Die Entscheidung der DuMont Mediengruppe, sich von sämtlichen Regionalzeitungen zu trennen, hat gerade noch einmal auf die tiefe Krise des deutschen Journalismus aufmerksam gemacht. Die zwei großen journalistischen Skandale der letzten Wochen – der Relotius-Skandal beim Spiegel und der Skandal des Framing Manual bei der ARD – haben Gemeinsamkeiten, an denen der politische Hintergrund dieser Krise deutlich wird.
Gerechtigkeit braucht Freiheit
Die Freiheit wählen, das heißt nicht, gegen die Gerechtigkeit wählen, wie man uns dies weismacht. (…) Man wählt sie zugleich mit der Gerechtigkeit und wahrhaftig, in Zukunft ist es für uns nicht mehr möglich, die eine ohne die andere zu wählen. Wenn jemand euch euer Brot entzieht, beraubt er euch zugleich eurer Freiheit. Wenn aber jemand euch eurer Freiheit beraubt, dann wißt, daß euer Brot bedroht ist, denn es hängt nicht mehr von euch und eurem Kampf ab, sondern von der Eigenmächtigkeit irgendeines Herrn. Je mehr die Freiheit in der Welt an Boden verliert, desto mehr wächst das Elend und umgekehrt.“ (Brot und Freiheit, S. 53)
Natürlich hat sich Albert Camus mit diesen Sätzen aus einer Rede des Jahres 1953 als Linker auch gegen andere Linke wie Sartre gewandt, die mit der Sowjetunion kokettierte: Wer behaupte, dass er für Gerechtigkeit und gegen das Elend in der Welt kämpfe, dass aber dafür offene Debatten und bürgerliche Freiheiten eingeschränkt werden müssten – der versündige sich an beidem, an der Freiheit UND an der Gerechtigkeit.
Heute sind Camus‘ Gedanken wieder aktuell, und dies nicht einmal, weil Freiheiten durch eine totalitären Staat beschnitten würden – sondern weil die stärksten Akteure der Debatten die Freiheiten anderer begrenzen und ihre eigenen Freiheiten selbst aufgeben. Der Medienwissenschaftler Thomas Meyer analysiert in seinem 2015 erschienen Werk Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren die engen Verflechtungen zwischen Politik und Journalismus.
„Konsens steht manchmal am Ende, aber nie am Anfang demokratischer Prozesse. Wo er es doch tut, ist dies ein Alarmsignal, schließlich ist die Abwesenheit von Konflikt und Streit ein Kennzeichen autoritärer Regime.“ (S. 136)
Eben eine solche „Atmosphäre der Homogenität“ aber (143) beschreibt Meyer für den deutschen Journalismus. Geprägt sei sie durch Distanzlosigkeit gegenüber der Politik und durch prekär gewordene ökonomische Verhältnisse: Da kaum ein Journalist sich sicher sein könne, bei seinem Arbeitgeber zu bleiben, würden viele davor zurückscheuen, sich durch eigenständige, vom Mainstream abweichende Positionen bei möglichen anderen Arbeitgebern unbeliebt zu machen. Resultat sei ein beflissen und ängstlich auf sich selbst bezogener Medienbetrieb:
Die Welt – das sind für die politischen Journalisten vor allem: die anderen Journalisten.“ (119)
Zwei Skandale der letzten Wochen wirken so, als wären sie zur Illustration dieser Thesen eigens arrangiert worden: der Relotius-Skandal des Spiegel und der Skandal des Framing Manual bei der ARD.
Bei allen Unterschieden sind die Ähnlichkeiten ebenso auffällig wie deprimierend. In beiden Fällen wird ein Wirklichkeitsverlust regelrecht zelebriert. Relotius hätte hervorragende und außergewöhnliche Möglichkeiten gehabt, wirklichkeitsnah zu berichten und Fakten gerecht zu werden. Für ihn aber war es reizvoller, sich in einer zum Selbstzweck gewordenen Sprache zu verlieren, unglaubwürdige Manieriertheiten – beständig etwa spielt oder singt jemand zufällig gerade genau das passende Lied – zu pflegen und politische Erwartungen zu bedienen.
