Morpheus getarnt als Siri, Phobeter als Cortana und Phantastos als Alexa? Alan Turing als neuer Zeus?
Das menschliche Subjekt sieht sich stets existentiell-bedrohlich empfundenen Krisen gegenüber, die es zu bewältigen gilt. Drei solcher Entzauberungen oder wie Freud sie nannte, narzisstische Kränkungen, beginnend mit Kopernikus Beweis des Primats des geo- über das heliozentrische Weltbild (kosmologische Kränkung), sich erstreckend über Darwin, der mit seiner Evolutionsbiologie endgültig den Menschen von seinem Thron der „Krone der Schöpfung“ stieß (biologische Kränkung) bis zur Konstatierung Sigmund Freuds, dass der Mensch Sklave seines Unbewussten, seiner Triebe sei (psychologische Kränkung), hat das menschliche Subjekt anscheinend hinter sich gelassen.
Doch hat es wirklich diese Kränkungen überwinden können? Verfolgen sie das Subjekt nicht vielmehr im sich wandelnden, epigenetischen Gewand des menschlichen Traumas, immer wiederkehrend in Gestalt von Morpheus, Phobeter oder Phantastos? Morpheus getarnt als Siri, Phobeter als Cortana und Phantastos als Alexa? Die digitalen Götter des postmodernen Schlafes, die uns jedes Schlafes berauben. Nicht Zeus heißt ihr Göttervater, sondern Alan Turing?
Sich in diesem kränkendem Bewältigungsrausch befindend nehmen die Bewältigungsweisen des angeschlagenen Subjekts unterschiedliche Formen an. Im Rahmen der individuellen Emanzipation sich von der Horde im paläolitischen Zeitalter über die Sippengemeinschaft im Feudalismus bis hin zum erstarkenden Individualismus – dank der französischen Sansculottes-Kombattanten mit ihrem Leitspruch „Liberté, Égalité, Fraternité“ – erstreckend, versteht sich das Subjekt mehr und mehr in seinem tiefsten, inneren Wesen verloren.
Eine Krisis des Subjekts sich nicht nur nach Zygmunt Bauman in einer „metaphysischen Obdachlosigkeit“, sondern sich auch in einer „immanenten Obdachlosigkeit“ manifestierend, da laut Edmund Husserl „Transzendenz […] ein immanentes, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter [ist]. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität“ kulminiert somit notwendigerweise in eine existentielle Krisis des Subjekts.
Zwei archaisch-überlebenssichernde Strategien bleiben dem limbisch-gefangenen Subjekt offen: „Fight or flight“. Für welche sich der deutsch-protestantische Bürokrat, der Kombattant der Schreibtischbrigade entscheidet, ist nach Gottfried Benn selbstredend: „Die deutsche Form der Revolution ist die Denunziation“. Ein Eskapismus als egozentrische Eskapade als subjektimmanenter Abwehrmechanismus.
Das Subjekt präferiert einen Lifestyle nihilistisch-egozentrisch in der zum Hotelzimmer umfunktionierten Zelle des eigenen Denknetzes eingebettet, materiell-räumlich aneinandergeklebt mit anderen zwangsvergemeinschafteten Fremden, intelligibel-transzendent jedoch wie Parallelen ohne jeglichen Überschneidungspunkt. Ein stark vernetztes Beziehungsgeflecht, physisch, aber nicht psychisch. Unfähig den Anderen in seiner Ganzheit zu begreifen.
Die babylonische Sprachverwirrung erlebt in modern-hipper Manier ihr phantasmagorisches Revival. Nicht im Gewand der Sprachenvielfalt, sondern im Gewand der individualisierten Subjektvielfalt. Überall tummeln sich bewusstseinsfähige zur gelingenden Verständigung unfähige und in sich selbst eingekerkerte Subjekte. Es ist eine Potenzierung von Wittgensteins Sentenz: „Die Grenzen meines Bewusstseins sind die Grenzen meiner Welt“.
