Liberalismuskrise: Liberale sind nicht konservativ

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Trotz oberflächlicher Gemeinsamkeiten sind Konservativismus und Liberalismus in wichtigen Bereichen grundverschieden und stehen sich sogar diametral entgegen, meint Alexander Grau. Liberale setzen auf die emanzipierende Kraft der Moderne statt auf muffige Restaurationsphantasien.

Freiheitsstatue-ncvd4382 Im Januar veröffentlichte der stellvertretende Sprecher der AfD Baden-Württemberg und Dozent für Medienphilosophie an der HfG Karlsruhe Marc Jongen auf Cicero Online ein Manifest, dass in der Feststellung gipfelte: „Genuin liberal zu sein, heißt heute, konservativ zu sein. Zuweilen sogar reaktionär.“

Keine Frage: Das soll – in bester Karlsruher Tradition – irgendwie provokativ wirken und ein bisschen polemisch. Neu ist der Gedanke allerdings nicht. Seit geraumer Zeit wird in einschlägigen Medien immer wieder diskutiert, ob der Konservativismus so etwas wie der natürliche Verbündete oder zumindest strategische Partner des Liberalismus ist.

Der Grund für die Debatte ist leicht zu erkennen. Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so zu sein, als ob es programmatische Überschneidungen zwischen Liberalen und (Neo-)Konservativen gäbe: Beide streiten für Meinungsfreiheit, das Recht auf Eigentum und wenden sich gegen die Bevormundung des Einzelnen durch den Staat.novo117 cover b175

Ist es also wirklich so, dass, wie Jongen behauptet, liberal zu sein heutzutage bedeutet, konservativ zu sein? Oder am Ende gar reaktionär? Die Antwort auf diese Frage ist einfach. Sie lautet: Nein! Die oberflächliche Nähe von liberalen und (neo-)konservativen Denkansätzen ergibt sich aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen alle Versuche, die Gesellschaft im Sinne linker, linksalternativer oder ökosozialistischer Ideologien zu normieren und paternalistisch umzuerziehen: sei es mit Hilfe von Quotierungen, der Reglementierung des Konsumverhaltens oder des Durchsetzens eines bestimmten Familienideals.

„Der Konservative ist eigentlich gar nicht gegen den starken Staat.“

An diesem Punkt hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Denn der Konservative ist eigentlich gar nicht gegen den starken Staat. Er ist nur gegen den starken linken Staat. Solang der Staat in der Hand aristokratischer oder bürgerlicher Eliten war und beharrlich traditionelle Werte gegen Modernisierungstendenzen verteidigte, solang war der Konservative ein eifriger Verteidiger eines omnipräsenten und autoritären Staatswesens.

Aufgrund der politischen Reformen und der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ab den 1970er-Jahren kollidierte die konservative Staatsanbetung jedoch zunehmend mit der Staatswirklichkeit. Staat und Gesellschaft machten sich verstärkt Ziele und Ideale zu Eigen, die in konservativen Milieus als links oder zumindest linksliberal wahrgenommen wurden. Der Konservative begann sich vom Staat zu entfremden.

Die Staatsskepsis der neuen Konservativen ist somit nicht Ausdruck eines prinzipiellen Misstrauens gegen den Staat, sondern lediglich einer Unzufriedenheit mit der normativen Ausrichtung des gegenwärtigen Staates. So richten sich etwa die neokonservativen Vorbehalte gegen staatlich sanktionierte Emanzipationskonzepte nicht gegen die damit verbundene Bevormundung, sondern im Grunde gegen den Emanzipationsgedanken selbst und die Befreiung des Individuums aus tradierten Rollenkonzepten. Dieses anti-emanzipatorische Ressentiment ist mit liberalem Denken unvereinbar. Liberalismus und Emanzipation des Individuums sind untrennbar miteinander verbunden. Dazu gehört allerdings auch, dass es aus liberaler Sicht dem Einzelnen überlassen bleiben sollte, inwieweit er oder sie zeitgenössischen Emanzipationsvorstellungen folgen möchte: Ein wahrhaft emanzipiertes Leben bedeutet für den Liberalen daher auch die Freiheit von politisch verordneten Emanzipationszwängen und das Recht auf ein selbst bestimmtes, etwa traditionellen Vorstellungen verpflichtetes Leben.

„Ausgangspunkt liberalen Denkens ist das Individuum, seine Freiheit, seine Autonomie und sein Recht, nach Glück zu streben.“

Wie scheinheilig die konservative Empörung über linke Reglementierungswut ist, zeigt sich spätestens bei Themen wie Abtreibung, Pränataldiagnostik oder Sterbehilfe. Plötzlich nämlich kann gar nicht genug vorgeschrieben, verboten oder dirigiert werden. Und es ist daher auch kein Zufall, dass etwa bei vielen bioethischen Themen konservative Standpunkte und linksökologische Positionen kaum noch voneinander zu unterscheiden sind.

