Linker Rassismus

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Es gibt tatsächlich keinen „umgekehrten Rassismus“. Was als umgekehrter Rassismus erscheint, ist schlicht eine Spielart des Rassismus. Auch die Rede davon, dass es keinen Rassismus gegen privilegierte Gruppen gegen könne, wiederholt eben die rassistischen Strukturen, die zu beschreiben sie vorgibt: sogar Strukturen eines traditionellen weißen Rassismus. Die Diskussion um Sarah Jeong und die New York Times ist dafür ein deutliches Beispiel.

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Nein, das ist kein Rassismus

Würde es eine Umfrage geben, welche Tageszeitung weltweit die wichtigste und beste ist, wäre die New York Times Favorit. Besonders ihre Kolumnisten prägen das Bild der Zeitung: Paul Krugman beispielsweise erhielt 2008 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, Thomas Friedman war selbst im fernen Deutschland verbindliches Abiturthema. Schon längst ist die Zeitung hier auch in die Literaturgeschichte eingegangen: Uwe Johnson strukturiert sein gigantisches Hauptwerk „Jahrestage“ an der täglichen New York Times-Lektüre seiner Protagonistin Gesine Cresspahl.

Gerade ist die Vorzeigeinstitution des weltweiten Journalismus selbst, wieder einmal, zum Nachrichtenthema geworden. Die Zeitung berief die Journalistin Sarah Jeong – geboren in Südkorea, als Dreijährige mit der Familie in die USA immigriert, hat sie studiert in Berkeley und Harvard – als Kolumnistin in ihr Editorial Board.Unglücklicherweise war Jeong nicht nur bei Forbes, dem Guardian, Vice und der New York Times tätig, sondern auch auf Twitter. 

Dort hat sie über viele Jahre hinweg Tweets veröffentlicht, die verachtungsvoll, gewaltvoll und höhnisch gegen „white people“gerichtet sind. Der Journalist Nick Munroe hat sie gesammelt  – und schon die schiere, unüberschaubare Menge erweckt den Eindruck einer Obsession mit krankhaften Zügen. Ich wollte eine kleine Auswahl hier übersetzen, aber obwohl ich schon stark selektiert hatte, sammelten sich so viele Beispiele an, dass sie etwa ein Drittel des gesamten Textes hier eingenommen hätten. Deshalb habe ich sie im Eingang zum Artikel in einem Bild zusammengefasst.

Nein, das ist kein Rassismus, sondern einfach Sarah Jeongs bunte Welt.

Schon die beunruhigende Menge der Tweets macht die Entschuldigung der New York Times unglaubwürdig, Jeong habe sich lediglich gegen Belästigungen im Netz gewehrt, denen sie als junge asiatische Frau ausgesetzt sei. Das feministische MagazinJezebel empört sich gleichwohl rollengerecht darüber, dass die New York Times, überhaupt eine Erklärung für nötig hielt, behauptet ebenfalls, dass Jeong sich lediglich gegen rassistische Trolle gewehrt hätte, und übersieht dabei praktischerweise deren Aggressionen gegen weiße Linke und weiße Feministinnen, die ohnehin nicht recht ins Bild gepasst hätten.

Was aber ist Rassismus eigentlich? Die europäische Kommission definiert Rassismus, ähnlich wie die UNO, als

„die Überzeugung, dass ein Beweggrund wie Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder nationale oder ethnische Herkunft die Missachtung einer Person oder Personengruppe oder das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Person oder Personengruppe rechtfertigt“.

In ihrer Obsessivität, ihrer unverhohlenen, nach rassischen und biologistischen Kriterien verteilten Verachtung, ihrer Unterordnung von Individuen unter Gruppen, ihrer demonstrativen Empathielosigkeit und ihrem ausdrücklichen Vernichtungswunsch liefert Jeong also ein Lehrbuchbeispiel für Rassismus. Wie aber ist es möglich, dass Menschen dieses Beispiel sehen und behaupten können, was sie schreibe, habe nichts mit Rassismus zu tun, sondern sei lediglich eine Reaktion oder eine Parodie auf den Rassismus anderer?

