Jungen und Bildung: Von der Lust auf Ignoranz

boy education school 335e6g8z

Offener Brief an Die Grünen

boy education school 335e6g8z

„Aller Rätsel Lösung liegt im Kontext.“
Andreas Tenzer (*1954), deutscher Philosoph und Pädagoge

Der Kontext ist wichtig. Das hat uns unsere Lehrerin schon früher eingebläut. Ein Satz wie „Bitte nehmen Sie uns aus dem Verteiler“ kann deshalb je nach Kontext mehr aussagen als nur der sachliche Wunsch, aus einem Verteiler genommen zu werden. Er kann je nach Kontext auch ein politisches Programm offenbaren, er kann ein politisches Totalversagen verdeutlichen oder er kann ausdrücken, wie weit sich die politische Elite von ihrem Souverän – dem Bürger – entfernt hat. Und ein solcher Satz kann, je nach Kontext, sogar gleichzeitig alle drei Botschaften gleichzeitig ausdrücken.

Offener Brief an MdB Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen) vom 09.04.2018

Kai Gehring ist seit Dezember 2013 Sprecher für Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik, seit 2005 ordentliches Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, seit Dezember 2013 stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss.

Doch damit nicht genug.

Er ist zudem Mitglied im Senat der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung, im Kuratorium des Deutschen Studentenwerks, im Kuratorium des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst, im Fachbeirat des Studienwerks der Heinrich-Böll-Stiftung, Mitglied der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung und im Beirat der Fernuniversität Hagen, Mitglied im Kuratorium im Kompetenzzentrum Technik, Diversity und Chancengerechtigkeit, Mitglied bei amnesty international, bei Greenpeace und im LSVD (Lesben- und Schwulenverband) e.V.

Der Brief wurde per Mail u.a. an die Mitglieder des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung geschickt.

Der Brief

Sehr geehrter Herr Gehring,

mit Ihrer Mail vom 29.1.2018 bitten Sie uns, Sie und Ihre Genossen aus unserem Newsletter des bundesweiten Jungenleseförderprojektes Jungenleseliste herauszunehmen. Es ist eine scheinbar harmlose Bitte, die man aber im Kontext sehen muss.

Sie sind grüner Bundestagsabgeordneter und seit 2005 ordentliches Mitglied im Bundestagsausschuss für  Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Sie gehören also zu den Menschen, für die die Bildungssituation von Jungen schon von Amts wegen aus verschiedenen Gründen von Interesse sein müsste. Jungen stellen heute ca. 50 % mehr Schulabbrecher, fast 20 % weniger Abiturienten, etwa 50 % mehr Sonderschüler und etwa 50 % mehr Kinder mit erheblichen Defizitbefunden bei den Schuleingangsuntersuchungen als Mädchen. Wer Gleichberechtigung, Chancengleichheit oder gar, wie Sie oft formulieren, Gleichstellung will, muss diese auch dort fordern, wo Jungen, Väter oder Männer die schlechteren Quoten aufweisen.

Trotzdem waren Sie im Jahr 2011 einer der ganz großen Gegner von Jugendministerin Schröders Antrag „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“, in denen u. a. auch explizit Jungenleseförderung gefordert wird. In Ihrer Rede zu diesem Antrag legten Sie vehement dar, dass Sie das geschlechterspezifische Bildungsgefälle zuungunsten der Jungen – den Gender Education Gap – nicht als Genderthema sehen. Gleichberechtigung messen Sie an der Frauenquote. Damit stehen Sie nicht alleine. In der Geschlechterpolitik aller Parteien endet Gender exakt dort, wo die Nachteile und die Benachteiligungen von Jungen, Vätern und Männern anfangen.

Auf gut 100 reine Mädchen MINT-Förderprojekte kommen lediglich vier Jungenleseförderprojekte und davon ist nur ein einziges Projekt von einer staatlichen Stelle initiiert, nämlich ein Flyer zur Jungenleseförderung aus Sachsen. Dieser Flyer ist also alles, was 34 Bildungs- und Jugendministerien in 18 Jahren nach der ersten PISA-Studie in Sachen Jungenleseförderung zustande gebracht haben. Und das, obwohl die erste PISA-Studie 2000 Jungenleseförderung als einer der wichtigsten bildungspolitischen Herausforderungen konstatiert hat. Eine Herausforderung, der sich die bildungspolitisch Verantwortlichen in unserem Lande bis heute nicht stellen. Im Gegenteil, sie lassen Jungen weit weniger Hilfe und Unterstützung angedeihen als Mädchen. Die Bildungsverantwortlichen fördern Kindern nicht nach individuellem Förderbedarf, sondern nach Geschlecht. Jungen, die im MINT-Bereich auch Förderung bräuchten, werden aus Gründen eines zweifelhaften politischen Programms rücksichtslos zurückgelassen.

Wir kritisieren dabei nicht Ihr Engagement für Mädchen. Viele in unserem Verein sind Eltern von Mädchen und sind froh über deren Förderung. Wir kritisieren Ihr Nichtstun für Jungen.

Wie Sie wissen, haben viele Studien in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Jungen in Schulen bei gleichen Schulleistungen schlechtere Noten bekommen als Mädchen und bei gleichen Noten seltener als Mädchen eine Empfehlung an weiterführende Schulen erhalten, z. B.

  • Hamburger LAU-Studie 1996; S. 47 ff.
  • Diefenbach, Heike (2007). Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. In: Hollstein, Walter & Matzner, Michael (Hrsg.). Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München: Reinhardt, S.101-115.
  • Maaz, Kai, Baeriswyl, Franz & Trautwein, Ulrich (2011). Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheit in der Schule. Eine Studie im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland.

