Das Elend der Postmoderne

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Die philosophische Postmoderne ist der größte intellektuelle Irrtum unserer Zeit. Ihr Hauptanliegen ist es, bestehende Strukturen zu zerstören, sie zu dekonstruieren.

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Diesem Zweck dienen drei gedankliche Vorgänge: die Historisierung (alles ist historisch, alles vergeht), die Individualisierung (nur das Einzelne, das Singuläre zählt, es gibt kein Allgemeines, Allgemeingültiges, Universelles) und die Kontextualisierung (jegliches Wissen hängt vom jeweiligen historischen und sozio-kulturellen Kontext ab). Die Durchführung dieser Vorgänge führt in der Postmoderne zum Relativismus.

Im theoretischen Bereich gibt es für die Postmodernisten keine festen Beurteilungskriterien, Standards und Methoden, ferner keine Wahrheit und Objektivität. Im praktischen Bereich zeichnet sich der postmoderne Relativismus durch die Auflösung von fundamentalen Prinzipien, Normen, Werten und Orientierungen. Die Konsequenz davon ist eine skrupellose Machtpolitik.(1)

Doch die Vorgänge der Historisierung, der Individualisierung und der Kontextualisierung wurden nicht von den Postmodernisten erdacht. Sie wurden bereits im 19. Jahrhundert von den sog. Historisten thematisiert und erhielten von ihnen einen herausragenden Stellenwert. Die Historisten dachten sie wesentlich radikaler als die Postmodernisten, ohne dass die Ersteren daraus relativistische Konsequenzen gezogen hätten, denn sie waren an der Ausarbeitung einer Methodologie der Geschichts- und Geisteswissenschaften interessiert, d.h. an der Ausarbeitung von Methoden, von Vorgehensweisen, mit deren Hilfe historische Phänomene verstanden werden können.

Im ersten Schritt möchte ich darstellen, wie repräsentative Vertreter des Historismus die drei genannten Vorgänge ausführen. Von besonderer Wichtigkeit ist der Umstand, dass sie dem Relativismus entgehen, indem sie geisteswissenschaftliche Methoden herausarbeiten. Im zweiten Schritt möchte ich schildern, wie repräsentative Vertreter der philosophischen Postmoderne die drei Vorgänge zum Kern ihrer Positionen machen. Dabei werde ich fragen, ob die Postmodernisten einen Weg aus dem Relativismus gefunden haben, d.h. ob sie eine wissenschaftliche Methode entwickelt haben.

Der Historismus: Wege zur geisteswissenschaftlichen Methodologie

Als Historismus wird eine geisteswissenschaftliche Strömung des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die davon ausgeht, dass sowohl unsere Realität als auch unser Denken über die Realität wandelbar und historisch sind. „Wahrheit“ ist dieser Position zufolge relativ zu der jeweiligen historischen Situation.(2)

Der Historismus wendet sich gegen die aufklärerische Idee einer unveränderlichen menschlichen Natur, insbesondere dagegen, dass es feste, statische Bedingungen unserer Erkenntnis, d.h. ein unveränderliches Apriori der Erkenntnis, und dass es – im praktischen Bereich – unveränderliche Normen und Werte gibt. Er wendet sich somit gegen die Grundannahme der Kantischen Philosophie, nach der die menschliche Natur einen unveränderlichen und ahistorischen Charakter hat.

Der Historismus opponiert darüber hinaus gegen die Hegelsche Philosophie, für die zwar alles, d.h. sowohl der Mensch als auch die Welt (in Hegels Terminologie: der Geist), geschichtlich ist, einzelne Phänomene und Ereignisse jedoch einer allgemeinen und notwendigen Entwicklung folgen bzw. unter ein allgemeines Entwicklungsgesetz subsumiert werden.