In dieser Bewusstseinsimmanenz gefangen ist das Subjekt nicht im Stande die Welt des Anderen zu ergreifen, gar zu erhaschen. Der eigene Standpunkt wird als verobjektiviert und somit absoluter verstanden, dem kein Anderes gegenübersteht. Weder Subjekt noch Objekt noch Nicht-Ich. Ich bin ich, bin ich, bin ich. Ein circulus vitiosus par excellence, der Superlativ des fleischgewordenen Mythos von Sisyphos. Statt den Felsen auf den Berg zu tragen, trägt das Subjekt seine durch Egozentrizität bedingende Sinnlosigkeit auf seinen Schultern. Sobald es sich in diesem Strudel gefunden hat, wird es nur noch tiefer in die Wogen der eigenen Überheblichkeit reingezogen.
Aber dadurch exemplifiziert das Subjekt des kynisch-modernen Digitalnomaden seine materielle Autonomie und seine geistige Überlegenheit. Verzicht ist sein Dernier Cri. Seine neue Kampfparole nicht „Liberté, Fraternité und Égalité“, sondern „Detox, Bonding und Sharing“. Angesagte Enthaltsamkeit, die auch auf Empathie (empathic detox), Mitgefühl (sentimental detox) und andere menschliche Gefühle, nicht zeitweilig, sondern dauernd übertragen wird.
„Ich bin ein Weltbürger“, konstatierte Diogenes von Sinope. Gleiches gilt auch für das in jeglicher Richtung „gedetoxte“ Subjekt, den neuen Kosmopoliten am Himmel der Unentschlossenen, der wie sich selbst auch die Freiheit als Absolut auffasst. Die objektive Ordnung von Sinn, Sein und Wert ist notwendige Voraussetzung für Freiheit. Sie gibt ihr den Rahmen, den Halt, in welchem das Subjekt durch spontane und selbstursprüngliche Teilhabe erst frei werden kann.
Das „sharende“ Subjekt übersieht, dass Festlegung keinen Verlust an Freiheit, sondern einen Gewinn bedeutet. Es gibt seine Autonomie ab, nimmt einen Kontrollverlust in Kauf, gewinnt jedoch erst hierdurch Verantwortung – für sich selbst und auch für andere. Doch diese neue digital-hippe, verantwortungslose Bedürfnislosigkeit à la „Ich besitze nichts, damit ich nicht besessen werde“ (Spruch der Kyniker) – auch das Subjekt selbst betreffend – verschärft den egozentrischen Sog, welcher als Freiheit begriffen wird. Ohne den Anderen, das Nicht-Subjekt kann sich das Subjekt nicht konstituieren, kann es nicht konstituierendes und wirkliches Subjekt werden.
Dieser Erkenntnisfähigkeit beraubt, wendet sich das Subjekt als digitaler Wandervogel der ihm mit unendlich vielen Möglichkeiten offen stehenden Welt zu. Die Reise ins eigene Ich, das letzte Level im analogen Egoshooter, der Shoot seines Lebens. Wohl wissend nicht alleine auf diese Mission gehen zu können, sucht sich das Subjekt seinen Kombattanten. Nicht in Form seines komplementären Gegenpols, das ihm ergänzend, konfliktreich gegenübersteht, sondern in Form seines ihn selbstbejahenden und selbstbekräftigenden Spiegelbildes. Richtigerweise müsste es nicht mehr die romantische Liebe, sondern die romantische Selbstliebe heißen. Die Geburtsstunde des sich selbst erhebenden Narziss 2.0, der Echo in seinem selbstverliebten Stimmengewirr nicht erhaschen kann.
Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sprach Jean Piaget von einem „intellektuellen Egozentrismus“, welcher „die gesamte vorkritische, als vorobjektive Haltung der Erkenntnis, gleich ob es sich um ein Erkennen der Natur, ein Erkennen der anderen oder des eigenen Ich handelt“ meint. Das Subjekt versucht sein Ich in das soziale Umfeld einzufügen und auch das Umfeld an sein Ich anzupassen. Und wiewohl das erwachsene Subjekt durchaus im Stande einer Relativierung ist, begnügt es sich mit seiner Möglichkeit der approximativen Absolutheit. Sein ultimativer Immanenzkick, sein Opium für die Subjektivierung alles Objektiven, sein persönlicher Olymp auf Erden.
Dass kein Platz für aberratisch-pertubierende Subjekte neben dieser neuen autistischen Lifestyledroge ist, dass kein Platz für den Anderen, dass kein Platz für das Subjekt in Potentia ist, stört das Subjekt nicht. Es unterhält tausende Freundschaften (?) über soziale Medien im Rausche seiner ekstatischen Selbsterhöhung mit intermittierenden Höhepunkten zwischen Arbeit, selbstoptimierenden Freizeitaktivitäten und dem obligatorisch – da gesellschaftlich gern gesehen – als subjektfeindlich markierten Terrain: der Familie.
Ist die Errichtung eines Ministeriums für Einsamkeit – wie es jüngst in Großbritannien der Fall war – die Lösung gegen die von Einsamkeit Gefährdeten über 60 Jahren? Staatlich organisierte Besuchertrupps, die für einige Zeit – nicht wirklich den Anderen begegnend – versuchen die vertrockneten Glutkohlereste der heiligen Welt zu entbrennen? Für den Helfenden nichts mehr als ein kurzer Spaßvertreib, ein kurzzeitig das ganze Subjekt berauschendes Serotoninfeuerwerk? Ein kurzes Gefühl der übersubjektiven Ekstatse? Die Welt wird nicht „zerdacht“, wie Gottfried Benn behauptete, sondern „ge-egoshootet“.
Wenn das heitere Subjekt selbstberauscht vor sich „detoxt“, also fröhlich und leicht lebt, und der Staat „Detox“ im Sinne von Staatshygiene betreibt, stellt sich die Frage, wann endlich das Ministerium für Schönheit oder für Eheschließung folgen. Ehen, staatlich arrangiert aufgrund gentechnisch-algorithmischer Ergebnisse? Oder doch eher an Platons Vorstellung anlehnend, vom Staat und Google zugeteilte, unüberschaubar hinsichtlich von Mutter- und Vaterschaft, gelebt-subjektfeindliche, aber pseudosubjektoptimierte und kretinfreundliche Kommunen?
Eine Anstalt für geistig-infantile Egozentriker, die als Infantillerie die westlichen Kulturen mit durchaus ameliorisierender Wirkung auf Gemüt, Gesinnung und Geplauder vereinnahmt. Die Verantwortlichkeit obliegt nicht ihren Mitgliedern, sondern Vater Staat oder irgendwelchen Kommunen, in welchem das in sich selbstgefangene Subjekt nicht frei sein kann.
Freiheit stellt ein Fakultativum dar, für das sich das Subjektiv entscheiden kann, aber eben nicht muss, und welches nolens volens auch mit Leid verbunden ist. Aber macht nicht gerade die aus der Freiheit entstehende Passion das Subjekt empfänglicher für die Welt, für den Anderen und für sich? Kommt es nicht auf die Annahme der Haltung eines homo patiens (Viktor Frankl) an, der seine Verwirklichung in den Einstellungswerten sieht?
Wie sagten schon die Woiwoden, die polnischen Staatsdiener: „Ich ziehe eine gefährdete Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor.“ Möglich ist dieses jedoch nur im Ablegen der Haut Couture des oberflächlich-attraktiven Egozentrismus und in dem Revival einer neuen – frei von „Detox“ und Egoshootern – echten, sinnstiftenden, aber auch reibenden und subjektkränkenden Kollektion à la Martin Bubers „Ich-Du-Beziehung“.