachtungssätze erwähnt, die den Bezug zur empirischen Realität herstellen und der Untermauerung von Hypothesen dienen. In der Anfangsphase der wissenschaftstheoretischen Tradition des sog. „Wiener Kreises“ wurde die Möglichkeit einer unverfälschten, die Realität getreu abbildenden Beobachtung angenommen. Die Beobachtung sollte von allem Subjektiven und allen sozio-kulturellen Faktoren gereinigt werden. Nur auf diese Weise hätte die objektive Realität erkannt werden können. Diese Position wurde jedoch aufgegeben.

Man ist zu der Auffassung gelangt, dass Beobachtung „theoriebeladen“ ist und von vielen Faktoren, dem sog. „Hintergrundwissen“, abhängt. Anders ausgedrückt: Unser Bezug zur Realität ist nicht direkt, sondern indirekt und voraussetzungsvoll.

Das trifft sich in einem gewissen Sinne mit postmodernen Ansätze, für die unsere Erfahrung und unser Wissen subjektbezogen, situiert, kontextabhängig und interessen- sowie machtgeleitet sind. Kurz: Wir erkennen die Welt relativ zu unseren jeweiligen sozio-kulturellen Hintergrundannahmen. Dass Beobachtungen theoriebeladen sind und vom Hintergrundwissen abhängen, bedeutet jedoch nicht, dass sie selbst theoriebeladen sind und dass eine Überprüfung der beobachtungsleitenden Theorien unmöglich wäre.(31)

Kognitionspsychologische Befunde zeigen, dass visuelle Wahrnehmungen unabhängig von unserem erworbenen Hintergrundwissen sind. Personen mit unterschiedlichem Hintergrundwissen machen bei denselben visuellen Reizen dieselben Wahrnehmungen. Was sich ändern kann, ist lediglich die Auswahl (Selektion) und die Beurteilung der Wahrnehmungen. Wir sehen tagtäglich die Sonne, auch wenn wir unterschiedliche Hintergrundtheorien über die Bewegung der Himmelskörper haben. In anderen Worten: Das Seherlebnis bleibt gleich und ist unabhängig von erworbenem Hintergrundwissen.

Auch die These, dass Beobachtung sprach- und kulturabhängig ist, kann nur bedingt akzeptiert werden. Zwar entwickeln unterschiedliche Kulturen bis zu einem gewissen Grad unterschiedliche Begriffssysteme, mit deren Hilfe sie ihre Umwelten beschreiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihre Wahrnehmungen selbst sprach- und kulturabhängig sind.

„Dies ließe sich nur dann folgern, wenn Angehörige dieser Kulturen auch nicht an der Lage wären, die jeweiligen Beobachtungsbegriffe anderer Kulturen durch ostensives Training (ostensiv=zeigend, A.U.) zu erlernen. Diese Lernfähigkeit ist jedoch durchgängig vorhanden.“(32)

Beispielsweise kann ein Europäer die Begriffe für Schneesorten erlernen, die die Eskimos haben.

Darüber hinaus kann das Hintergrundwissen thematisiert werde, so dass es Eingang in die Hypothesenbildung findet. Es gehört zur Forschungspraxis, die relevanten Hintergrundannahmen während der Hypothesenbildung oder im Nachhinein – nach der Durchführung der Untersuchung – die „vergessenen“ Hintergrundannahmen zu thematisieren. Es ist jedoch nicht möglich, alle Hintergrundannahmen zu thematisieren. Wollte man das, müsste man streng genommen die ganze Welt bzw. – im historischen Zusammenhang – die ganze historische Überlieferung thematisieren.

(c) Parteilichkeit und Objektivität

In postmodernen und in den von der Postmoderne beeinflussten feministischen Ansätzen geht man davon aus, dass unser Wissen immer schon interessen- und machtgeleitet ist. Diese Ansätze stellen Wissenschaft ausdrücklich in einen politischen Kontext. Wissenschaft soll von vornherein und durchgehend politischen Interessen dienen. Nicht Neutralität, sondern Parteilichkeit gilt als das Prinzip der wissenschaftlichen Arbeit.

Es empfiehlt sich, die postmodernen und feministischen Auffassungen im Zusammenhang mit dem sog. „Werturteilsstreit“ zu diskutieren. Im „Werturteilsstreit“ geht es um den Einfluss von Werten (z.B. in Form von politischen Vorstellungen, Interessen und Zielen) auf die Überprüfung von wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien. Können wissenschaftliche Hypothesen und Theorien anders überprüft werden als durch ihre Konfrontation mit der Realität?