Jammernde zerbrechliche alte weiße Männer

Der Journalist Till Raether erklärt im Beitrag Hört auf zu jammern, alte weiße Männer für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, dass eine Rassismus-Definition wie der EU-Kommission oder der UNO „völlig überholt“ und „schädlich“ sei, und hält dagegen, wie „die Soziologie Rassismus definiert“.

Die Soziologie“ ist bei Raether die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo, die ein Buch über White Fragility/Weiße Zerbrechlichkeitgeschrieben hat, über das sie auch gerade in einem ZEIT-Interview spricht. Tatsächlich sei Rassismus, so die Soziologie bzw. Robin DiAngelo bzw. Till Raether, ein „strukturelles System, in dem weiße Menschen ‚soziale und institutionelle Macht über people of color’ haben.“

Nun ist unglücklicherweise schon die Rede von „People of Color“bzw. PoC seltsam auf Weiße fixiert, weil sie – wie ein User bei Twitter in einem einzigen Tweet erklären kann  – völlig unterschiedliche Menschen und Kulturen unter einem einzigen Begriff zusammenwirft: Diese Menschen haben nichts weiter gemein als die Tatsache, dass sie nicht weiß sind.

Diese universelle Fixierung aller auf Weiße bedingt wohl auch, dass die WoC (Woman of Color) Sarah Jeong von ihren Verteidigern als irgendwie marginalisiert und diskriminiert wahrgenommen wird, obwohl sie als Asian American zur Gruppe mit dem größten Durchschnittseinkommen in den USA gehört, und obwohl sie an mehreren Eliteuniversitäten studieren konnte.

Noch gravierender aber ist, dass für Raether

„der immer wieder aufgewärmte Vorwurf unsinnig (ist), als Weißer verbal angegriffen zu werden sei Rassismus. Mag sein, dass das ein feindseliger Akt ist. Aber Feindseligkeit ist kein Rassismus. In einer Welt, in der Weiße seit Jahrhunderten die Macht haben und die Spielregeln bestimmen, kann es per Definition keinen ‚umgekehrten Rassismus’ geben.“

Vorurteile, Klischees oder Vernichtungswünsche könnten also immer erst dann rassistisch sein, wenn sie aus einer Position der Macht geäußert werden. Der Nutzen dieses Arguments ist, dass ein Blick auf die empirische Wirklichkeit, auf soziale Realitäten oder einfach auf das, was jemand sagt, gar nicht mehr nötig ist: Per definitionem ist ausgeschlossen, dass es rassistisch sein kann, wenn jemand gegen Menschen agitiert, die irgendwie privilegiert seien.

Dieser Versuch, soziale Realitäten über die Wahl der geeigneten Definition endgültig zu klären, wirkt deshalb nicht ganz absurd, weil einige Aspekte davon ja ganz einleuchtend sind. Natürlich ist es ein erheblicher Unterschied, ob gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus einer Position der Stärke gegen Schwächere, von einer Mehrheit gegen eine Minderheit in Stellung gebracht wird – oder umgekehrt.

Allerdings könnte ja gleichwohl beides entsprechend der Definitionen aus UNO und Europäischer Kommission als Rassismusbezeichnet werden, der eben unterschiedlich gravierende Konsequenzen hat. Warum kommt Raether nicht auf diese naheliegende Idee?

Wer per Definition festlegt, dass es einen Rassismus gegen bestimmte Gruppen gar nicht geben könnte, schafft klare Fronten in einer schwarz-weißen Welt. Auf der einen Seite stehen dann die Rassisten, auf der anderen die, die sich gegen Rassismus wehren. Dass sich Raethers und DiAngelos Definition in „der Soziologie“  niemals durchgesetzt hat, liegt aber wohl nicht allein an dieser allzu offensichtlichen und bequemen politischen Nutzbarkeit, sondern an ihrem fehlenden Nutzen für die Analyse von modernen Massengesellschaften.

Wozu braucht man eigentlich Individuen?

Es gehört nämlich grundsätzlich zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die Gruppen, gegen die sich die Feindseligkeit richtet, als privilegiert und mächtig zu fantasieren. Aus der Sicht der Rassisten richtet sich ihre Wut immer, irgendwie, gegen die Mächtigen. Eben das ist wohl ein wesentlicher Grund dafür, warum auch Gruppen, die sich als links verstehen, noch immer ohne erkennbare kognitive Dissonanzen einen Hass auf Juden pflegen können.

