In der Wut auf Christian Lindner und die FDP zeigt sich vor allem, dass wir uns allzu behaglich mit einer präsidial agierenden Kanzlerin eingerichtet haben. Wir rechnen gar nicht mehr damit, dass sie ernsthafte Gegenspieler haben könnte.
Der Buh-Mann der Nation
Die Bild-Zeitung erklärt Christian Lindner zum „Buh-Mann der Nation“. Die Süddeutsche Zeitung nennt Lindner einen „Spielverderber“ und macht sich über ihn lustig. Er wolle „Emmanuel Macron sein oder wenigstens Sebastian Kurz. Er ist aber nur Christian Lindner.“
Die Frankfurter Rundschau unterstellt, Lindner habe „die Verhandlungen aus rein taktischen Gründen scheitern lassen.“ Marietta Slomka führt im heute journal ein Gespräch mit Lindner, das mit einem Interview nichts zu tun hat: Sie macht ihrer Empörung über den Abbruch der Sondierungsgespräche Luft, und Lindner versucht, sie zum Modifizoeren ihrer festgefügten Meinung zu bewegen.
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Der Spiegel fragt unschuldig unterstellend: „Wieviel Inszenierung steckte im FDP-Abgang?“ – als ob es ein ganz und gar unbegreifliches und überraschendes Verhalten wäre, wenn Politiker heute Politik auch als Inszenierung betreiben.
Schon der Grüne Reinhard Bütikofer wirft der FDP und Lindner vor, den Abgang unfair von langer Hand geplant zu haben. Der Grüne Jürgen Trittin erklärt schlankweg, mit der AfD und der FDP säßen jetzt „zwei rechte Protestparteien im Bundestag“ und verklärt die grüne Kompromissbreitschaft – nachdem er noch wenige Tage zuvor signalisiert hatte, die Grünen könnten den erarbeiteten Kompromissen auf keinen Fall zustimmen. Aus der Gruft heraus, in die sich die SPD freiwillig zurückgezogen hat, wirft der Sozialdemokrat Karl Lauterbach der FDP „krasse Arroganz“ vor: „Weil FDP Einkommensstarke nicht genug beschenken kann lässt Showman Lindner Jamaika platzen.“
Die Liste ließe sich leicht noch weiter fortsetzen. Das sind sehr viele Aggressionen, bis hin zum Eindruck des Hasses, für ein ganz normales Verhalten. Wer Sondierungsgespräche führt, möchte ausloten, ob sich weitere Verhandlungen lohnen. Dass das Ergebnis negativ ausfallen kann, wissen alle Beteiligten von Anfang an. Dass die FDP aber immerhin über Wochen hinweg nach Gemeinsamkeiten mit Union und Grünen gesucht hat, anstatt sich – wie die SPD – ohne weitere Sondierungen fünf Minuten nach den ersten Prognosen des Wahlabends jeder weiteren Zusammenarbeit zu verweigern: Das müsste ihr eigentlich positiv angerechnet werden.
Stattdessen ist es in sozialen Netzwerken wie Twitter zu einem Sport geworden, der FDP wieder und wieder nachzuweisen, die Social Media-Abteilung der Partie hätte schon vor dem Abbruch den Satz „Lieber nicht regieren als falsch“ vorbereitet – was den Verdacht nähren soll, die Partie sei gar nicht an einem Erfolg der Sondierung interessiert gewesen. Dabei wäre es ja eben andersherum: Hätte die FDP-Spitze tatsächlich am Sonntag spontan alles hingeschmissen, anstatt eine solche gewichtige Entscheidung länger zu überlegen und vorzubereiten – dann müsste ihr das jetzt zum Vorwurf gemacht werden.
Tatsächlich hatte die Partei sich auf mehrere Szenarian vorbereitet – auch auf einen Erfolg.
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Es ist wieder der offenbar besonders stark erregte Grüne Trittin, der vorher ganz besonders telegen bei den Sondierungen quergeschossen hatte, der jetzt immer wieder nachtritt. Lindner habe doch tatsächlich den Plan gehabt, „Frau Merkel zu stürzen“.
Was macht eigentlich Frau Merkel so?
Tatsächlich sind es wesentlich weniger Lindner oder die FDP, sondern Merkel und ihre CDU, denen der Abbruch anzulasten ist. Dass die Kanzlerin dadurch in Schwierigkeiten geraten kann, merkt wohl auch ihre Partei selbst – anders ist der absurd anmutende Applaus für sie nach dem Scheitern der Gespräche kaum zu erklären.
Merkels berühmte und typische Methode nämlich ist in diesen Sondierungen an ihre Grenzen gelangt. Die Kanzlerin hatte nun, wie üblich, lange zugewartet, während andere sich in Debatten und Konflikten verschlissen. Früher hat sie dann in der Regel das sich schließlich abzeichnende Ergebnis für sich selbst reklamiert und so den Eindruck erweckt, als präsidiale Kanzlerin über dem kleinlichen Gezänk zu schweben und trotzdem alle Zügel in der Hand zu halten.