Das dürfte in einem Land, in dem laut Art. 3 Abs. 3 des GG niemand (auch kein Junge) wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf, nicht vorkommen. Und wenn es vorkommt, müssten die politisch Verantwortlichen, also auch Sie, etwas dagegen unternehmen. Doch die politisch Verantwortlichen, also auch Sie, tun nichts. Sie dulden diese Benachteiligung. Die Antidiskriminierungsstelle unternimmt nichts, weil sie sich für Jungen und Bildung nicht zuständig fühlt.

Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Nach Prof. Markus Meier in „Lernen und Geschlecht heute“ (2015) sind mittlerweile mehr als ein Viertel aller jungen Männer in Deutschland funktionelle Analphabeten. Ein Zustand, der in einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt und in dem die politisch Verantwortlichen andauernd über einen angeblichen Fachkräftemangel klagen, eigentlich höchste Alarmstufe auslösen müsste. Der zunehmende Gender Education Gap und die höhere männliche Jugendarbeitslosigkeit wird aber von den politisch Verantwortlichen nicht als Problem, sondern als positive, ja sogar erfreuliche Rückmeldung einer Geschlechterpolitik gesehen, die sich auch heute trotz Gender Mainstreaming ausschließlich auf die Frauenquote reduziert. Und jeder Junge, der im Bildungssystem scheitert und arbeitslos auf der Straße landet, ist pragmatisch gesehen natürlich ein Gewinn für die Frauenquote.

Das alles betrifft nicht nur Sie und Ihre Partei. Alle politisch Verantwortlichen aller Parteien dulden diese Diskriminierung. „Positive Diskriminierung“ nennen Sie dies euphemistisch. Es ist aber Ihre Partei, die noch einen Schritt weitergeht. Ihre Partei, die sich bis heute noch sehr schwer tut, sich ihrer Verantwortung gegenüber Jungen als Opfern sexuellen Missbrauchs zu stellen, missbraucht nämlich diesen Gender Education Gap, um jungenfeindliche Biologismen zu kolportieren, indem Vertreter Ihrer Partei Jungen pauschal als das unbegabtere Geschlecht diskreditieren.

In Hamburg machen etwa doppelt so viele Jugendliche Abitur wie in Baden-Württemberg. Nach der „Logik“ der Grünen würde dies bedeuten, dass Kinder aus Baden-Württemberg nur halb so begabt seien wie die Kinder aus Hamburg. Und es machen auch weniger ausländische als deutsche Kinder Abitur. Nach Grünen-„Logik“ würde das bedeuten, dass deutsche Kinder begabter sind als ausländische. Wir finden es erschreckend, dass im Deutschen Bundestag, also dem Gremien, das über Wohl und Wehen unseres Landes wesentlich entscheidet, auch solche fachliche Inkompetenz vorhanden ist.

Dass Ihnen Entwicklungen und Erkenntnisse zur Jungenleseförderung, wie wir sie in unserem halbjährlichen Newsletter des Projektes Jungenleseliste (www.jungenleseliste.de) veröffentlichen, egal sind, überrascht uns also keineswegs. Trotzdem haben wir Sie, wie andere hochrangige bildungspolitisch Verantwortliche, mit unserem Newsletter unseres Jungenleseförderprojektes www.jungenleseliste.de regelmäßig über den Stand der Jungenbildungssituation und der Jungenleseförderung informiert. Der Grund dürfte Ihnen einleuchten: Jungenleseförderung ist ein Bildungsthema und Sie sind für Bildung zuständig. Jungenleseförderung ist auch Ihre Aufgabe. Ob Sie sich Ihrer Verantwortung gegenüber den Bildungsperspektiven von Jungen stellen oder ob Sie vor dieser Verantwortung davonlaufen, indem Sie z. B. einfach Ihre Augen vor den Fakten zur Bildungssituation von Jungen verschließen, bleibt natürlich Ihnen überlassen.

Was uns zusätzlich irritierte, ist die Art und Weise, wie Sie diese Ignoranz gegenüber der Bildungssituation von Jungen kommunizieren. Wenn Sie Bildungsförderung von Jungen nicht interessiert, hätten Sie nämlich einfach unsere zwei Newsletter pro Jahr ignorieren können. Sie hätten sie einfach löschen können. Sie hätten unsere Mailadresse in den Spamfilter setzen können. All dies hätten Sie tun können. Schon allein aus Gründen der Höflichkeit und des Respekts gegenüber unserer ehrenamtlichen Tätigkeit, in der wir in unserer Freizeit zumindest im Rahmen unserer Möglichkeiten ein kleines Stück weit die Arbeit machen, für die Sie mit unseren Steuergeldern bezahlt werden. Allein aus diesem Grunde halten wir Ihre Mail für unpassend und bürgerfeindlich.

Sie spürten aber offenbar ein tiefgründiges Verlangen, uns nochmals unmissverständlich klarzumachen, dass Sie und Ihre Genossen (m/w) die männliche Hälfte unserer Kinder nicht im Geringsten tangiert. Ihnen war es offenbar ein besonderes Anliegen, uns zu demonstrieren, wie hilflos und ohnmächtig wir Bürger als Souverän einer Demokratie mit unseren Anliegen Ihnen ausgeliefert sind: Einer scheinbar willkürlich und selbstgefällig agierenden politischen Elite von parlamentarischen Abgeordneten, die laut Artikel 38 des GG eigentlich Vertreter des ganzen Volkes, also auch Vertreter von Jungen, sein müssten.

Der offene Brief wurde zuerst veröffentlich unter www.manndat.de

+ posts