Der „Werturteilsstreit“ geht auf Überlegungen von Max Weber zurück.(33) Er ist der Meinung, dass der Auswahl von Forschungsfragen Wertungen zugrunde liegen. Die Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten soll jedoch wertfrei durchgeführt werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dürfen wiederum für politische, soziale oder wirtschaftliche Ziele verwertet werden. Aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung folgen jedoch logisch keine Anweisungen darüber, wie diese Ergebnisse verwertet werden sollten.

In Anlehnung an Max Weber kann zwischen dem Entstehungszusammenhang, dem Begründungszusammenhang und dem Verwertungszusammenhang unterschieden werden.(34)

– Im Entstehungszusammenhang werden Untersuchungsgegenstände nach Relevanzgesichtspunkten ausgewählt. Die Auswahl kann von wissenschaftsexternen Faktoren, z.B. von politischen oder wirtschaftlichen Interessen, abhängen.
– Im Begründungszusammenhang sollen wissenschaftsexterne Wertungen ausgeschlossen werden. Sie dürfen den Prozess der Überprüfung bzw. Begründung von Hypothesen nicht beeinflussen. Das Postulat der Wertefreiheit soll demnach nur für den Begründungszusammenhang gelten.
– Im Verwertungszusammenhang können die gewonnen Erkenntnisse zu politischen Zwecken verwertet werden. Hier kann z. B. darüber entschieden werden, wie die Ergebnisse der Genforschung verwertet werden können.

In postmodernen und feministischen Ansätzen werden die einzelnen Ebenen vermischt. Der Entstehungszusammenhang und der Begründungszusammenhang werden nicht auseinandergehalten. Beispielsweise wird in den oben genannten feministischen Positionen aus der Tatsache, dass die meisten wissenschaftlichen Theorien von Männern aufgestellt wurden (Entstehungszusammenhang) auf die Falschheit oder Revisionsbedürftigkeit dieser Theorien (Begründungszusammenhang) geschlossen. Dass die meisten wissenschaftlichen Theorien von Männern aufgestellt wurden, sagt nichts über die Gültigkeit dieser Theorien aus.

Außerdem wird in den genannten Ansätzen der Begründungszusammenhang mit dem Verwertungszusammenhang vermischt, denn die wissenschaftliche Arbeit im Begründungszusammenhang wird – wie oben ausgeführt wurde – von vornherein in den Dienst von politischen Zielen gestellt.

Anmerkungen

(1) Adam Schaff, „Objektivität“, in: Josef Speck, Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Göttingen 1980, S. 460.
(2) Platon, Der Staat, Hamburg 2004.
(3) Thomas von Aquin, Summa Theologica I q 3 art. 2 resp.
(4) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 2006.
(5) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 2013.
(6) Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, Berlin 1958.
(7) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 23-25, Berlin 1983.
(8) Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 13, Berlin 1971.
(9) Rainer Schnell u. a., Methoden der empirischen Sozialforschung, München 20119, S. 108.
(10) Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986, S. 14f.
(11) Ebd., S. 46.
(12) Ebd., S. 135.
(13) Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989.
(14) Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 5.
(15) Ebd., S. 17.
(16) Ebd., S. 14.
(17) Ebd., S. 5.
(18) Ebd., S. 25.
(19) Jane Flax, „Gender as a social Problem“ (zitiert in: Sandra Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1990, S. 165).
(20) Sandra Harding, op. cit. 1990, S. 133.
(21) Ebd., S. 268.
(22) Dagmar Heymann, „Feministische Naturwissenschaft bei Evelyn Fox Keller“, in: Im Widerstreit mit der Objektivität (hrsg. Vom Verein Feministische Wissenschaft Schweiz und vom FrauenForum Naturwissenschaft), Zürich/Dortmund 1991, S. 60.
(23) Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York 1995, S. 61.
(24) Ebd., S. 80.
(25) Ebd., S. 61.
(26) Hans Albert, „Der Mythos des Rahmens und der moderne Antirealismus“, in: Volker Gadenne/Hans Jürgen Wedel (Hrsg.), Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S. 9ff.
(27) Karl Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 19934, S. 1-30.
(28) Helmut Kromrey, Empirische Sozialforschung, Opladen 200210, S. 42.
(29) Karl Popper, Logik der Forschung, 200511.
(30) Alexander Ulfig, „Der Mythos von der `sozialen Konstruktion`“, Cuncti 22.03.2014.
(31) Gerhard Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt 20082, S. 58f.
(32) Ebd., S. 60f.
(33) Max Weber, Methodologische Schriften. Studienausgabe, Frankfurt am Main 1968.
(34) Gerhard Schurz, op. cit. 20082, S. 45.

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Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.

Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".

In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.