Der aristokratisierte Individualismus – Freiheit zur Unfreiheit als Möglichkeitsbedingung des postmodernen Menschen

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Jeder ist sein eigener Monarch

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Aufgrund des angestiegenen Wohlstandes und der damit verbundenen individuellen, materiellen Unabhängigkeiten könnte der Anschein entstehen, dass der Mensch freier denn je sei – hätte er sich jedoch nicht im Rahmen dieser möglichen Freiheit für die Unfreiheit entschieden. Denn der Einzelne ist aufgrund seiner Konstitution von bestehenden inneren, also physiologischen und sozialen Bedürfnissen abhängig, welche unter anderem durch Aspekte der Beschleunigung, der zunehmenden Digitalisierung (äußere Abhängigkeiten) und durch die Unterstützung des Einzelnen intensiviert werden.

Dessen ungeachtet verfügt der Einzelne über das Potential sich diesen Geschehnissen zu entziehen und somit noch mehr Freiheit, nicht nur physischer, sondern zugleich geistiger Natur zu erlangen. Anscheinend überwiegt die Sinnlosigkeit von Freiräumen, weswegen der Mensch in seiner einstigen Freiheit die Unfreiheit der Freiheit vorzog und weiterhin vorzieht.

Daher sollen Möglichkeitsbedingungen aufgezeigt werden, welche die Freiheit zur Unfreiheit als Form einer neuen, postmodernen Freiheit des digitalen Zeitalters darlegen.

Der aristokratisierte Individualismus

Nie war der Mensch von äußeren, materiellen Zwängen so frei wie heutzutage – zumindest in den westlichen Gesellschaften. Dies ist sicherlich demokratischen, gesellschaftlichen Errungenschaften, wie beispielsweise der Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Gesetz, der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Religionsfreiheit und anderen Freiheiten zu verdanken. Denn diese sich in einem interdependentem Verhältnis befindend mit einer Verbesserung von Lebensbedingungen, einem Anstieg von Wohlstand, sowie dem Aufklärungsgedanken führten zu einer Herrschaft der Masse, welche sich einerseits darin manifestiert, solch ein prunkvolles Leben, was früher nur wenig Privilegierten zu Teil wurde, führen zu können, und andererseits die Verweigerung des Gehorsames der Massen gegenüber bestimmten Eliten (Ortega y Gasset, 1930).

Das Individuum ist somit aus physischer, materieller Betrachtungsweise, aber auch aus psychischem Blickwinkel durch die bildungsbedingte Erweiterung des geistigen Horizontes freier geworden. Aufgrund dieser Veränderungen, die ich als Aristokratisierung der Massen bezeichne, also eine Befreiung von jeglicher Autorität resultierend in eine Selbstpositionierung in diese frei gewordene autoritäre Lücke, bestehen für den Einzelnen eine Fülle von äußeren Möglichkeiten in Verbindung mit relativ wenigen Abhängigkeitsverhältnissen. Jeder ist sein eigener Monarch und wird vom anderen Monarch akzeptiert und respektiert.

Durch diese steigende Fokussierung auf das Individuum, durch diese wachsende Individualisierung mit gleichzeitig zunehmender Toleranz unter anderem als Ergebnis wachsender und breiter Aufklärung, erhält der Einzelne die Freiheit sich selbst nach seinen Idealen zu entfalten, zu kreieren; er kann selbst über sein Aussehen, seine Werte bestimmen – ohne hierbei sozial ausgegrenzt oder anderweitig verfolgt oder gedemütigt zu werden. Darüberhinaus kann jeder Einzelne unabhängig der entstehenden Auswirkungen zu jedem Zeitpunkt an fast jedem Ort sagen, was er will und zugleich seine Meinung, Werte oder Überzeugungen revidieren. Konsequenzen hierfür muss der Einzelne, zum Beispiel für das Überschreiten bestimmter moralischer Grenzen, nicht tragen. Jeder versteht jeden, man nimmt sich gegenseitig nicht ernst und verzeiht grenzenlos.