In Bremen und Bonn beispielsweise wanderten Akteure der israelfeindlichen BDS-Bewegung in weißen Kitteln als „Inspekteure“durch Kaufhäuser, um Waren aus Israel aufzuspüren, als würden sie eine Ungeziefer-Inspektion durchführen. Die kaum verhohlene Anknüpfung an Klischees des nationalsozialistischen Judenhasses – vom „Kauft nicht beim Juden“-Slogan bis zur Gleichsetzung von Juden mit Ungeziefer – wird hier auch durch die Fantasie jüdischer Macht möglich. Es träfe ja die Richtigen, die Unterdrücker des palästinensischen Volkes.

Angesichts der Ausblendung der komplexen, ambivalenten politischen und sozialen Realität des Nahost-Konflikts zugunsten einer einfachen Macht-Ohnmacht-Zuordnung fragt nun die große israelische Tageszeitung Haaretz, ob die „neue Definition des Rassismus“ der „Progessiven“ nicht für Juden besonders gefährlich sei.  Mit direktem Bezug auf Jeong setzt sich der Artikel damit auseinander, dass Juden im judenfeindlichen Klischee ja nicht nur als Weiße, sondern traditionell auch als institutionell privilegiert und mächtig angesehen werden.

Die Gleichung Rassismus=Vorurteil+Macht hat also möglicherweise erhebliche Konsequenzen, die von ihren Vertretern überhaupt nicht übersehen oder, schlimmer noch, nicht ernst genommen werden.

Es ist nun einmal in einer modernen Massengesellschaft kaum möglich, anhand bestimmter, zu allem Überfluss auch noch biologistisch definierter Gruppen – Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung – allgemeingültig Macht und Ohmacht zuzuordnen. Ein Beispiel aus Deutschland: Die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah wurde in Kiel als Kind einer Familie aus dem Iran geboren.  „Almans“, also weiße Deutsche, beschreibt sie in der Sprache der identitären Linken rituell als „Kröten“ oder als „Kartoffeln“. Natürlich rechtfertigt sich diese Verachtung dadurch, dass sie sich gegen Mächtige richte.

Das wird für taz-Leser aus einem bürgerlich-akademischen Hintergrund leicht zu verschmerzen sein. Wo aber ist denn das Privileg eines weißen Kindes, das in ganz anderen Verhältnissen aufwächst, nämlich zum Beispiel in Stadtvierteln, wo es eine „weiße“ Mehrheitsgesellschaft nicht oder kaum noch gibt? Was hätte ein solches Kind davon, dass ein Gericht die Rede von einer „Köterrasse“ nicht als Volksverhetzung einstuft, weil damit ja nicht lediglich ein Teil der Bevölkerung getroffen worden sei? Wer aus der Perspektive Raethers oder der taz-Redaktion von weißen Privilegien redet, beschränkt sich in seiner Wahrnehmung ganz auf seinen eigenen Kontext.

Es ist aber für eine moderne Massengesellschaft typisch, dass einzelne Menschen sich in ganz unterschiedlichen Kontexten bewähren und selbst scharfe Widersprüche zwischen ihnen moderieren müssen. Eine Frau beispielsweise kann erleben, dass sie im familiären Kontext erhebliche rechtliche Vorteile gegenüber dem Mann hat, dass ihr eben diese Vorteile aber im Kontext des Arbeitsmarktes zur Belastung werden.

Moderne Menschen sind niemals nur Mitglieder bestimmter Gruppen, sondern müssen sich als Individuen durch unterschiedliche Kontexte navigieren. Wir sollten nicht vergessen, dass die Gesellschaft auch eine Zusammenkunft von Individuen sei, schreibt Iona Italia ganz in diesem Sinn zur Jeong-Diskussion.

White Supremacy, auf links gewendet

Zudem sind moderne Gesellschaften in hohem Maße dynamisch – wer heute gesellschaftliche Macht hat, kann morgen schon hilflos sein, wie etwa die Buren Südafrikas.