Einer der ersten Historisten ist der Philosoph Johann Gottfried Herder. Er wendet sich gegen die Annahme eines ahistorischen Wesens des Menschen und gegen die Vorstellung, dass einzelne Phänomene bloß Ausdrücke, Manifestationen dieses ahistorischen Wesens sind. Herder geht es darum, das Einzelne, das Singuläre in seiner Einzigartigkeit zu erfassen. Er entwickelt den Gedanken der historischen Individualität. Geschichte wird von ihm nicht als eine Ansammlung von aufeinanderfolgenden Manifestationen eines ahistorischen Wesens des Menschen, sondern als „Abfolge unverwechselbarer Individualitäten“ aufgefasst.(3)

In seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schildert Herder solche „Individualitäten“, wobei er zu ihnen in erster Linie „Volksgeister“, „Völker“ und „Nationen“ zählt.(4) Sein Anspruch ist es, die „Individualitäten“ in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit zu erfassen. Auch einzelne Epochen stellen „Individualitäten“ dar. Sie können nicht anhand eines allgemeinen Musters oder einer „Logik der Geschichte“, sondern nur aus sich heraus verstanden werden. Genauer: Eine Epoche kann nur mit Hilfe von Vorstellungen, Normen und Werten verstanden werden, die in dieser Epoche herrschten.

Den Gedanken, dass jede geschichtliche Epoche einen Eigenwert hat, finden wir bei dem Historiker Leopold von Ranke noch genauer ausgearbeitet. Sein bekannter Satz lautet:

„Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“(5)

Da die einzelnen Epochen unmittelbar zu Gott sind, können sie als gleichwertig betrachtet werden. Ranke zufolge kann es in der Geschichte keinen Fortschritt geben, denn der Gedanke des Fortschritts setzt voraus, dass die einzelnen Epochen ihren Wert nicht in sich haben, sondern im Dienste eines höheren, zukünftigen Ziels stehen. Überdies widerspricht der Fortschrittsgedanke dem Ideal der menschlichen Freiheit; folgen Menschen dem Fortschrittsgedanken, dann ordnen sie sich einem höheren, zukünftigen Ziel unter. Sie können nicht aus Freiheit handeln, sondern werden durch ein höheres Ziel bestimmt, determiniert.

Der Freiheitsgedanke ist für Ranke aber zentral. Ohne Freiheit kann es keine Geschichte geben. Die Ablehnung des Fortschrittsgedankens und des teleologischen Determinismus einerseits sowie die Hervorhebung des Individuellen und der menschlichen Freiheit andererseits führen bei Ranke allerdings nicht zum Relativismus. Ranke wendet sich gegen die Ableitung des Individuellen aus einem Allgemeinen, sei es einem übergeordneten Ziel oder einer notwendigen Entwicklung in der Geschichte, plädiert jedoch für den umgekehrten Weg: für den Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen, von einzelnen individuellen Ereignissen oder historischen Gebilden zum Allgemeinen, zu Regelmäßigkeiten, Zusammenhängen und Entwicklungen. In anderen Worten: Ranke spricht sich nicht für die deduktive, sondern für die induktive Methode aus.

Obgleich er die Einzigartigkeit von geschichtlichen „Individualitäten“ und die besondere Rolle der menschlichen Freiheit hervorhebt, ist er kein Relativist. Als empirisch arbeitender Historiker möchte er zeigen, „wie es eigentlich gewesen“. Die Geschichte ist für ihn nichts Konstruiertes. Sie besteht aus Fakten, die der Historiker durch seine Quellenarbeit feststellen muss. Dabei sind nicht nur einzelne historische Ereignisse, sondern auch größere Zusammenhänge in der Geschichte objektiv gegeben.

Eine radikale Historisierung der Welt und des die Welt erkennenden Menschen wird von dem Historiker Johann Gustav Droysen vollzogen. Droysen richtet sein Augenmerk in erster Linie nicht auf die Geschichte, d.h. auf historische Ereignisse, Zusammenhänge und Entwicklung, sondern auf unsere Auffassungsweise, auf unser Bewusstsein von Geschichte:

„Das Gegebene für die historische Erfahrung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen, von dem, was war und geschah oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“(6)

Droysen vollzieht somit in Anlehnung an Immanuel Kant eine Wende zum erkennenden Subjekt und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, und zwar der Erkenntnis des Geschichtlichen. Er fragt demnach nicht danach, wie die äußere Realität, das Ding an sich, beschaffen ist, sondern nach den Bedingungen der Erkenntnis der Welt, genauer: der geschichtlichen Welt. Ohne diese Bedingungen, ohne dieses Bewusstsein könnten wir die Geschichte gar nicht erkennen. Zugespitzt formuliert: Das Bewusstsein konstruiert die Geschichte.