In Termini Robert Musils ist mittlerweile alles „vorläufig definitiv“ (Musil 2009: 226). Daher kann man von Tabubrüchen aufgrund der fast grenzenlosen Toleranz und Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, Anschauungen und so weiter nicht mehr sprechen; ein wahres Problem für die zeitgenössische Kunst, welche meist durch solche Tabubrüche mediale Aufmerksamkeit erfuhr. Eine Widerspiegelung dessen und somit einem hohen Grad an Freiheit findet man auch in einer Unterordnung der Relevanz gesellschaftlicher Schichten und der damit einhergehenden leichteren Durchlässigkeit zwischen diesen – also einer erhöhten sozialen Mobilität – zu Gunsten der Ausbreitung einzelner, unterschiedlicher, nebeneinander lebenden Subgruppen, wie beispielsweise dem konservativ, bürgerlichen oder dem kommunitaristischen Milieu, dem Feminismus, dem Pazifismus und vielen anderen Lebensweisen oder Überzeugungen. Es herrscht ein wahrer Pluralismus auf jeglichem Gebiet, wie dem Wertepluralismus oder auch auf politischer Ebene, auf welcher zum Beispiel in Deutschland die Dominanz zweier Großparteien mittlerweile auf mehrere Parteien verteilt ist und infolgedessen den Ethos der durch die Freiheit gewonnene Vielfalt des heutigen Menschen untermauert.

Aber auch das wiederholt auftauchende Begehren bestimmter nationaler Gruppierungen zum Ausruf eines eigenständigen, volllegitimierten Staates, wie zum Beispiel das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland zur endgültigen Separation vom Vereinigten Königreich oder jenes der Katalanen von Spanie, unterstützen das Bestehen eines veränderten, stärker ausgeprägten und vermehrt erlebten Individualismus als Resultat zunehmender Freiheit. Diese hochgradige Freiheit von äußeren, materiellen, sozialen Zwängen drückt sich auch in die thematisierten Problembehandlungen auf individueller, sowie auf gesellschaftlicher, politischer Ebene, welche auf immer höher werdendem Niveau stattfinden, aus: Diskutiert werden zum Beispiel Lösungen zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung, zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren oder die Einführung geschlechterneutraler Begriffe.

Hierbei spielen ebenfalls technische und technologische Fortschritte eine nicht unerhebliche Bedeutsamkeit. Vermittels digitaler Technologien schrumpfen bestehende Distanzen, sowohl physikalischer als auch psychischer beziehungsweise geistiger Natura. Physikalisch meint, dass der postmoderne Mensch innerhalb kürzester Zeit mittels Flugzeug, Bahn, Bus und Automobil weite Teile der Welt bereisen kann; er also flexibler ist. Auf psychischer beziehungsweise geistiger Ebene äußert sich diese Schrumpfung der Distanz neben der durch die Bildung aufkommende Aufklärung und deren Verbreitung auch durch die Einführung von Smartphones und Tablets in eine nie zuvor dagewesene Uneingeschränktheit bezüglich der Informationsbeschaffung und Kommunikation, die man zu jeder Zeit an fast jedem Ort betätigen kann, wie und wann es einem beliebt. Informationserhalt in Echtzeit findet statt.

Darüber hinaus bietet das Medium des Internets noch mehr Möglichkeiten, sich selbst und seine eigene Meinung einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren; nicht nur eine Erweiterung hinsichtlich der Art und Weise einer Selbstdarstellung oder Selbstkundgabe, sondern auch bezüglich des Erreichens bestimmter Personengruppen dieser selbstkreierten Beiträge. Jeder kann sich einen Internetblog einrichten sowie bei sozialen Netzwerken anmelden und seine Meinungen, Wertungen oder Ansichten bekanntmachen. Hierdurch eröffnen sich dem Einzelnen wesentlich mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, zur Realisierung persönlicher Ziele.

Die Grenzen der aristokratisierten Freiheit: physisch und sozial

Daher könnte man meinen, dass durch ein höheres Maß an gewonnener individueller Freiheit bezüglich äußerer Umstände der Mensch zufriedener und somit auch freier geworden ist. Jedoch werden hierbei nicht die inneren, natürlich menschlichen Zwänge, sowie die zweiseitige Natura des Menschen und deren Konsequenzen in Betracht gezogen.