Die Vorstellung, ganze Gruppen von Menschen säuberlich in Privilegierte und Marginalisierte einteilen zu können, wird also einer modernen Massengesellschaft nicht gerecht, sondern orientiert sich insgeheim an der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Dort waren Herrschaftsbeziehungen zwischen den Ständen tatsächlich über Jahrhundert hinweg einigermaßen stabil, und dort hatte sich eine höfische Oberschicht so weit auf sich selbst bezogen isoliert, dass sie gar nicht mehr erleben musste, wie sehr ihre Position von der Zuarbeit aller anderen abhing.

Es ist kennzeichnend für die Selbstisolation eines sich irgendwie als links verstehenden politisch-medialen Establishments, dass es heute zentrale politische Positionen an solchen höfischen Strukturen ausrichtet, den Blick für die sozialen Realitäten moderner Gesellschaften aber verliert. Raether erwähnt seine eigenen Privilegien sogar – er kann sich nur nicht vorstellen, dass sie seine politische Position beeinflussen.

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Wer aber von einer solchen, tatsächlichen Machtposition aus dekretiert, dass ein Rassismus gegen Weiße nicht möglich sei, bewegt sich damit tatsächlich in Traditionen eines rassistischen White Supremacy-Denkens. Für ihn sind Weiße so überlegen, dass es ihm unvorstellbar ist, jemand könne Weiße tatsächlich als eine minderwertige Rasse wahrnehmen – was Jeong unzweifelhaft tut. Die Frage, welche Privilegien denn eigentlich ein weißes Opfer der Opioid-Krise gegenüber einer Frau wie Jeong haben könnte, stellt sich ihm gar nicht – er fantasiert sich Weiße ohne Seitenblick auf soziale Realitäten als überlegen.

Der Spott über eine white fragility – oder auch der über eine male fragility – erfüllt dieselbe Funktion. Weiße Männer erscheinen darin insgeheim als unverletzliche Übermenschen, die schlimmstenfalls auf hohem Niveau klagen, aber per definitionem keine ernsthaften Probleme haben oder gar Nachteile erleben können. Feministische Klischees von der „Männermacht“ im „Patriarchat“ können also, paradoxerweise, gerade solche Männer ansprechen, die ein starkes Bedürfnis haben, sich selbst als mächtig und unverletzbar wahrzunehmen.

Jedenfalls ist der Begriff des umgekehrten Rassismus oder auch des umgekehrten Sexismus tatsächlich nicht haltbar – nicht aber wegen der Substantive, sondern wegen des Adjektivs „umgekehrt“. Was Raether verteidigt, ist ganz normaler Rassismus, kein umgekehrter Rassismus – und es ist nicht nur ein Rassismus gegen Weiße, sondern auch ein Rassismus, der an White-Supremacy-Traditionen anknüpft und sie auf links wendet.

Was Jeong schrieb, und was ihre Unterstützer verteidigen, ist ebenso simple Fortsetzung und Variation eines traditionellen Rassismus oder Sexismus, aufbauend auf traditionelle Klischees weißer, männlicher Macht, die dabei fortlaufend reproduziert werden.

Welchen Sinn aber hat das?

Auf Twitter schrieb mir vor einer Weile jemand etwas, was ich zunächst für eine Satire gehalten habe. Ich solle doch nicht denken, mit dem Begriff „weiße Männer“ seien tatsächlich weiße Männer gemeint, tatsächlich ginge es um Strukturen.

Wenn aber jemand wirklich Strukturen analysieren möchte, ist es offensichtlich eine der schlechtesten möglichen Ideen, diese Strukturen ausgerechnet biologistisch zu betiteln. Diese Redeweise hat eine ganz andere Funktion als die der Analyse:  Die identitärepostmoderne Linke erspart es sich, soziale Strukturen zu analysieren, indem sie biologistische Kategorien kurzerhand zu Strukturen erklärt.

Das Remake des Klassikers Papillon, schreibt Till Kadritzke gerade in einer Film-Kritik für den Spiegel, „liefert neue Bilder für das alte Bedürfnis, dass sich auch weiße Männer als Opfer von Unterdrückung fühlen wollen.“ Dass in Europa der Kampf gegen Unterdrückung natürlich, und von wem auch sonst, von unterdrückten Weißen – und ganz besonders von weißen Männern – geführt wurde, ist für den Spiegel-Journalisten nicht einmal mehr eine ferne historische Erinnerung.

 

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