Den in der Postmoderne wie ein Dogma aufgefassten Gedanken der sozialen Konstruktion finden wir bei Droysen bereits ausgeführt: Es gibt keine Realität an sich, unser Bewusstsein konstruiert die Realität. Es gibt keine Geschichte an sich, Geschichte ist eine Konstruktion des Bewusstseins.

Wie ich bereits erwähnte, lehnt sich Droysen in seinen Überlegungen an die Philosophie Immanuel Kants an. Während jedoch für Kant sowohl die äußere Realität, das Ding an sich, als auch das erkennende Subjekt, genauer: die im Subjekt liegenden Voraussetzungen der Erkenntnis, statisch sind (sie gehören zur unveränderlichen Natur des Menschen), haben sie bei Droysen einen geschichtlichen Charakter. Das bedeutet: Auch unser Bewusstsein von Geschichte ist etwas Geschichtliches, es unterliegt der Veränderung, dem Wandel. Heute würde man sagen: Auch die Perspektiven, aus denen heraus wir die Geschichte betrachten, und die Interpretationen der Geschichte ändern sich.

Kant zählt zu den unveränderlichen, statischen Bedingungen der Erkenntnis die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit, die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) und die reinen Vernunftbegriffe (Ideen). Droysen nennt – vor allem in seiner methodologischen Hauptschrift Historik – Bedingungen, unter denen Geschichte verstanden werden kann. Zentral ist für ihn die Anschauungsform Zeit, denn ohne ein Zeitbewusstsein können wir Geschichte, genauer: ihre Bewegung, ihre Entwicklung, ihr „Nacheinander des Gewordenen“ und  ihr Fortschreiten, nicht verstehen. Auch sittliche Elemente wie die Freiheit gehören Droysen zufolge zu Bedingungen des Geschichtlichen.

Ob es Droysen gelungen ist, eine vollständige Typologie von Erkenntnisbedingungen des Geschichtlichen aufzustellen, kann hier nicht entschieden werden. Auch die Frage, wie man überhaupt etwas erkennen kann, wenn sich die Bedingungen der Erkenntnis ändern, wenn die selbst geschichtlich sind, kann hier nicht beantwortet werden. Es geht mir vielmehr darum zu zeigen, dass Droysen aus der von ihm vollzogenen radikalen Historisierung keine relativistischen Konsequenzen zieht.

Sein Ziel ist es, eine „Methodik des historischen Forschens“ zu entwickeln.(7) Sie stellt Regeln bereit, denen Geschichtswissenschaftler folgen sollten. Die Geschichtswissenschaft muss ihre eigenen Methoden entwickeln. Während es in den Naturwissenschaften darum geht, allgemeine Gesetze der Natur aufzustellen und anhand dieser Gesetze die Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen zu erklären, besteht die historische Methode darin, „forschend zu verstehen“.(8) Das Verstehen gewinnt somit eine zentrale methodologische Bedeutung. Verstehen heißt, das zu erkunden, was in den Zeugnissen der Geschichte zum Ausdruck kommt. In anderen Worten: Im Verstehensprozess soll auf das zurückgeschlossen werden, was in  historischen Dokumenten zum Vorschein kommt.

Nach Droysen sind es in erster Linie sittliche Mächte wie Sprache, Religion, Wissenschaft usw., die in historischen Dokumenten zum Ausdruck kommen und die verstehend erforscht werden sollen. Verstehen ist jedoch kein intuitives, also kein subjektives, sondern ein geregeltes und „intersubjektiv nachvollziehbares Verfahren“.(9)

Entscheidend für den Verstehensprozess ist Droysen zufolge das Modell der gegenseitigen Bedingtheit von Einzelnem und Ganzem. Das Einzelne kann nur aus dem Ganzen und umgekehrt das Ganze nur aus dem Einzelnen verstanden werden. Ein historisches Zeugnis kann nur aus dem Ganzen einer Epoche und die Epoche nur aus ihren einzelnen Zeugnissen heraus verstanden werden. Einzelne Zeugnisse bilden das empirische Material, das Ganze stellt einen Zusammenhang, das Allgemeine dar.