Den ARD-Führungskräften wiederum geht es auf ihren Framing-Workshops ganz um die Herstellung einer sprachlichen Oberfläche, ohne dass die damit bezeichnete Wirklichkeit für sie von näherem Interesse wäre. Sie sprechen sich selbst „Exzellenz“ (69) zu, ohne sich um die Qualität ihres Programmes zu kümmern, und verkünden ironiefrei die Einheit zwischen ARD und Gesamtbevölkerung, ohne sich über reale Beteiligungsmöglichkeiten Gedanken zu machen.
Natürlich verbindet sich dies mit einer Missachtung des Publikums. Es ist ganz egal, ob Zuschauer und Leser die öffentlich-rechtlichen Selbstzuschreibungen eigentlich aus ihrer Erfahrung bestätigen können – und diejenigen, die nicht bezahlen wollen, würden „den allgemeinen Willen des Volkes“ missachten, „täuschen und betrügen“ und auf Kosten anderer leben (63): Die ARD muss den Begriff Volksschädlinge nicht einmal benutzen, um deutlich zu machen, dass sie genau dies meint.
Für Relotius wiederum spielte es keine Rolle, dass es ethisch nicht vertretbar ist, Tausende von Lesern beliebig zu belügen – und es war ihm offenbar auch gleichgültig, dass seine Lügen zumindest einigen von ihnen auffallen mussten. Dass Bewohner des Ortes Fergus Falls, den Relotius sich politisch opportun als Klischeebild Trump-wählender Hinterwäldler fantasiert hatte, beim Spiegel schnell gegen die Darstellung protestieren, interessierte die Redaktion erst, als ihr der Fall ihr schon in den Händen explodiert war: erst als sie selbst von den Folgen der Lügen betroffen war.
Beide Skandale haben also einen durchaus systematisch exekutierten Wirklichkeitsverlust und eine selbstverständliche Publikumsverachtung gemein. Beides schränkt die Freiheit offener Debatten ein und erstickt sie. Anstatt auf eine allen gemeinsame soziale Wirklichkeit ist dieser Journalismus ganz auf sich selbst und seine Selbst-Präsentation bezogen – und anstatt in die Kommunikation mit den vielen unterschiedlichen Positionen des Publikums zu treten, kreist der Betrieb um sich selbst.
Dabei stirbt der deutsche Journalismus als Profession, die sich an allgemeinen Qualitätsmaßstäben definierte. Es ist nicht mehr verbindlich, dass Behauptungen belegt werden und dass Distanzen zu politischen Akteuren bewahrt bleiben müssen, oder dass Gegenpositionen zumindest gehört würden. Fast beliebig lassen sich dafür frische Beispiele finden – das neueste, das mir auffiel, stammt vom Wochenende. Es lohnt sich ein kurzer Blick darauf.
Sozialschmarotzer, Bösewichte und andere Kategorien des Qualitätsjournalismus
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt Georg Meck, einer der Leiter des Wirtschaftsressorts, unter dem holzschnittartigen Titel „Böse Väter“ über Väter, die keinen Unterhalt bezahlen. Er tritt aus gegen diese „Sozialschmarotzer“,behauptet, dass es um Hunderttausende ginge, dass die Unterschlagung des Unterhalts als „Kavaliersdelikt“ gelte, und er fordert begleitend bei Twitter „Knast“.
Natürlich gibt es unterhaltsentziehende Väter: Selbstständige können sich arm rechnen, tariflich Beschäftigte und erst recht Beamte haben allerdings deutlich schlechtere Möglichkeiten, ihre Einkommen zu verstecken. Das gilt für Väter übrigens ebenso wie für Mütter, die ihre Einkommen manipulieren können, um ihre Ansprüche auf Betreuungs- oder Ehegattenunterhalt zu vergrößern. Unterhaltspflichtige Mütter haben übrigens eine deutlich schlechtere Zahlungsmoral als unterhaltspflichtige Väter.
Meck kommt gar nicht erst auf die Idee, nachzufragen, wie der von ihm zitierte „Ifo-Forscher“ Andreas Peichl darauf kommt, dass unterhaltssäumige Väter keineswegs selbst unter finanzieller Not litten, sondern dass 80 Prozent zahlen könnten. Diese Frage richtet erst ein User bei Twitter an Peichl – und er erfährt, dass der Forscher überhaupt keinen direkten Beleg hat, sondern nur eine „indirekte“ Evidenz: Er hat schlicht von den Zahlen sämtlicher Männer hochgerechnet, die mehr als 1134 Euro verdienen.