Das Individuum unterliegt aufgrund seiner Konstitution und seiner Zugehörigkeit zur materiellen, physikalischen Welt – also äußeren Zwängen – bestimmten Bedingungen, welche sich in unterschiedlichen Bedürfnissen manifestieren. So konstatiert Abraham Maslow (1943) eine pyramidal, hierarchisch aufsteigende Reihenfolge von Bedürfnissen, bei welcher niedrigere Stufen grundlegendere und voraussetzungsbedingende Bedürfnisse für die nächsthöheren darstellen:

Auf unterster Ebene befinden sich (1) physiologische Bedürfnisse, welche nicht spezifisch für den Menschen sind und Aspekte, wie Hunger, Durst oder Sexualität darstellen.

Eine Stufe höher manifestieren sich die (2) Sicherheitsbedürfnisse, welche den Wunsch nach Beständigkeit, Schutz und Angstfreiheit anzeigen.

Auf der nächsthöheren Stufe findet man das Bedürfnis nach (3) Zugehörigkeit und Liebe, und an der Spitze der Bedürfnispyramide offenbart sich das menschliche Bedürfnis nach (4) Achtung und Wertschätzung.

Die oben erläuterte errungene physische beziehungsweise materielle Freiheit bezieht sich hiernach auf die untersten zwei Stufen der Maslowschen Pyramide, weswegen es überwiegend der geistigen Kraft beziehungsweise Anstrengung des Menschen gebührt den Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Liebe, sowie Achtung und Wertschätzung gerecht zu werden. Nichtsdestotrotz obliegt es dem Menschen als Spezies – und das unterscheidet ihn vom Tier – seine Bedürfnisse aufzuschieben, zu kanalisieren oder umzulenken, sich von seinen Trieben und Instinkten zu befreien; in Termini Bronislaw Malinowskis (1975, S.75) erschafft sich der Mensch eine sekundäre Umwelt. Nur hierdurch – dem Auftauchen neuer menschlicher Bedürfnisse – können Erfindung, Revolution, soziale und geistige Umwälzungen, sowie letztendlich Fortschritt stattfinden (Malinowski 1975, S.80) und infolgedessen zu einer Erweiterung menschlicher Freiheit führen.

Der Mensch ist allerdings nicht nur ein individuelles, sondern gleichsam in seiner Natur verankert, ein soziales Wesen; unter anderem schon Aristoteles bezeichnete den Menschen als zoon politikon und Èmile Durkheim diesen als homo duplex. Denn soziale Kräfte beeinflussen wesentlich das Denken, die Gefühle und das Verhalten des Einzelnen und münden in ein konformistisches Verhalten dieses, wie schon David Riesman (1977) beobachtete und als Außenlenkung bezeichnete.

Als prototypisches Beispiel für den normativen sozialen Einfluss, der die Anpassung an implizite und explizite Regeln für ein akzeptables Verhalten, Werte und Überzeugungen meint, jedoch ohne wirkliche Internalisierung derer und unter anderem hierfür verantwortlich ist, kann man das Ergebnis des sozialpsychologischen Linien-Experiments von Solomon Asch (1956) benennen. In diesem Experiment sollte die Versuchsperson, welche mit anderen vom Versuchsleiter instruierten Personen – ohne aber das Wissen des Probanden hierüber – zusammen drei dargestellte Linien mit einer Schablonen-Linie vergleichen sollte, ihre Antwort als vorletzte Person in der Gruppe verkünden. Für die Experimentatoren überraschend beugten sich in mindestens einem Versuchsdurchgang 76 % der Versuchspersonen der konformen, evident falschen Meinung der Gruppe, was den enormen Druck beziehungsweise Einfluss der Gruppe auf das Individuum demonstriert.

Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen des normativen sozialen Einflusses bietet Bibb Latané mit seiner social-impact-Theorie (Latané, 1981), in welcher er drei bedeutsame Faktoren für konformes Verhalten ausmacht:

(1) Stärke, das heißt die Relevanz der Gruppe für den Einzelnen,

(2) Unmittelbarkeit im Sinne von Nähe der Gruppe, die als räumlich-zeitlich während des Beeinflussungsversuches zu verstehen ist, sowie

(3) Anzahl, das heißt die Anzahl der Mitglieder in der Gruppe.

Diese drei genannten Aspekte bestehen für jeden Einzelnen, weswegen die Relevanz des gesellschaftlichen Gedankens in Anbetracht der Freiheitsthematik nicht zu vernachlässigen ist.