Der Philosoph Wilhelm Dilthey setzt das von Droysen und den anderen Historisten begonnene Werk fort. Er gilt als der bedeutendste Historist des 19. Jahrhunderts und als der eigentliche Begründer der Geisteswissenschaften. Auch bei ihm finden wir eine radikale Historisierung, Individualisierung und Kontextualisierung der Welt und des Wissens von der Welt.

Dilthey ist daran interessiert, die Eigenart der Geisteswissenschaften und somit den Unterschied zwischen ihnen und den Naturwissenschaften herauszustellen. Der Gegenstand der Naturwissenschaften ist die äußere Realität. In ihnen wird von der Besonderheit der Einzeldinge und -vorgänge abgesehen. Die Einzeldinge und -vorgänge werden als Fälle von allgemeinen Naturgesetzen betrachtet. Der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist hingegen die geschichtlich-kulturelle Wirklichkeit. Ihr Zweck ist das Verstehen von Zeugnissen, Ereignissen, Kulturgebilden, Personen usw. in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer Individualität. In den Naturwissenschaften geht es um das Erfassen des Allgemeinen, in den Geisteswissenschaften um das des Einzelnen, Besonderen, Individuellen. Die Methode der Naturwissenschaften ist das Erklären, die der Geisteswissenschaften das Verstehen.(10)

Dilthey gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Theorie des Verstehens, die als Hermeneutik bezeichnet wird (Hermeneutik = die Kunst des Verstehens). Er bestimmt Verstehen als das Erfassen von Bedeutungen menschlicher Äußerungen. Verstehen ist kein intuitiver, rein subjektiver Vorgang, vielmehr soll es bestimmten allgemeinen Regeln folgen. Verstehen soll vor subjektiver Beliebigkeit geschützt werden.

Dilthey entwickelt daher Regeln, mit deren Hilfe Verstehen als eine intersubjektiv nachprüfbare und in diesem Sinne wissenschaftliche Methode etabliert werden kann. Neben den von Droysen und anderen Historisten behandelten hermeneutischen Mitteln wie dem Verstehen des Ganzen aus dem Einzelnen und des Einzelnen aus dem Ganzen sowie dem Schließen von Äußerem, genauer: von Äußerungen, auf das Innere untersucht er das SichHineinversetzen, das Nachbilden und das Nacherleben.(11) Man kann sich nicht nur in Personen, sondern auch in Zeugnisse der Geschichte, Kulturprodukte wie Kunstwerke und sogar in ganze Epochen hineinversetzen. Dadurch kann man ihren Sinngehalt erschließen.

Ähnlich wie Droysen erweitert Dilthey die kantische „Kritik der reinen Vernunft“ durch eine „Kritik der historischen Vernunft“. Das bedeutet, dass die Bedingungen des Verstehens nicht unveränderlich und statisch, sondern veränderlich, dynamisch und prozesshaft sind. Sowohl die historische Wirklichkeit (das Ablaufen von Ereignissen) als auch das Wissen um diese Wirklichkeit (das Verstehen) haben einen dynamischen, d.h. geschichtlichen Charakter. Dilthey spricht daher von der Geschichtlichkeit des Verstehens. Überdies ist nach Dilthey jegliches Verstehen in einen Kontext eingebunden. Es hängt immer von dem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext ab.

Doch Dilthey bleibt beim radikalen Kontextualismus nicht stehen. Die einzelnen Verstehenskontexte sind in einen größeren Zusammenhang – Dilthey spricht vom „Wirkungszusammenhang“ – eingebunden.(12) Er nennt diesen Wirkungszusammenhang das Leben. Es bezeichnet die Gesamtheit der von Menschen vollbrachten, vor allem geistigen Leistungen. Anstatt vom „Leben“ kann man auch von „geistiger Welt“ oder von „Kultur“ sprechen. Dilthey nennt einige allgemeine Kategorien des Lebens: Zeitlichkeit, Bedeutung, Wert, Zweck, Struktur, Entwicklung und das Verhältnis von Ganzem und Teilen.