Das bedeutet: Der gesamte Artikel basiert auf einer allgemeinen Hypothese, die erst noch konkreter formuliert und dann belegt werden müsste, die aber selbst gar nichts belegen kann. Schlimmer noch: Die mit wiederholten Schimpfworten forcierte Wut über unterhaltsentziehende Väter lenkt Meck auf Väter allgemein. Er erklärt, dass die Rückholquote lediglich 13 Prozent betrage – dass also unter denjenigen Vätern, deren fehlender Unterhalt durch den Staat vorgeschossen werden muss, zur Zeit nur 13 Prozent die Summe an den Staat zurückzahlen müssten. Der FAS-Journalist schließt daraus: „Fast neun von zehn unterhaltspflichtigen Vätern schlagen sich demnach skrupellos in die Büsche.“
Das ist schlichtweg nicht wahr, und es ergibt sich auch überhaupt nicht („demnach“) aus dem Vorangehenden – aber im moralischen Furor gegen die väterlichen Volksschädlinge spielen solche Petitessen hier keine Rolle.
Fast in jedem Absatz lässt sich hier zeigen, was schlechter Journalismus ist: Politikerinnen werden distanzlos als Expertinnen zitiert, ohne dass ihre politischen Motive reflektiert würden – Behauptungen werden als Tatsachen präsentiert, ohne dass nach Begründungen gefragt würde – konsequent wird ein Feindbild aufgebaut – die Sprache entgleist immer wieder – der Text hat offenkundig nicht den Zweck, aufzuklären, sondern setzt ganz auf eine moralische Empörung, die sich aber um ihre sachlichen Grundlagen nicht schert.
Statt Strukturen zu analysieren, etwa nach der Funktionalität des Modells der mütterlichen Einzelresidenz zu fragen, präsentiert der Text Schuldige und Hassobjekte. Er ist aufgemacht mit dem Bild mehrerer offenkundig außergewöhnlich wohlhabender Männer, die mit Nadelstreifenhose, Hemd, Krawatte und teurer Uhr ausgestattet sind und die in einem teuer anmutenden Lokal gemütlich ein Bier trinken. Die Verantwortlichen der FAS projizieren die Erfahrungen ihres eigenen Milieus auf Väter und glauben, damit etwas über Deutschlands soziale Wirklichkeit auszusagen.
Meck wiederum legitimiert seine verrohte Wortwahl, indem er sie schlicht wiederholt: Das ist selbstbezogen und tautologisch, tritt aber umso heftiger aus gegen andere, deren Realität den FASler gar nicht interessiert. Er beschneidet ihnen im Namen dessen, was er für gerecht hält, ihre Freiheit der Beteiligung – und schadet so der Freiheit ebenso wie der Gerechtigkeit.
Natürlich verschwimmen hier Journalismus und politischer Aktivismus – so distanzlos, wie Meck Politikerinnen wie die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz wiedergibt, wird er selbst wiederum von Anti-Väter-Aktivistinnen verbreitet. Gleichwohl zeigt sich selbst an diesem Beispiel auch, dass der beliebte Vorwurf zu simpel ist, deutsche Journalisten würden in ihrer Mehrzahl blind grüne Politik propagieren. Mecks Ressentiments entspringen eher einem erzkonservativem Vaterbild: Er regt sich vier große Spalten lang auf über Väter, die ihre Kinder nicht finanzieren – fragt aber kein einziges Mal, ob diese Väter eigentlich diese Kinder noch sehen können, oder warum sie nicht selbst ihre Kinder versorgen.
Allerdings passt dieses reaktionäre Vaterbild überraschend gut zu einer Familienpolitik, die in roten und grünen Parteien als modern gilt. Für Thomas Meyer ist gar eine bürgerliche schwarz-grüne Koalition Wunschbild vieler Journalisten. Das Problem von Journalisten wie Merk und vieler anderer ist womöglich weniger die gern unterstellte Absicht politischer Indoktrination als die Blindheit für die Begrenzungen ihres Milieus.
Wer nicht divers ist, gehört nicht dazu
Insbesondere die Grünen sind, trotz ihres üblichen Aufschwungs zur Mitte einer Legislaturperiode, weitgehend Partei einer spezifischen Milieus: akademisch gebildet mit einer deutlichen Tendenz zu Geistes- und Sozialwissenschaften – besserverdienend oder mit einem finanziell abgesicherten familiären Hintergrund – und mit guten Zugängen zu Medien und anderen Institutionen. Das eben ist auch das Milieu, zu dem die meisten Journalisten gehören – und das allein erklärt schon Einseitigkeiten, ohne dass dafür die Unterstellung bewusster, gar beauftragter Indoktrination nötig wäre.