Diese Prozesse werden, welche unter anderem Hartmut Rosa (2012) im Akzelerationszirkel aufgreift, näher darlegt. Dieser sich wechselseitig beeinflussende Zirkel besteht aus folgenden Komponenten, die kennzeichnend für unsere postmoderne Gesellschaft sind :

(1) technische Beschleunigung, die jegliche technische Fortschritte meint,

(2) Beschleunigung des sozialen Wandels im Sinne einer funktionalen Differenzierung, die durch die Wettbewerbsidee gefördert wird, und

(3) Beschleunigung des Lebenstempos, welche als Antwort auf die Endlichkeit menschlichen Lebens und dessen Kompensation in Form vom Erleben möglichst vieler Ereignisse innerhalb eines kurzen Zeitrahmens aufzufassen ist (Rosa 2012, S.243 ff.).

Einerseits wird durch diesen beschriebenen Prozess und den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen, welche die Relevanz sozialer Bande mehr nivellieren, eine fortschreitende Unabhängigkeit des Individuums beziehungsweise individuelle Freiheit angetrieben, was vermuten lassen könnte, dass das Individuum eigenständiger, ungebundener und damit freier von der Gruppe sein würde. Dies ist es auch im gewissen Sinne – nämlich physisch oder physikalisch betrachtet: dem Menschen erschließt sich nämlich die Welt unter anderem aufgrund technischer Errungenschaften mittels immer schneller und günstiger werdenden Kommunikations- und Transportmöglichkeiten.

Andererseits ist der Mensch, wie eingangs erwähnt, ein soziales, auf andere Menschen bezogenes Wesen, weswegen die Gruppe beziehungsweise die Gemeinschaft weiterhin durch den dargelegten Gesichtspunkt der Beschleunigung eine andere, dennoch wesentliche Kraft auf den Einzelnen ausübt. Diese Kräfte der Gruppe, welche eine Eigendynamik entwickeln, manifestieren sich im Individuum auf die verschiedensten Weisen, wie zum Beispiel dem informationalen sozialen Einfluss, der zu einer Anpassung des Eigenverhaltens aufgrund zum Beispiel von Unsicherheit führt und tatsächlich verinnerlicht wird, sowie dem bereits erwähnten normativen sozialen Einfluss, denen beiden das Individuum aufgrund seiner sozialen Ausrichtung mehr oder weniger exponiert ist.

Hinzukommt, dass bestimmte Aspekte, wie beispielsweise der Zeitdruck verschiedene kognitive Funktionen (negativ) beeinflussen, was unter anderem für die Entscheidungsfindung (zum Beispiel Maule,Hockey & Bdzola, 2000; Zakay &Wooler, 1984), aber auch für die Aufmerksamkeit, sowie für das Gedächtnis (als kleine Einführung in die Thematik des Einflusses von Stress auf kognitive Funktionen sei unter anderem auf Mendl, 1999 verwiesen) empirisch dargelegt werden konnte, und somit das Individuum generell als anfälliger – besonders aus dem durch die Beschleunigung resultierenden Zeitdruck der heutigen (westlichen) Gesellschaften – gegenüber bestimmten sozialen Konstellationen anzusehen ist.

Die mehreren oder keine Identitäten im aristokratisierten Individuen?

Desweiteren erfordert die hierdurch erfolgte partikularistische Lebenssituation die Übernahme unterschiedlicher Rollen beziehungsweise Augenblicks-Identitäten (Bauman, 1992), welche die ontologische Bodenlosigkeit der Postmoderne (Bauman, 1992) unterstreicht und durch den digitalen Fortschritt unterstützt wird, ja sogar in eine Selbstentfremdung beziehungsweise Selbstaufgabe des Einzelnen mündet. Symptomatisch hierfür kann das Multitasking, also das gleichzeitige Ausführen zweier oder mehrerer Handlungen, sowie das Unterbrechen einer Handlung, um eine weitere Aufgabe auszuführen, benannt werden, welches durch die Verwendung digitaler Medien, wie dem Smartphone, Tablet, und so weiter verstärkt wird.