Hermeneutiker nach Dilthey untersuchen weitere Bedingungen des Verstehens, weitere Mittel, mit denen Verstehen gelingen kann. Als der bedeutendste Hermeneutiker des 20. Jahrhunderts gilt der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Für ihn soll die Hermeneutik nicht nur eine Methodologie der Geisteswissenschaften bilden. Sie hat einen viel größeren Anspruch: Da das Verstehen eine fundamentale Fähigkeit des Menschen ist – sogar als die wichtigste geistige Fähigkeit des Menschen angesehen werden kann – , hat die Hermeneutik den Anspruch, das Selbst- und Weltverständnis des Menschen offenzulegen. Entscheidend ist, dass die Hermeneutik nach allgemeingültigen, universellen Bedingungen des Verstehens fragt. Betrachten wir einige dieser von Gadamer behandelten universellen Bedingungen bzw. Merkmale des Verstehens.(13)

Jedes Verstehen setzt ein Vorverständnis voraus. Anders formuliert: Es gibt kein voraussetzungsloses Verstehen. Jedes Verstehen ist vermittelt. Ich kann etwas verstehen, weil ich einen bestimmten, durch unsere Geschichte, Kultur, Tradition usw. geprägten Wissens- und Erfahrungshorizont habe.

Zum Vorverständnis gehören notwendigerweise Vorurteile (vorgeprägte Meinungen). Gadamer hebt hervor, dass sie nichts Negatives, sondern wichtige Bedingungen des Verstehens sind. Wenn ich in einen Dialog mit anderen Menschen trete oder einen Text lesen, dann kommt es zu einer Horizontverschmelzung; mein Horizont trifft auf den Horizont eines anderen Menschen oder auf den Bedeutungshorizont eines Textes. Durch die Begegnung mit anderen Horizonten kann sich mein Horizont ändern. Ich kann z. B. meine Vorurteile korrigieren oder revidieren.

Das Verstehen hat einen zirkulären Charakter. Ich wende mich aus meinem Vorverständnis heraus der Welt (anderen Menschen oder Texten) zu. In der Begegnung mit der Welt kann es zu einer Änderung meines Vorverständnisses kommen. Neue Kenntnisse fließen in mein bisheriges Vorverständnis ein. Mit dem veränderten Vorverständnis wende ich mich erneut der Welt zu usw. Diese „Bewegung“ wird als hermeneutischer Zirkel bezeichnet.

In Anlehnung an Dilthey behauptet Gadamer, dass jedes Verstehen in einen größeren geschichtlich vermittelten Wirkungszusammenhang eingebunden ist. Er nennt diesen Zusammenhang Wirkungsgeschichte. Damit meint er den gesamten historisch-kulturellen Prozess. Man kann statt von Wirkungsgeschichte auch von geistesgeschichtlicher Überlieferung oder von Tradition sprechen.

Im Unterschied zu Dilthey legt Gadamer einen viel größeren Wert auf die Sprache. Sie hat gegenüber dem Diltheyschen Nacherleben methodologische Vorteile, denn Sprache ist immer intersubjektiv, eignet sich besser zur intersubjektiven Überprüfung von Verstehensinhalten. Verstehen ist immer sprachlich vermittelt. Sinngehalte können nach Gadamer nur in der Sprache erfasst werden.

Ich wiederhole: All die von Gadamer genannten Bedingungen des Verstehens sind allgemeingültig (universell). Sie sind ferner intersubjektiv nachvollziehbare Instrumente des Verstehens und erhalten somit einen methodologischen Charakter.

Die Postmoderne: Abkehr von Wissenschaftlichkeit und Methodologie

Auch die philosophischen Postmoderne vollzieht eine radikale Historisierung, Individualisierung und Kontextualisierung der Welt und des Wissens von der Welt. Sie lehnt „große Erzählungen“ ab. d.h. alle Theorien, die die ganze Geschichte erklären wollen. Gemeint sind vornehmlich die Theorien von Hegel und Marx.