Das Merkel-Manöver hat bei aller Effektivität auch gravierende Nachteile. Die offene Debatte erodiert damit im stillen Autoritarismus einer Politik, in der jede schließlich gefundene Position Merkels als alternativlos erscheint – auch wenn sie im Widerspruch steht zu Positionen, die sie noch kurz zuvor eingenommen hatte und die damit kurz zuvor ebenfalls alternativlos waren. Es war kein Zufall, dass sich in dieser Stillstellung der Demokratie eine „Alternative für Deutschland“formierte. Auch wer – wie ich – mit der AfD nichts anfangen kann, muss einräumen, dass sie ohne die Schwäche der Parteiendemokratie keine Chance gehabt hätte.
Zudem ist Merkels Vorgehen nicht kooperativ, sondern zielt auf das Abschöpfen des Eigennutzens. Es ist nur zwangsläufig, dass die Kanzlerinnenpartei mit jeder neuen Legislaturperiode einen neuen Partner brauchte, weil der alte bis hin zum kompletten Absturz verbraucht war. Das erklärt die fast panische Weigerung der SPD, auch nur Sondierungsgespräche aufzunehmen, und es macht auch die Skepsis der FDP verständlicher.
Denn Vertrauen konnte Merkel in den Sondierungsgesprächen offensichtlich nicht aufbauen. In ihrer Pressekonferenz nach dem Scheitern der Sondierung betonen Lindner und Wolfgang Kubicki, dass es der möglichen Jamaika-Koalition an einer einigenden Idee gefehlt habe – ein kaum verhohlener Hinweis auf Versäumnisse der Kanzlerin, deren Job es schließlich ist, die „Richtlinien der Politik“ zu bestimmen.
Angesichts der massiven Differenzen zwischen den verschiedenen Parteien – zwischen CSU und Grünen, zwischen FDP und Grünen, zwischen CSU und CDU – hat es dieses Mal eben nicht gereicht, abzuwarten. In dieser Konstellation hätte Merkel wohl viel offensiver vorgehen und deutlich machen müssen, wofür eine Koalition der so unterschiedlichen Parteien stehen kann.
Wer aber jetzt das Sondierungspapier anschaut, kann erkennen, dass viele Streitpunkte einfach festgehalten werden, aber eine Einigung kaum erkennbar ist.
Klientelpolitik statt Familienpolitik
Als Trennungsvater habe ich natürlich auf die familienpolitischen Passagen geschaut (ab Seite 12). Für die meisten Menschen sind die Familien die zentralen Bezugspunkte ihres Lebens, und das Zerbrechen von Familien ist meist für die Beteiligten eine große Belastung. Umso wichtiger ist es für sehr viele, dass die Politik hier einen verlässlichen, rationalen und humanen Rahmen schafft.
Einzig die FDP aber möchte das Wechselmodell nach Trennungen zum Regelfall machen (S. 14). Das würde Kindern den gleichmäßigen Kontakt zu beiden Eltern gewährleisten, es ist das Modell, mit dem Kinder meist am besten leben können (dazu ein Vortrag der Rechtsprofessorin Hildegund Sünderhauf) – und es ist zudem das Modell, das einem modernen, an gleichen Rechten orientieren Geschlechterverhältnis als einziges entspricht.
Offensichtlich hatte die FDP damit aber weder bei den konservativen Familienpolitikern der Union noch bei den feministischen Grünen, die doch angeblich dringend an gleichen Rechten interessiert sind, eine Chance. Die Grünen bestehen stattdessen darauf, dass lesbische Paare „beim Zugang zur Reproduktionsmedizin“ nicht diskriminiert werden dürften. (S. 13) Das mag ja diskutabel sein, es ist aber im Vergleich zu humanen Regelungen für die Mehrzahl der Elternpaare deutlich weniger relevant: Klientelpolitik statt Familienpolitik.
Als Blogger interessiert mich natürlich auch das Netzwerksduchsetzungsgesetz, mit dem der Gesetzgeber soziale Plattformen unter einen erheblichen Druck setzt, missliebige Positionen als „Hate Speech“ zu klassifizieren und zu entfernen. Er erwartet damit von Social-Media-Betreibern ein Verhalten, zu dem er selbst gar nicht berechtigt wäre – weil er sich damit der Zensur schuldig machen würde.
Eigentlich hatte die FDP angekündigt, gegen dieses Gesetz vorzugehen, das auch vom UN-Beaufragten für Meinungsfreiheit scharf kritisiert worden war. Im Sondierungspapier finden sich allerdings, wenn ich nichts überlesen hab, lediglich ein paar allgemeine Bekenntnisse zu „Presse- und Medienfreiheit“, die über Selbstverständlichkeiten nicht hinausgehen. (S. 48)
Das sind nur zwei Beispiele für offenkundige Differenzen, die auch nach mehreren Wochen Sondierung nicht ansatzweise ausgeräumt waren. Wenn die FDP und ihr Vorsitzender nun trotzdem als Verräter wahrgenommen werden, als hätten sie Kindern heimtückisch ihre Weihnachtsgeschenke gestohlen – dann ist das erklärungsbedürftig.
