Die Theorie hinter dem Zeitgeist der Beliebigkeit. Eine Buchbesprechung

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Der Philosoph Daniel von Wachter unterschied in einem Vortrag vor drei Jahren zwischen zwei Arten von „Philosophie“: Es gebe einmal die „literarische oder existenzielle Philosophie“, die „oft dunkel, geheimnisvoll, kryptisch, quasireligiös“ sei, sich „oft unklar und unscharf ohne Definitionen“, dafür aber „mit langen Sätzen“ ausdrücke.

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Diese Art von Philosophie stelle „keine klare Frage“, formuliere „keine klare These“, bringe „keine Argumente“ und „keine Untersuchung der alternativen Positionen“. Von Wachter nennt als Beispiele Sartre und Camus, die vor allem Literatur produziert haben, ferner Nietzsche, der kaum Argumente bringe, sowie Heidegger, dessen „Wortbrei“ kein Mensch lesen könne, aber auch Hegel, der kaum klare Thesen nenne und gegen deren Gegenthesen verteidige.

Dieser Art „Philosophie“ steht die „wissenschaftliche Philosophie“ gegenüber, die „Antworten auf bestimmte Fragen“ sucht und dafür „klar, präzise, gründlich, detailliert“ mit „Argumenten und Gründen“ operiert, dabei klare Thesen“ aufstellt und „auch die alternativen Positionen untersucht“. Von Wachter nennt als Beispiele Aristoteles und besonders die christlichen Denker des Mittelalters, namentlich Thomas von Aquin. Das neue Buch des Philosophen und Soziologen Alexander Ulfig mit dem Titel „Wege aus der Beliebigkeit“ gehört glücklicherweise eindeutig zur wissenschaftlichen Philosophie. Er bietet in ihm, wie der Untertitel präzise sagt, klare „Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming“, also auch und gerade politisch sehr einflussreiche Strömungen der Gegenwart.

Das Werk besteht aus einer Einleitung und zwölf Abhandlungen zu unterschiedlichen Themen. Offenkundig handelt es sich um eine Aufsatzsammlung und keine durchgehende Monographie, doch ist Ulfig dennoch eine Vereinheitlichung gelungen. Beim Lesen findet sich ein roter Faden und der Bezug zu den genannten Hauptthemen. Ulfig formuliert klar und auch für Laien verständlich; beispielhaft sei die erste Abhandlung vom „Mythos von der »sozialen Konstruktion«“ genauer vorgestellt.CoverWegeBeliebigkeit aulg6547

Ulfig bringt nach einer Übersicht über seinen Argumentationsgang seine These vor, nämlich dass es keine sozialen Konstrukte gebe, wie das die Postmoderne z. B. beim soziokulturellen Geschlecht, dem Gender, behauptet. Er definiert zunächst den Begriff der „Konstruktion“ und weist nach, dass der Begriff von den Vertretern der Gender Studies, deren zu seiner konträre Positionen Ulfig ausführlich referiert, unklar verwendet wird. Danach geht er begrifflich in die Tiefe und führt aus, dass „Konstruktion“ mit „Produkt“ verwechselt werde, d. h. wir seien zwar entgegen der Behauptung der Genderisten nicht in der Lage, unsere Identität frei zu konstruieren, sondern seien ein Produkt der Sozialisation, was uns aber keineswegs komplett determiniere. Schließlich zeigt Ulfig die Grenzen des sozialen Konstruierens (oder besser von dessen Konzeption) auf, der jeder Bezug auf die empirische Realität fehle, wodurch eine wissenschaftliche Überprüfbarkeit anhand dieser Realität unmöglich werde. Trotzdem behaupten die Vertreter der Gender Studies im Einklang mit der Postmoderne, es handle sich bei ihren Vorstellungen um Wissenschaft, was nur möglich ist, weil auch wissenschaftliche Theorien als „Konstruktionen“ und damit gleichwertig aufgefasst werden, egal ob sie überprüfbar sind oder nicht. Die Politik akzeptierte diesen Nonsens, was zur Einrichtung von Lehrstühlen für Gender Studies an den Universitäten führte. Diese dienen der Durchsetzung des politischen Programms des Gender-Mainstreamings, d. h. nicht der bislang eigentlich angestrebten universellen Gleichberechtigung gesellschaftlicher Gruppen, sondern ganz offiziell einer partikularistischen Lobbypolitik für eine bestimmte Gruppe von Frauen. Zwei weitere Kapitel schließen direkt daran an, um Klientelpolitik durch mehr innerparteiliche Demokratie zu verhindern  und eine an Qualifikation orientierte Stellenvergabe zu fordern.