Für den Postmodernisten Jean-François Lyotard gibt es in der Geschichte keinen Fortschritt, keine Entwicklungslogik, kein Zentrum, keine Einheit und keinen übergreifenden Sinn.(14) Vielmehr gibt es unterschiedliche Perspektiven und Diskurse, die wiederum unterschiedliche Geschichten konstruieren. Es gibt demnach nicht die Geschichte, sondern unterschiedliche lokale Geschichten. Perspektiven, Diskurse und Geschichten sind miteinander inkommensurabel, d.h. unvergleichbar, ineinander nicht übersetzbar. Sie sind gleichwertig und stehen sozusagen gleichberechtigt nebeneinander.(15) Es kommt darauf an, nicht das Allgemeine, sondern das Einzelne, das Singuläre, das Individuelle aufzuzeigen.

Michel Foucault, der wohl bedeutendste Vertreter der philosophischen Postmoderne, bläst ins gleiche Horn. Es gibt ihm zufolge kein transzendentales Subjekt als Zentrum der Welt und als Ort der wahren Erkenntnis. Es gibt kein Subjekt, das Einheit und Sinn stiften würde. Auch für ihn zerfällt die Geschichte in unterschiedliche Geschichten.(16)

Alles, was existiert, ist historisch bedingt, ist irgendwie geworden. Foucault fragt in Anlehnung an Nietzsche nach der Entstehung (Genealogie) von Wissensarten, Diskursen, Machtverhältnissen usw., ohne allerdings den „wahren“ Entstehungsort der genannten Phänomene erkennen zu wollen.
Die „wirkliche“ Historie zeichnet sich dadurch aus, „dass sie keinerlei Beständigkeit voraussetzt“.(17)

Das Ziel der genealogischen Vorgehensweise ist es, Phänomene und Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit , in ihrer Individualität aufzuzeigen. Die Historisierung – und die durch sie bedingte Individualisierung – wird bei Foucault „zum Kern des philosophiekritischen Projekts schlechthin“.(18) Sie wird in allen seinen Schaffensperioden im Bezug auf alle relevanten Untersuchungsgegenstände durchgeführt. Hinsichtlich der Historisierungsversuche Foucaults kann man von „einem Historismus der Wissensordnungen, einem Historismus der Machttypen und einem Historismus der Formen des Selbstbezugs und der Selbstverhältnisse“ sprechen.(19)

Nach Foucault gibt es kein allgemeingültiges Wissen. Jegliches Wissen hängt von dem jeweiligen historischen und sozio-kulturellen Kontext ab. In anderen Worten: Jegliches Wissen ist standortgebunden. Daher kommt es für Foucault darauf an, „ein besonderes, lokales, regionales Wissen“ herzustellen.(20)

Donna Haraway, einer der einflussreichsten postmodernen Feministinnen, genauer: Gender-Konstruktivistinnen, benutzt den Begriff des „situierten Wissens“. Es bildet sich durch „Verortung“, „Verkörperung“ und „Positionierung“. Haraway gibt wie andere Postmodernisten den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und den auf Objektivität auf.(21)

Postmoderne Denker vollziehen ähnlich wie die Historisten des 19. Jahrhunderts eine radikale Historisierung, Individualisierung und Kontextualisierung der Welt und des Wissens von der Welt. Historisierung, Individualisierung und Kontextualisierung bilden den Kern der postmodernen Philosophie. Doch die konsequente Durchführung der drei Vorgänge hat unvermeidlich den Relativismus zur Folge. Wenn alles vergeht, wenn nichts eine dauerhafte Geltung hat, wenn es keine allgemeingültige Erkenntnis gibt, ja wenn das Allgemeine gar nicht angestrebt wird, sondern das Einzelne in seiner Einzigartigkeit erfasst werden soll, und wenn jegliches Wissen von dem jeweiligen historischen und sozio-kulturellen Kontext abhängt, dann zieht das einen ontologischen und vor allem einen erkenntnistheoretischen Relativismus nach sich.