Diese stete Beschäftigung und über einen längeren Zeitraum fehlende Aufmerksamkeitsfokussierung verstärkt durch das Gefühl nur bei stetem Tätigsein ein vollkommener, wertvoller, liebenswerter Mensch zu sein, erschwert erheblich ein Reflektieren, Abwägen oder eigenständigen Denken. Folglich verfällt die Möglichkeit eigene Gedanken, Überzeugungen, Überlegungen zu Einstellungen, Ansichten zu verfestigen, welche die notwendige Bedingung für ein gesundes, stabiles Selbst darstellen. Es entstehen konsequenterweise als Resultat der Anpassung an diese flexible Lebensumwelt labile, zerstückelte Selbste, oder wie Kenneth Gergen (2002) die in einer Person unterschiedlich vereinten Teil-Identitäten titulierte: eine Multiphrenie.

Immer mehr nehmen reflexhaft an diesem Spiel teil, wobei sie gleichzeitig zu Geknechteten ihrer eigenen Gerätschaften werden, sich ihrer selbstgelegten, selbstgewählten Fesseln nicht bewusst sind und sich dennoch weiterhin als autonome, frei-wählende, frei-entscheidende Individuen erleben und verstehen. Dank der digitalen Medien in Verbindung mit den grenzenlosen Möglichkeiten, mit der grenzenlosen Toleranz schwindet zusätzlich auch die Demarkationslinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Das private Selbst wird darüber hinaus nach seiner entstellten Zerstückelung veröffentlicht. Somit erdrückt sich die historisch mühsam errungene individuelle Freiheit des Individuums durch seine selbstgewählte Preisgabe privater Informationen, also mangels fehlender eigenständiger Grenzsetzungen, in eine freiwillige Einschränkung der individuellen Freiheit.

Hinzukommend sei die Besessenheit des Einzelnen mit der Verbesserung physischer, wie auch psychischer, also kognitiver und emotionaler Funktionen nicht nur seines Selbst, sondern auch jene seines Nachwuchses, welches sich bis zur Optimierung und Perfektionierung dieser erstreckt, anzuführen. Insofern erlischt die Selbst-Akzeptanz, Selbst-Liebe jedes Einzelnen auf der steten Suche nach dem perfekten Selbst.

Es bleibt folglich festzuhalten, dass der Einzelne sich durch sein freiwilliges ununterbrochenes Tätigsein und der Selbstperfektionierung selbstzerstückelt, weswegen er anfälliger, abhängiger von äußeren Umständen wird und infolgedessen eine Beschränkung seiner individuellen Freiheit erfährt.

Freiheit zur Unfreiheit als Freiheit

In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass sozialpsychologische Theorien und Untersuchungen somit eine erhöhte Aktualität und Präsenz erleben dürften, wie zum Beispiel Strategien zur Einstellungs- und Verhaltensänderung (unter anderem Petty & Cacioppo, 1986). Denn diese sozialpsychologischen Erkenntnisse in Verbindung mit der Beschleunigung vieler unterschiedlicher Prozesse in den postmodernen Gesellschaften führen – trotz des Potentiales der Entfaltung einer individuellen Lebensgeschichte des Einzelnen – aufgrund einer erhöhten Empfindlichkeit für soziale Gegebenheiten zu einer noch stärkeren Beeinflussbarkeit, Manipulation, Anpassung und letztendlich zu einer Einschneidung der Freiheit des Individuums. Dieses ist jedoch dieser sozialen und digitalen Kraft nicht hilflos ausgeliefert, da es sich unter anderem aufgrund seiner geistigen Fähigkeit von seinen Trieben, Instinkten loslösen kann und über die letzte Entscheidungsinstanz verfügt, ob es sich diesen sozialen Kräften unterordnen oder sich ihnen widersetzen möchte.

Diese Bedeutsamkeit des Psychischen und Geistigen beziehungsweise der eigenen mentalen Kraft des Menschen ist aus verschiedenen Bereichen bekannt und erfreut sich einer größeren Popularität in der neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschung. So konnte schon Neal Miller (1969) nachweisen, dass bereits Ratten die Fähigkeit besitzen, ihr autonomes Nervensystem zu modulieren, was sich beim Menschen mithilfe unterschiedlicher Techniken und Methoden in der willentlichen Beeinflussung verschiedener psychischer Prozesse ausdrückt, welche mittlerweile ihre empirische Evidenz im Phänomen der neuronalen Plastizität, also eine strukturelle und funktionelle Reorganisation des Gehirns, aufweisen kann. Diese Reorganisation kann durch mentales Training beziehungsweise Meditation (als guter Überblick Chiesa & Serretti 2010; Hölzel et al., 2011), sowie durch Lernen bei jungen und älteren Menschen (zum Beispiel Park & Bischof, 2013) nachgewiesen werden.