Besonders hübsch ist die konservative Melange aus kultureller Verklemmung und autoritären Reflexen bei dem Thema Homosexualität zu beobachten. Zwar trauert man in diesen Kreisen vermutlich nur hinter vorgehaltener Hand dem § 175 StGB hinterher, die Vorstellung aber, dass der Staat das Idealbild der heterosexuellen Klein- oder besser noch Großfamilie zu propagieren habe, ist in diesen Milieus immer noch fest verankert – wenn nicht schlimmeres. Für Liberale hingegen ist klar: Sexualität ist Privatsache. Wer, was, mit wem im Bett anstellt, ist für den Staat uninteressant. Es ist nicht Aufgabe des Staats, besondere sexuelle Vorlieben oder Lebensentwürfe zu fördern. Das gilt allerdings nicht nur für heterosexuelle Partnerschaften, sondern auch mit Blick auf ideologisch motivierte Forderungen sexueller Minderheiten.

Ausgangspunkt liberalen Denkens ist das Individuum, seine Freiheit, seine Autonomie und sein Recht, nach Glück zu streben. Den Konservativen aber interessiert das Individuum nicht. Im Gegenteil, für ihn zählt die Traditionsgemeinschaft, die Glaubenvereinigung, das Volk, die Nation oder irgendein anderes identitätsstiftendes Kollektiv. Individualismus ist aus konservativer Sicht ein fehlgeleiteter und fehlleitender Modernismus, der zur Zersetzung und Atomisierung gewachsener Gemeinschaften führt. Erst Traditionsgemeinschaften wie Volk oder Nation geben aus konservativer Sicht dem vereinzelten Individuum der Moderne wieder seinen Wert. Der Konservativismus ist ein systematischer Antiindividualismus und steht somit liberalem Denken diametral entgegen. Die ressentimentgeladene Konzeptlosigkeit des Konservativismus wird auch daran deutlich, dass er neben seinem ausgeprägten Antiindividualismus eine tiefe Verachtung für die moderne Massengesellschaft und ihre populärkulturellen Phänomene kultiviert.

Kulturpessimismus und dünkelhafte Abscheu vor der Massenkultur ist dem Liberalismus jedoch fremd. Das liegt nicht nur daran, dass er ein zutiefst von aufklärerischem Optimismus getragenes politisches Konzept ist. Vor allem basiert der Liberalismus auf der Einsicht, dass ästhetische oder ethische Normen und Werte keine objektiven oder rational erkennbaren Größen sind, sondern in letzter Konsequenz Ausdruck persönlicher Präferenzen. Dieser subjektive und relative Charakter von Normen und Werten ist aus liberaler Sicht aber kein Mangel. Im Gegenteil, er eröffnet dem Individuum erst die Möglichkeit, sich frei und unabhängig von Traditionen, Bräuchen oder gar objektivistischen Moralansprüche zu entfalten.
Es gehört zu den besonderen Borniertheiten des Konservativismus, den modernen Wertewandel als Werteverfall zu interpretieren. Werte aber gehen nicht verloren, sie ändern sich lediglich.

„Liberal zu sein, bedeutet nicht, konservativ zu sein. Geschweige denn reaktionär.“

Mit seinem nüchternen Rationalismus ist das liberale Denken Erbe und auch Speerspitze der radikalen Aufklärung. Wissenschaftliche und technische Rationalität gelten dem Liberalen – anders als dem Konservativen – nicht als Zeugnisse einer degenerierten, entfremdeten und zerstörerischen Vernunft, sondern als Ausdruck menschlicher Kreativität, Gestaltungskraft und Phantasie. Zugleich ist der wissenschaftliche Rationalismus ein Bollwerk gegen Ideologien, Aberglaube und Mystizismus – weshalb Ideologen von links und rechts immer wieder versuchen, ihn seinerseits als Ideologie zu entlarven.

Liberal zu sein, bedeutet nicht, konservativ zu sein. Geschweige denn reaktionär. Es bedeutet von der Freiheit und Autonomie des Individuums überzeugt zu sein, der emanzipierenden Kraft der Moderne, von Optimismus, wissenschaftlicher Rationalität und technischem Fortschritt. Mit konservativen Restaurationsfantasien von Familie und Nation ist das alles unvereinbar.

Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 – I/2014) erschienen.

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist und ist u.a. Kolumnist bei Cicero Online. Dort ist dieser Artikel zuerst Anfang des Jahres unter dem Titel „Konservative sind zutiefst antiliberal” erschienen.

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