Die Historisten versuchen, in der Ausarbeitung einer Methodologie der Geisteswissenschaften einen Ausweg aus dem Relativismus zu finden. Sie geben methodische Mittel an, mit deren Hilfe kulturelle Phänomene verstanden werden können. Diese Mittel haben einen allgemeingültigen Charakter. Doch haben die Postmodernisten solche Mittel entwickelt? Haben sie überhaupt eine Methode entwickelt?

Immer wieder wird die Diskursanalyse, auch kritische Diskursanalyse genannt, als die Methode der Postmodernisten bezeichnet. Es gibt eine Vielfalt von Diskursen, wobei von postmodernen Philosophen nicht genau bestimmt wird, was „Diskurs“ bedeutet. Nach Lyotard gehören zu Diskursen beispielsweise der Text eines Philosophen, der Bericht eines Historikers oder ein Roman.(22) An einer anderen Stelle spricht er von wissenschaftlicher, ökonomischer, und pädagogischer „Diskursart“.(23) Ein Diskurs ist ein Sinnzusammenhang oder ein Regelsystem, der/das ein bestimmtes Thema betrifft. Eine unklarere Bestimmung von „Diskurs“ kann man sich kaum vorstellen.

Auch Foucault liefert keine klare Definition von „Diskurs“. Die Aufgabe der Diskursanalyse ist es, die Entstehung, die Bedingungen, das Funktionieren, die Institutionalisierung und die Wandlung von Diskursen zu untersuchen:

„Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.“(24)

Diskurse sind demnach keine rein sprachlichen Gebilde, sondern haben einen Einfluss auf die Realität – sie konstruieren die Realität. Sie haben eine performative Funktion, d.h. man tut etwas mit ihnen, man vollzieht mit ihnen Handlungen. Diskurse bestimmen die gesellschaftliche Praxis. Und da die gesellschaftliche Praxis von Macht durchdrungen ist, sind Diskurse Instrumente, mit denen Machtverhältnisse konstruiert werden. Daher ist die Diskursanalyse bei Foucault in erster Linie eine Analyse der Gesellschaft (soziologische Analyse? politikwissenschaftliche Analyse?), genauer: eine Analyse von Machtverhältnissen.

Da uns Foucault selbst offensichtlich keine methodischen Mittel liefert, wurde nach ihm versucht, die Diskursanalyse (kritische Diskursanalyse) als eine wissenschaftliche Methode zu etablieren. Doch selbst einer der Hauptvertreter der kritischen Diskursanalyse, der Soziologe Reiner Keller betont:

Diskursanalyse formuliert zuallererst einen breiten Gegenstandsbereich, ein Untersuchungsprogramm, keine Methode.“(25)

Für die kritischen Diskursanalytiker ist es von entscheidender Bedeutung, dass Diskurse keine rein sprachlichen Gebilde sind, sondern dass sie sich auf gesellschaftliche Sachverhalte beziehen. Allerdings finden wir auch hier keine klare Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes. Das Interesse der kritischen Diskursanalyse richtet sich darauf,

„was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als Wahrheit gilt, was in dieser Gesellschaft überhaupt gesagt werden kann und mit welchen Strategien der Sagbarkeitsraum eingeschränkt oder aber auch ausgeweitet werden kann.“(26)

Weitere Untersuchungsgegenstände der kritischen Diskursanalyse sind Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Doch ihr Hauptaugenmerk richtet sich Foucault folgend auf Machtverhältnisse. Die kritische Diskursanalyse versteht sich vorwiegend als Machtkritik. Somit wird sie politisch. Der kritische Analytiker soll nicht bei einer Beschreibung von gesellschaftlichen Sachverhalten stehen bleiben, sondern normativ zu den Sachverhalten Stellung beziehen. Er soll „Teilnehmer am Diskurs“ werden, sich mit Bewertungen und Forderungen in die politische Praxis einmischen.(27)

Die kritische Diskursanalyse zieht keine scharfe Linie zwischen Beschreibung und Bewertung. Darüber hinaus unterscheidet sie nicht zwischen dem Entstehungszusammenhang, dem Begründungszusammenhang und dem Verwertungszusammenhang.