Von der Schwierigkeit, politisch erwachsen zu werden
Dass der Merkelsche Mehltau sich über das Land legen konnte, ist kaum die Schuld der Kanzlerin selbst. Die hat schlicht eine Möglichkeit gefunden, sich im ungesunden Klima der Berliner Politik über viele Jahre hinweg an der Spitze zu halten.
Schwerwiegender ist es schon, dass ihre Partei keine Alternative zu ihr hat. Das nämlich würde Bewegung in die festgefahrene Situation bringen und allen Beteiligten neue Möglichkeiten eröffnen – auch ohne Neuwahlen.
Vor allem hat sich die politische Öffentlichkeit insgesamt mit Merkel allzu behaglich eingerichtet. Mit ihrem präsidialen Stil ist sie eben eine mütterliche Figur, die den Eindruck erweckt, bei allen Schwierigkeiten ruhig zu bleiben und am Ende immer eine gute Lösung zu finden. Zur mütterlichen Kanzlerin aber passt eine kindliche Bevölkerung. Das schlug auch in einem wichtigen Konflikt der Gespräche durch.
Das Kernthema der letzten Regierung, die Entscheidung zur Grenzöffnung, stand auch in den Sondierungsgesprächen noch einmal im Zentrum. Ausgerechnet die Grünen, die eine Wertschätzung der Familie sonst gern als „Familismus“ verhöhnen, führten die Gespräche mit ihrem Beharren auf den Familiennachzug für Flüchtlinge auf eine Klippe.
Dabei ist es natürlich gut, wenn die Familien zusammengeführt werden. Nur stehen zunächst pragmatische Probleme im Vordergrund, wenn über 60 Prozent der Asylbewerber in Deutschland keine Papiere bei sich haben und wenn die zuständigen Institutionen nach wie vor überfordert sind. Es ist legitim, erst die Situation der Migranten im Land zu klären, bevor Familien nachgeholt werden.
Wer zudem Verhandlungen über die Regierung einer Bevölkerung von 80 Millionen am Familiennachzug blockiert, hat wenig Sinn für Relationen und spielt das Bedürfnis in den Vordergrund, sich selbst als ganz besonders moralisch zu präsentieren – auch auf Kosten pragmatischer Überlegungen.
Dabei ist es schön und wichtig, ein guter Mensch sein und gut handeln zu wollen. Dieses Bedürfnis kann aber eben ins Destruktive kippen, wenn es nicht durch ein – erwachsenes – Realitätsprinzip austariert wird. Das müsste seit dem Kontrollverlust der Grenzöffnung 2015 eigentlich allen deutlich sein.
In seinem Buch „Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren“ hat Thomas Meyer schon 2015 die These aufgestellt, dass viele Journalisten stillschweigend eine Vorliebe für eine schwarz-grüne Regierung hätten. Das würde nun zumindest einen Teil der Wut über die FDP erklären. Schwarz-Grün wäre, falls nötig mit Unterstützung der FDP, die Koalition eines saturierten Bürgertums, das an seinen Privilegien festhalten, sich aber zugleich als aufgeklärt, modern und – wenn man es nicht übertreibt – irgendwie auch als links verstehen möchte.
Die Unterstellung, dass Merkel eine heimliche Vorliebe für diese Option hatte, ist daher nicht einmal hergeholt. Schließlich sind die Grünen, ganz sachlich betrachtet, zunächst einfach der Letzte der übrig gebliebenen potenziellen Partner, den die Merkel-CDU noch nicht verschlissen hat. Zudem ergänzt sich die grüne Vorliebe für Schaufensterpolitik gut mit der Scheu der Kanzlerin vor dem offenen, sachorientierten Disput.
Tatsächlich aber würde diese Koalition die Politik der vergangenen Jahre nur verlängern, ohne neue Perspektiven zu bieten.
Merkel hatte Erfolge, sie hat sich mit bemerkenswerter Ruhe und Geschicklichkeit an der Spitze ihrer Partei gehalten, und sie hat auch in anderen Ländern ein hervorragendes Ansehen. Für die deutsche Politik aber wäre es gut, wieder erwachsener zu agieren und den Wert offener Debatten wieder zu betonen, anstatt darauf zu warten, dass eine gütige Mutter am Ende alles wieder in aller Harmonie richten wird. Die heutige Wut auf die FDP erklärt sich auch daraus, dass die Entscheidung zum Abbruch der Sondierungen diesen Prozess des erneuten Erwachsenenwerdens beschleunigt.
Die Wähler aber haben eigentlich schon demonstriert, dass Merkels Zeit vorbei ist. Je länger die CDU damit wartet, das auch zu verstehen – desto schwieriger wird die unvermeidliche Abnabelung wohl schließlich werden.
Der Beitrag erschien zuerst auf Lucas Schoppes Blog man-tau