Gerichte verurteilen nicht selten auf einer dürftigen und damit auch fragwürdigen Erkenntnisgrundlage wenn sich lediglich zwei kontradiktorische Aussagen gegenüberstehen.
Seit der Verschärfung des Sexualstrafrechts Ende 2016 hat sich die Anzahl der angeklagten Sexualdelikte nicht zuletzt im Zuge der stetig an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnenden „Sexismusdebatte“ merklich erhöht – doch das wesentliche Problem der Sexualstrafverfahren ist geblieben: In dem Großteil der angezeigten Fälle steht Aussage gegen Aussage. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es beim Sex selten Zeugen gibt – Und selbst wenn Sachspuren wie Sperma, Epithelzellen vom Penis, benutzte Kondome oder sonstiges gesichert werden, beweist dies allein zumindest unter erwachsenen Beteiligten noch keine Straftat, wenn seitens des Beschuldigten einvernehmlicher Sex geschildert wird.
Unglücklicherweise besteht vielfach selbst unter nicht im Strafrecht tätigen Juristen die Meinung, dass wenn vor Gericht Aussage gegen Aussage steht, der Angeklagte freigesprochen werden müsse – Schließlich sei dann eine Patt-Situation gegeben und nicht zweifelsfrei feststellbar, wem man nun glauben soll: Dem mutmaßlichen Opfer oder dem angeblichen Täter.
Und tatsächlich ist es andernorts, beispielsweise in den USA, genau so. Selbst eher altmodische Rechtsquellen wie die Bibel verlangten schon für Verurteilungen mindestens zwei Zeugen (Deut. 19,15). Anders aber das deutsche Recht: Es erlaubt Richtern trotz Patt-Situation einem einzigen Zeugen zu glauben – auch wenn der sich selbst zum Opfer erklärt und der Angeschuldigte widerspricht. Der Fachbegriff dafür lautet „freie Beweiswürdigung“.
Was also tun, wenn Aussage gegen Aussage steht?
Folgende Erkenntnis ist zunächst ausschlaggebend: Juristen haben von Aussagepsychologie, also Aussageentstehung, Aussagefähigkeit und Glaubhaftigkeit einer Aussage, gelinde gesprochen, keinerlei fundierte Ahnung. Weder im Studium, noch in der praktischen Ausbildung erhalten angehende Richter, Staatsanwälte oder Strafverteidiger Unterricht oder Schulungen hierzu. Daraus folgt: Wird das breite Spektrum der forensischen Psychologie in einem Strafverfahren erst gar nicht thematisiert, ist es allein das richterliche Bauchgefühl, das ein Urteil fällt.
Umgekehrt ist die Chance auf eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch einen Fachmann – sprich einem auf Aussagepsychologie spezialisierten Forensiker – verschwindend gering. Denn nach deutschem Strafprozess-Recht, darf der Richter einen entsprechenden Antrag auf Einholung eines Sachverständigen zur Überprüfung einer Aussage mit der Begründung ablehnen, dass das Gericht selbst die hierzu erforderliche Sachkunde besitze, was wiederum der Richter auch noch selbst prüft und entscheidet. Insoweit nicht überraschend kommt es daher auch nur in etwa 16% aller Verfahren, in denen Aussage gegen Aussage steht, dazu, dass ein auf Aussagepsychologie spezialisierter Wissenschaftler vom Gericht konsultiert wird um den Wahrheitsgehalt einer Aussage ergänzend zu überprüfen.
Abgesehen von einem Lügendetektortest – der allerdings (noch) nicht vor Strafgerichten zur Grundlage einer Beweiswürdigung zugelassen ist, bleiben einem Angeklagten also bis dato nicht sonderlich viele Verteidigungs-Möglichkeiten, wenn seine Aussage gegen die des mutmaßlichen Opfers steht.
Richter, aber auch Staatsanwälte sind letztlich Laien auf dem Gebiet der forensischen Psychologie. Sachbeweise wie etwa eine DNA-Spur, Fingerabdrücke oder Videoaufnahmen sind deutlich griffiger als irgendwelche aussagepsychologische Theorien und Hypothesen. Insoweit macht es durchaus Sinn, vermeintlich rechtsfremde Materien – wie etwa die Aussagepsychologie – ebenso anschaulich und nachvollziehbar zu präsentieren, wie es ein Pauspapier eines Fingerabdrucks des Angeklagten tut, welches man über den aufgefundenen Abdruck vom Tatort legt.
Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Aussage von Opferzeugen präsentieren der Autor und dessen Kanzleikollegen unlängst dem Gericht in einem inhaltlich sehr komplexen Verfahren farblich kodierte Text-Tabellen, in denen die verschiedenen Aussageinhalte anhand aussagepsychologischer Kriterien einander gegenübergestellt wurden. Die tabellarisch und farblich dargestellten Aussageinhalte sollten dem Gericht auf einem Blick sachlich aber auch auf sehr einfache und nachvollziehbare Weise (ähnlich demBeispiel mit dem Fingerabdruck) aufzeigen, warum der angeklagte Sachverhalt womöglich anders oder gar nicht stattgefunden hat.
Bei der Verwendung dieses Diagramms mit mehreren Aussagen, welche das vermeintliche Opfer bei der Polizei, vor Gericht oder bei Freunden und Familie gemacht hat, erreichten wir eine bis dato ungeahnte Aufmerksamkeit des Gerichts, weil sich die Aussageinhalte farblich markiert inhaltlich unterscheiden, andere Chronologien oder gar Lücken aufweisen, mal mehr, mal weniger schlüssig erscheinen oder gar gänzlich widersprüchlich und nur wenige Aussageteile übereinstimmend sind – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen.
Dabei ist dies nichts anderes als die Grundsystematik der forensischen Aussagepsychologie, die aber nur von 16 % aller Richter wiederum berücksichtigt wird (s.o.). Dabei ist es doch angesichts von Strafen von bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug im Falle von Sexualstraftaten eigentlich nicht zu viel verlangt eine fundierte Prüfung möglicher Fehlerquellen bei der Aussageentstehung vorzunehmen bzw von einem Fachmann vornehmen zu lassen, um – bezogen auf die Geburtsstunde der Aussage – danach zu differenzieren, ob es sich um eine konkrete und detaillierte Sachverhaltsdarstellung unter Ausschluss von Mängeln in Aussagekompetenz oder Aussagequalität handelt.
- Ist ein Opfer-Zeuge in therapeutischer Behandlung?
- Wie wurde die Befragung seitens der Polizei durchgeführt?
- Gab es schon im Vorfeld der angezeigten Tat eine Historie mit sexuellem Missbrauch? Wurde zum vermeintlichen Tatzeitpunkt Alkohol konsumiert?
- Gibt es Hinweise auf Betäubungsmittelmissbrauch?
Bereits die Bejahung oder Nichtausschließbarkeit solcher (nur beispielhaft aufgezählter) Fragen führen zur fehlenden Grundlage einer sachgerechten richterlichen Überzeugungsbildung. Dabei ist das noch keinesfalls das Ende der aussagepsychologischen Analyse: Bezugnehmend auf die Überprüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage führen
- Widersprüche,
- Auslassungen oder Fehler in der chronologischen Schilderung,
- Inkonsistenzen,
- das Fehlen von Schilderungen zum Kerngeschehen,
- verdächtige Strukturiertheit sowie
- wenige Interaktionsschilderungen und
- Komplikationen im Handlungsablauf,
- ein mangelnder Detaillierungsgrad und
- wenig Anschaulichkeit,
- auffallende Kongruenz oder
- Strukturgleichheit – neben vielen weiteren Kriterien –
zu einer wissenschaftlich indizierten Möglichkeit, der richterlichen Überzeugungsbildung die Grundlage zu entziehen. Schließlich geht die Aussagepsychologie – einfach gesprochen - davon aus, dass eigene Erlebnisse stärker, prägnanter und stabiler im Gedächtnis verankert sind, als lediglich ausgedachte Geschichten.
Stellt man aber all jene aussagepsychologischen Aspekte nicht dezidiert heraus, verbleibt es bei der auf reiner Küchenpsychologie beruhenden freien Beweiswürdigung der Richter. Wie oben gezeigt, erlaubt schon die Komplexität der Materie meist keine richterliche Fachkenntnis in Sachen Aussagepsychologie, weshalb ein erfolgreicher Verfahrensausgang, bei der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ ausschließlich mit dem Vorbringen des Anwaltes / Strafverteidigers steht und fällt – erst Recht, wenn Sie – wie bei Sexualdelikte üblich – vor Schöffengerichten und Landgerichten verhandeln in denen Laienrichter das selbe Stimmgewicht wie die Berufsrichter jedoch noch weniger Ahnung von der Materie der Beweiswürdigung von kontradiktorischen Aussagen! Voraussetzung für jede Beratung und Entscheidung einer Kammer oder eines Senats ist nunmal, dass alle zur Entscheidung berufenen Mitglieder des Spruchkörpers – und nicht etwa nur der Berichterstatter und der Vorsitzende – Kenntnis des Streitstoffs haben.