Im Entstehungszusammenhang werden Untersuchungsgegenstände nach Relevanzgesichtspunkten ausgewählt. Die Auswahl ist wertend und kann von wissenschaftsexternen, z.B. politischen, Faktoren abhängen. Im Begründungszusammenhang sollen wissenschaftsexterne Wertungen ausgeblendet werden. Sie dürfen die Überprüfung von Hypothesen nicht beeinflussen. Hier soll wertfrei geforscht werden. Im Verwertungszusammenhang können die im Begründungszusammenhang gewonnenen Erkenntnisse für politische Zwecke verwertet werden.

Die kritische Diskursanalyse macht wissenschaftliche Forschung von vornherein und durchgehend zum Ort von sozialen und politischen Kämpfen.
Der Sprachwissenschaftler Thomas Niehr macht auf methodologische Mängel der kritischen Diskursanalyse und auf ihre Verschränkung mit der Politik aufmerksam. Die kritische Diskursanalyse setzt sich z. B. gegen Nationalismus, Rassismus, Sexismus usw. ein (was an sich ein begrüßenswertes Engagement ist), scheint dabei aber „a priori wissen zu müssen, was Nationalismus, Rassismus und Sexismus denn ´eigentlich` sei. Dies aber setzt eine privilegierte Sicht auf ´Wirklichkeit` voraus, die mit dem zitierten Anspruch („dass keiner die Wahrheit gepachtet hat“, A.U.) kaum vereinbar scheint.“(28)

Das bedeutet, dass die kritische Diskursanalyse nicht daran interessiert ist, Hypothesen aufzustellen, die gegebenenfalls widerlegt werden könnten. Sie weiß ja von vornherein, was richtig und falsch ist. Sie betrachtet die wissenschaftliche Arbeit nicht als einen offenen Forschungsprozess, in dem Annahmen sich als falsch erweisen können, sondern als ein Instrument zur Durchsetzung von politischen Interessen. Somit erfüllt sie nicht fundamentale methodologische Anforderungen.

Quellen:
(1) Alexander Ulfig, „Nihilismus, Postmoderne und skrupellose Machtpolitik“, in: Cuncti 15. 2. 2015: http://www.cuncti.net/geschlechterdebatte/593-nihilismus-postmoderne-und-skrupellose-machtpolitik
(2) Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg/München 1974, S. 20ff.
(3) Ebd., S. 25.
(4) Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Werke Bd. 3, Wolfgang Proß (Hrsg.), München 2002.
(5) Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Darmstadt 1970, S. 7.
(6) Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Rudolf Hübner (Hrsg.), Darmstadt 19727, S. 327.
(7) Ebd., S. 31ff.
(8) Ebd., S. 22, S. 328.
(9) Herbert Schnädelbach, op. cit. 1974, S. 110.
(10) Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1970, S. 89 ff.
(11) Ebd., S. 263ff.
(12) Ebd., S. 185ff.
(13) Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 250ff.
(14) Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986, S. 14f., S. 46.
(15) Ebd., S. 125.
(16) Vgl. Michel Foucault, Schriften in vier Bänden, Band I 1954-1969, Daniel Defert u.a. (Hrsg.), Frankfurt am Main 2001, S. 841.
(17) Michel Foucault, Schriften in vier Bänden, Band II 1970-1975, Daniel Defert u.a. (Hrsg.), Frankfurt am Main 2002, S. 179.
(18) Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main 2007, S. 297.
(19) Ebd., S. 297.
(20) Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 60/61.
(21) Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primate, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main 1995, S. 80.
(22) Jean-François Lyotard, op. cit. 1986, S. 14f.
(23) Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 11ff., S. 217.
(24) Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 74.
(25) Reiner Keller, „Diskursanalyse“, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997, S. 325.
(26) Thomas Niehr, Einführung in die linguistische Diskursanalyse, Darmstadt 2014, S. 52.
(27) Ebd., S. 53.
(28) Ebd., S. 55.

Buch von Alexander Ulfig, Wege aus der Beliebigkeit. Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, Baden-Baden 2016.

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Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.

Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".

In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.