Diese Art der Selbstbeeinflussung beziehungsweise –regulierung, welche jedoch sehr zeitintensiv und disziplinfordernd an den Ausführenden ist, wird auch in der medizinisch, psychologischen Forschung zur Behandlung von physischen und psychischen Störungen mithilfe des Bio- beziehungsweise Neurofeedbacks (zum Beispiel Caria et al., 2010; Lutzenberger, Birbaumer & Steinmetz, 1976) praktisch und für den Patienten bildlich verständlich implementiert. Diese Verwendung des Bio- beziehungsweise Neurofeedbacks moduliert positiv physische Krankheiten, wie zum Beispiel Herzerkankungen, aber auch psychische Störungen, wie die Depression, Angststörungen und so weiter, welches Frank Masterpasqua und Kathryn Healey (2003) überblicksmäßig darlegen. Der Mensch verfügt insofern über eine wesentlich verfeinerte Fähigkeit beziehungsweise Freiheit auf höherer Ebene resultierend aus dem kulturellen Fortschritt und einer teilweisen Befreiung trieb- und instinkthafter Verhaltensweisen (Malinowski, 1975, S.80); er ist befähigt durch Wille und Übung wahrnehmbaren Einfluss auf sein Selbst auszuüben.

Trotz dieses Wissens um die Stärke des menschlichen Geistes wird die Methode des Bio- beziehungsweise Neurofeedbacks skeptisch beäugt und noch selten angewendet, was einerseits durch das Individuum und andererseits durch die Gesellschaft – welche beide hier in einem sich stets verstärkenden interdependentem Verhältnis zueinander stehen – gestützt wird. Das Individuum trägt durch seine Gemütlichkeit oder wie Immanuel Kant verschärft durch seine Faulheit (Kant 1784), und durch eine freiwillige Übergabe seiner individuellen Freiheit unter anderem eine kritiklose Akzeptanz hervorbringend dazu bei, dass die von ihm präferierten Aspekte der Einfachheit und Schnelligkeit zu Leitmotiven des Lebens werden. Diese gesellschaftlichen Gesichtspunkte – ausgerichtet unter anderem auf (individuelle) Leistung – verstärken und schwächen zugleich die eine und andere Seite der menschlichen Natura (vgl. Durkheims homo duplex) und resultieren somit in einer stärker ausgeprägten Vereinzelung der ungeselligen Geselligkeit (Kant 1784: 4. Satz) des Einzelnen, was zugleich eine Beeinträchtigung der Vergesellschaftung dieses bedeutet.

Nichtsdestotrotz bieten die gegenwärtigen Verhältnisse dem in westlichen Ländern lebendem Individuum ein bisher hohes Maß an Freiheit von physischen, materiellen Zwängen, welche eine Grundlage für die möglicherweise höchst zu erreichende menschliche Form der Freiheit darstellt. Hierzu gehört jedoch aufgrund der Beschaffenheit des Menschen zusätzlich die innere, geistige Kraft, welche aber augenscheinlich noch zu schwach und zu sehr von äußeren Dingen beeinflussbar ist. Wie das Bio- beziehungsweise Neurofeedback darlegt ist es jedoch dem Einzelnen durch Eigenanstrengung, Disziplin und Übung möglich diese zu aktivieren, infolgedessen ein Übergang von der Haltung des homo consumens (Terminus technicus von Erich Fromm) hin zu einer des homo contemplativus, der geistig aktiver ist, realisierbar ist, und dementsprechend eine erhöhte geistige Freiheit erlangt werden kann.

Möglicherweise benötigt der menschliche Geist phylogenetisch beziehungsweise stammesgeschichtlich hierfür mehr Zeit, wie auch auf ontogenetischer beziehungsweise individueller Entwicklungsebene die physische vor der psychischen Reife eintritt. Außerdem sei zu erwähnen, dass es eine absolute Freiheit nie geben kann, da der Mensch stets von physiologischen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen abhängig ist, welche nichtsdestotrotz heutzutage dem Einzelnen ein hohes Maß an Freiheit ermöglichen, sofern diese Freiheit verbunden mit Verantwortung denn gewollt ist – die Alternative: selbstgewählte verantwortungsfreie Unfreiheit.

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