Rezension: Verachtung nach unten
von Alexander Wendt
Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht
und wie wir sie verteidigen können.
Eine Rezension von Michael Mansion
Was sich im Titel fast wie eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der aktuellen Gesellschaftlichkeit anhört, ist unter dem Strich der bemerkenswerte Versuch, zunächst einmal die begrifflichen Kategorien unter die Lupe zu nehmen, die zunehmender Beliebigkeit, fernab jeglicher inhaltlichen Substanz zum Opfer fallen.
Wie eigentlich kann ein auf Überzeugungen angelegtes System funktionieren, wenn die Begriffe unklar werden und ihren gewohnten Inhalt verlieren?
Was ist, wenn etwas in Bewegung gerät, das sich nur notdürftig mit einem pseudo-progressiven Firnis überzieht, seinem Wesen nach aber antiaufklärerisch und antiemanzipatorisch ist?
Eine „verkehrte Linke“
Was ist aus der klassischen Linken und dem von ihr kritisierten ökonomischen Kern der gesellschaftlichen Verhältnisse geworden?
Der Autor spricht hier von einer „verkehrten Linken“, von regressiven Progressiven.
Die Verachtung steht dabei als Synonym für den Versuch dieser vermeintlichen Linken, die Bürgergesellschaft durch eine nach Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte neue Gesellschaftlichkeit der Stämme zu ersetzen, die ihre Zuteilungen über Quoten regelt und alle zu Fortschrittsfeinden stempelt, die dieser Agenda widersprechen.
Wer jedoch zu einer tribalen Stammesgesellschaft zurück wolle, der müsse auslöschen, was zuvor der Ausdruck einer Moderne der Aufklärung war.
Der westliche Rationalismus erfährt so eine Ablösung durch einen woken Okkultismus im Habitus einer permanenten Anklage historisch abzuleistender Schuld.
Realität der Migration vs. schuldiger Westen
Allerdings widerlege die Realität der Migration die Erzählung von einem schuldigen Westen, sagt der Autor. Die aus vormodernen Gesellschaften zuwandernden Muslime haben mehrheitlich nicht das Ziel, sich dem Westen anzunähern. Der Antagonismus erschließt sich aus deren brüsker Ablehnung aller westlich-säkularen Werte, wie in Europa umfänglich beobachtbar.
Darauf reagiert die Einwanderergesellschaft mit einer breit angelegten Kampagne gegen ein Bewahrenwollen des westlichen, über Jahrhunderte gewachsenen Kulturkanons, mit einem Abräumen aller traditionellen Werteverständnisse, welche in den Anruch des Rassismus und des Neo-Kolonialismus gerückt werden.
Wer aber ist eigentlich verantwortlich für die Neuordnung der Gesellschaft in Wahre und Gute oder Fremdenfeinde, Populisten und Nazis? Wer hat die Macht über die erforderliche mediale Standardisierung? Wer spielt die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte gegeneinander aus?
Handelt es sich um eine neue Klasse, um eine Schicht, wenn man von den „Woken“, den Wohlgesinnten spricht?
Sie begreifen sich als die Sinnverwalter des kulturellen Kapitals, als paternalistische Hirten im Besitz des richtigen Bewusstseins und strafen alle mit Verachtung, die nicht in dieses Raster passen.
Für sie finden die wesentlichen gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr in der materiellen Sphäre statt, sondern in einer, die Gesellschaft durchziehenden, strukturellen Diskriminierung und einer ungenügenden Teilhabe von Migranten.
Bei dieser, sich zum Teil offen gegen die Randständigen und deren wesentliche Interessen positionierenden Neo-Linken, denen es ihre bisweilen abgehobene und wohlversorgte Lebensweise erlaubt ( in strikter Umkehr von Marx), die Rolle der moralisch Klügeren, der Gebildeteren einzunehmen, bestimmt das Bewusstsein das Sein!
Der Autor hat sehr umfänglich recherchiert, um sich dem Thema anzunähern und verweist auf eine große Zahl von Beispielen, Zitaten und auf politische Literatur.
Im Gegensatz zu der medial permanent geführten Beschuldigung von Vertretern der Opposition und der Wissenschaft als potentiell politisch „rechts“ im Falle eines Widerspruches gegen die vorrangig betriebenen Agenden der Regierung, verweist Wendt auf die zunehmenden Versuche einer Einschränkung von Meinungsfreiheit unter dem Banner von Demokratierettung.
Die dabei zutage tretende und bisweilen offene Verachtung Andersdenkender, denen man vorschreiben will, wie sie „angemessen“ zu argumentieren haben und welche „Haltung“ man von ihnen erwartet, hält Wendt vor allem dann für gefährlich, wenn selbst harmlose Äußerungen zum Verdachtsfall werden.
Er geht umfänglich auf die besonders umkämpften Gebiete des aktuellen Kulturkampfes ein,
den er sehr genau beschreibt und auf wissenschaftliche Studien verweist.
Die Folgen einer kulturellen Selbstvergessenheit, die als hypostasierte Maral in Erscheinung tritt, führen aus seiner Sicht zum Verschwinden einer Gesellschaft von selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern.
Die Frage nach der gesellschaftlichen Zukunft unter den Bedingungen einer antiaufklärerischen Revolution, sei zugleich die Frage nach einer Zukunft der Bürgergesellschaft, für die es zu kämpfen gelte.
Dieses Buch ist wichtig, weil es die Zustände der aktuellen Gesellschaftlichkeit sehr umfänglich beschreibt und analysiert. Es kann unumwunden als ein Schlüsselwerk bezeichnet werden.
Erschienen im Lau-Verlag /Edition OLZOG
ISBN: 978-3-95768-259-8
372 Seiten / ein Vorwort / Acht Kapitel