Damit zeigt sich eine durchgehende Tendenz des Buches, über die wissenschaftliche Philosophie aktuelle politische Probleme zu behandeln, indem deren philosophische Ursachen aufgedeckt werden: Ulfig bietet die Theorie hinter dem Zeitgeist. Ulfig argumentiert überhaupt im ganzen Buch universalistisch (so auch für universelle versus partikular-islamische Menschenrechte) und für das Individuum gegen kollektivistische Vereinnahmungen, wie sie z. B. die überwunden geglaubte Beurteilung nach dem Geschlecht darstelle, was Männern eine Kollektivschuld für die angebliche Misere der Frauen zuweise. Ulfig tritt für die Werte der Aufklärung ein, die von einflussreichen postmodernen Denkern wie Foucault und Lyotard geleugnet werden; er verteidigt die Objektivität (und damit die Möglichkeit von Wahrheit), die dem relativistischen Denken zum Opfer gefallen sei, wie auch die Hierarchie von wissenschaftlichen Paradigmen (und Kulturen), die keineswegs gleichwertig seien, wie das die Postmoderne behaupte.

Am bedrohlichsten dürfte für unsere Zeit der postmoderne Nihilismus und Anti-Humanismus sein. Aus der Leugnung von allgemeinverbindlichen Werten resultiere, so Ulfig, die Rechtfertigung einer parteiischen Politik nur für bestimmte Gruppen, aus der Ablehnung des Humanismus wiederum die Leugnung der menschlichen Freiheit und letztlich Würde. In Verbindung mit der unterentwickelten Ethik des Marxismus, von dem die Postmoderne abstammt, ergebe sich daraus eine Gewaltbereitschaft der Linken bei der Durchsetzung ihrer partikularistischen politischen Ziele, ironischerweise im Sinne von Nietzsches „Wille zur Macht“.

Ulfig gelingt in seinem neuen Buch überzeugend eine nachvollziehbare Diagnose: Unsere Zeit krankt an der Beliebigkeit. Insofern gehört sein Buch im weitesten Sinne zur Kulturkritik. Seine Therapie besteht im Rückgriff auf die Werte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, des „Zeitalters der Vernunft“, die seiner Untersuchung nach teils missverstanden, teils verlassen worden seien. Ob die Aufklärung wirklich noch als Remedium für unsere Zeit taugt, wird von nicht Wenigen, auch dem Rezensenten, bezweifelt. Michel Houellebecq z. B., sicher kein Philosoph, aber der vielleicht bedeutendste Literat unserer Zeit, hat knapp verkündet, die Aufklärung sei gescheitert. Ulfig würde das möglicherweise mit der Begründung zurückweisen, die Aufklärung sei noch nicht so wie von den Aufklärern beabsichtigt zum Zuge gekommen. Meines Erachtens ist viel wichtiger, dass Ulfig mit nüchternen Argumenten, also mit den Mitteln der uralten wissenschaftlichen Philosophie, zeigt, dass die postmodernen Thesen falsch sind. So lange dieses Ergebnis nicht breiter akzeptiert wird, schwächt die Dekonstruktion von Werten (wie dem Leistungsprinzip und den Menschenrechten) und die Relativierung von Wissen unsere Gesellschaft, die dadurch immer undemokratischer und anfälliger für Angriffe von Ideologien wird. Diese Gefahr hat Ulfig auf einem hohen gedanklichen und argumentativen Niveau erkannt und benannt, weshalb das Buch unbedingt allen politisch interessierten Lesern zu empfehlen ist.

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