Die Beliebtheit von Begriffen wie dem der „Diversität“ steht so allerdings in einem seltsamen Kontrast zur sozialen Homogenisierung medialer Debatten. Tatsächlich werden dort Gleichberechtigung und Diversität vor allem dann betont, wenn sie etablierte Positionen und Besitzstände nicht stören. Während sie Institutionen komplizierte Regeln geben, um die ca. 0,26% Transsexueller sprachlich und grammatikalisch nicht zu exkludieren, vermeiden dieselben politischen Akteure beispielsweise eine offene Diskussion darüber, dass genau 50% aller leiblichen Eltern aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit weiterhin juristisch und institutionell erheblich benachteiligt sind.
Der gängige Vorwurf, nicht divers genug zu sein, projiziert so die soziale Homogenität eines spezifischen Milieus auf die gesamte Gesellschaft. Das ist für sich genommen weder verwerflich noch vermeidbar – die Strukturen moderner Massengesellschaften sind viel zu komplex, zu abstrakt und zu gewaltig, als dass wir uns von ihnen ein Bild machen könnten, ohne in sie etwas Vertrautes hinein zu projizieren. Gefährlich aber werden diese Projektionen, weil der Gegenpart fehlt, weil sie nicht mit abweichenden Perspektiven konfrontiert werden – und weil sie so gar nicht als Projektionen erkennbar werden.
Dieser Gegenpart wird nur in Form gängiger, erprobter Klischees zum Bestandteil der Debatten. Die beliebte Wut auf alte, weiße Männer etwa speist sich auch daraus, dass Männer weiterhin in deutlich stärkerem Maße als Frauen an der Basis von Parteien und Organisationen politisch aktiv sind. Selbst bei den Grünen, bei denen jede einzelne Frau deutlich bessere Aufstiegschancen hat als jeder Mann, sind 60% der Mitglieder männlich. Politisch sind Männer in deutlich größerem Maße als Frauen Störfaktoren.
Natürlich sind in Deutschland auch die meisten Männer weiß – und ältere Männer agieren oft auf Positionen, auf denen sie wenig erpressbar sind, aber Einfluss nehmen können. Das Klischee der alten weißen Männer speist sich also wohl nicht aus Männerfeindlichkeit – würden Frauen mehr stören als Männer, dann würden wohl „Angry white women“ oder „wütende weiße Frauen“ zu Sinnbildern einer irgendwie immer reaktionären Opposition gegen den irgendwie immer schon bestehenden Konsens.
Tatsächlich werden auch heute schon Frauen, die aufmucken, besonders scharf angegriffen. Für mich unvergessen ist beispielsweise die maßlose Attacke von Silke Burmeister auf die damalige Familienministerin Kristina Schröder im Spiegel. Schröder hatte feministische Positionen kritisiert und wurde dafür von Burmester als „Feindin aller Frauen“ herausgestellt.
Wer glaubt, die eigene Position stünde stellvertretend für das Ganze, der stellt dann eben Menschen anderer Meinung als Feinde des Ganzen hin – so wie für die ARD Nichtzahler und für Meck Väter, die keinen Unterhalt zahlen, eben Schädlinge des ganzen Volkes sind. Diese Selbstüberhöhung ist nur mit einem Seitenblick auf die allgemeine Politik zu erklären.
Die Unwahrscheinlichkeit der Demokratie
Das belastende Erbe Merkels wird wohl, im Unterscheid zur Meinung der meisten ihrer Feinde, nicht die Migrationspolitik sein, sondern die Verwahrlosung öffentlicher Infrastruktur. Auch die Migration der Jahre seit 2015 wurde vor allem deshalb zu einem Problem, weil staatliche Institutionen lange damit überfordert waren, sie zu steuern – und weil verantwortliche Politiker signalisierten, sich dafür keineswegs verantwortlich zu fühlen.
Weit gravierender ist, dass die Schulen, die Pflege, die Universitäten, das Gesundheitssystem insgesamt, die Polizei, der Bahnverkehr und die andere Verkehrsinfrastruktur, das Militär, die Gerichte und natürlich die Strukturen der Digitalisierung im Modus permanenter Mangelverwaltung gehalten werden. Was hier in der Zeit der Fülle abgebaut wurde, wird in Zeiten der Knappheit nicht wieder aufgebaut werden können.
Damit gehen auch Strukturen verloren, die der Gesellschaft insgesamt zur Verfügung stehen und die so verschiedene ihrer Bereiche miteinander vermitteln können. Eine Verwahrlosung öffentlicher Infrastruktur ist immer auch ein Signal, dass jeder sich auf sein eigenes Wohlergehen konzentrieren muss. Passend dazu hat sich rechts wie links eine Identitätspolitik entwickelt, die eine allgemeine demokratische Vermittlung nicht einmal mehr anstrebt, sondern die moralisierend verschiedene Gruppen der Gesellschaft gegeneinander ausspielt.
Dass die gesamte politische und ökonomische Rahmung gemeinhin als „neo–liberal“ bezeichnet wird, ist einschlägig, aber irreführend – Liberalität in einem klassischen, nicht allein auf ökonomische Strukturen bezogenen Sinn geht hier ja gerade verloren. Zudem gehört der Abbau staatlicher Investitionen zwar zum neoliberalen Kernbestand, soll dort aber unbedingt mit einem Abbau steuerlicher Belastungen verbunden sein. Kennzeichnend für unsere politische Entwicklung ist es aber, dass ein Abbau öffentlicher Infrastruktur mit bleibend hohen Steuern und Abgaben einhergeht. Der Begriff „neo–feudal“ ist für solch eine Situation passender.
In einer feudalen Logik aber können sich diejenigen, die besonders große Möglichkeiten zur öffentlichen Selbstdarstellung haben, zu Repräsentanten der Gesamtheit erklären. Die „ARD ist die Gesellschaft: Wir sind ihr!“ erklärt, tatsächlich wörtlich, das Framing Manual ganz in diesem Sinne. (27) Dass alle Menschen für enorm teure Strukturen bezahlen müssen, ohne dass es von Belang wäre, ob sie von diesen Strukturen auch etwas haben – und dass ihnen dann noch zugemutet wird, diese Strukturen als Sinnbilder des gesellschaftlichen Ganzen wahrzunehmen: Das passt nicht in eine demokratische, sehr wohl aber in eine feudale Logik.
Noch kann der Sozialstaat es auffangen, dass sich die gesellschaftlichen Schichten ökonomisch enorm auseinander entwickeln. Demokratisch gravierend aber ist es, wenn – so Thomas Meyer – „in großen Bereichen der Gesellschaft der Eindruck vorherrscht, die eigenen Interessen und Sichtweisen kämen in der öffentlichen Debatte gar nicht mehr vor“. (92)
Schlimmer noch, viele Menschen kommen vor, aber nur auf verzerrte Weise, die ihre eigenständige Teilnahme an Diskursen noch weiter blockiert, nämlich als Schmarotzer, als ehrlose Gestalten, als Feinde der Gemeinschaft. Menschen haben so zwar zumindest zu basalen ökonomischen Ressourcen Zugang, können aber nicht die Erfahrung machen, an den demokratischen Diskursen zu partizipieren, die von einem diffusen Miteinander politischer und journalistischer Akteure bestimmt werden.
Wer Machtpositionen besetzt, hat gute Möglichkeiten, diese Positionen auszubauen. Wer auf schwachen Positionen agiert, agiert immer nur mit begrenzten Möglichkeiten. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich gesellschaftliche Schichtungen verhärten und dass verschiedene Milieus eher auseinanderdriften, als sich anzunähern. Strukturen demokratische Vermittlung hingegen sind verhältnismäßig unwahrscheinlich – sie haben auf Dauer nur dann eine Chance, wenn immer genügend Menschen viel in sie investieren. Dabei haben Journalisten eine Schlüsselfunktion.
Ein Kernproblem des heutigen Journalismus, das auch als gravierendes Qualitätsproblem kenntlich wird, ist es jedoch, dass den meisten Journalisten ein solches demokratisches Interesse nicht anzumerken ist.
Quellen, soweit nicht verlinkt:
Albert Camus: Verteidigung der Freiheit. Politische Essays, Reinbek 2016 (darin die Ansprache Brot und Freiheit, S. 47-56)
Thomas Meyer: Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren, Berlin 2015
sowie das Framing Manual. Unser gemeinsamer, freier Rundfunk ARD