Wie man Umfrageforschung für seine Zwecke missbraucht
EU-Kommissarin Viviane Reding ist nach eigener Aussgae “zu allem bereit” [auch zum Rücktritt?]. Die ehemalige Journalistin Viviane Reding hat eine Mission: Sie will den Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten großer Unternehmen erhöhen. Nicht von sich aus, versteht sich. Politiker sind bekanntlich altruistisch und tun nichts für sich, Politikerinnen schon gar nicht. Nein, Reding hat einen Befragtenauftrag: “Dem neuesten Eurobarometer zufolge wollen drei von vier Europäern, dass Frauen per Gesetz bei gleicher Qualifikation dieselben Chancen auf Spitzenposten bekommen”.
Wie sich die Zeiten ändern. Früher waren es Wahlen und der Wählerauftrag, der von Politikern in ihrem Sinne ausgelegt wurde und mit der durch die Wahl versehenen Legitimation begründet wurde. Heute leiten Polit-Komissarinnen ihre Legitimation aus Meinungsumfragen ab, die sie vermutlich selbst in Auftrag gegeben haben, um das entsprechende Ergebnis als Legitimation präsentieren können. Starke Behauptung? Hier kommen die Belege:
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die empirische Sozialforschung in ihrer quantitativen und standardisierten Form aus den USA nach Europa kam, da hatten die Pioniere der empirischen Sozialforschung, Paul F. Lazersfeld oder Bernard Berelson, bereits erhebliche methodische Vorarbeiten geleistet. Ziel der methodischen Vorarbeiten war es, in standardisierter Form Fragen zu formulieren, die möglichst wenig an Antwort vorgaben. Ziel war es, die Meinung der Befragten zu erforschen, nicht sie vorzugeben. In Deutschland haben sich derart methodische Fragen des “Wie befragt man Menschen, ohne ihnen die Antwort bereits in den Mund zu legen” in einer Vielzahl von “Methoden-Büchern” niedergeschlagen. Z.B. Kurt Holm (1975) hat sich über rund 60 Seiten mit der Art und Weise, wie man Fragen stellt, befasst und im Rahmen seiner Ausführungen auch einen kleinen Katalog der manipulativen Fragen aufgestellt, die es zu vermeiden gilt, wenn man sich als lauterer und an die Meinung der Befragten widerspiegelnden Antworten interessierter Sozialforscher qualifizieren will. Für die folgende Analyse will ich mich auf zwei der sieben von Kurt Holm identifizierten Manipulationstechniken beschränken und meinerseits eine Technik ergänzen, an die Holm nicht gedacht hat:
- Man lenkt das Denken von Befragten durch Fragetexte in eine bestimmte Richtung, suggeriert ihnen eine Meinung.
- Man lässt offensichtliche Antwortkategorien in den Antwortvorgaben aus.
- Man stellt widersprüchliche Fragen, um sich die passende Antwort aussuchen zu können.
Framing oder: Wie stelle ich sicher, dass Befragte in die richtige Richtung gelenkt werden?
Eurobarometer 376, auf den Viviane Reding ihren “Befragtenauftrag” stützt, beginnt die Fragenbatterie, die sich mit Frauen in Führungspositionen beschäftigt, mit einer geradezu genial-subtilen Formulierung:
Derzeit haben in der Europäischen Union weniger Frauen als Männer eine Führungsposition inne. Bitte sagen Sie mir, ob Sie den folgenden Aussagen zu diesem Thema zustimmen.
Wem auch immer diese Frage eingefallen ist, er versteht sein Manipulationshandwerk. Fast unbemerkt, suggeriert er in seinem Fragetext den Befragten, ihre Meinung würde zu einem Missstand eingeholt. Die komplette suggestive Wirkung dieser Frage hängt an dem Wörtchen “derzeit”. Derzeit ist eine adverbiale Ergänzung, die sich entsprechend auf das Verb des Satzes (inne haben) bezieht und suggeriert, dass der derzeitige Zustand des Innehabens veränderungsbedürftig ist. Die Richtung der Veränderung ist ebenfalls vorgegeben, denn der Komparativ von wenig “weniger als” bezeichnet den zu verbessernden Umstand sehr deutlich. Die Frageformulierung suggeriert somit eindeutig, dass der zu verändernde Zustand darin besteht, dass weniger Frauen als Männer Führungspositionen inne haben. Damit ist der Rahmen für die weitere Befragung gesetzt. Es geht darum, die geringere Zahl von Frauen in Führungspositionen zu beseitigen. Mit diesem suggestiven Trick gelingt es den Befragern der EU ganz nebenbei, jegliche Form der Begründung als unnötig, weil offensichtlich zu etikettieren. Kaum jemand fragt sich nach einer solchen Eröffnungsfrage, warum es eigentlich mehr Frauen in Führungspositionen geben muss?
Auslassung von Antwortalternativen
Die im letzten Absatz zitierte Frage ist die Einleitung zu einer kleinen Itembatterie, die aus fünf vorgegebenen Ursachen dafür besteht, warum Frauen seltener als Männer Führungspositionen in großen Unternehmen inne haben könnten. Interessant sind an dieser Stelle nicht die Antwortalternativen, die den Befragten vorgegeben werden, interessant sind die Antwortalternativen, die den Befragten nicht vorgegeben werden, z.B.:
- Viele Frauen streben keine Führungspositionen an.
- Viele Frauen wollen sich lieber um ihre Familie kümmern.
- Viele Frauen wollen die Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen, nicht dem beruflichen Fortkommen opfern.
- Viele Frauen arbeiten lieber teilzeit und können deshalb bei Beförderungen nicht berücksichtigt werden.
Keine dieser Antwortalternativen, die sich aus einer Reihe vorhandener Forschunsergebnisse leicht hätten ableiten lassen (z.B.: Hakim 1991) wird in der Eurobarometer-Befragung gefragt. Zudem fehlt bei allen Antwortalternativen, die den Befragten vorgegeben wurden, eine Differenzierung, wie ich sie hier mit “viele” vorgenommen habe. Die Befrager des Eurobarometers stellen ihre Befragten vor eindeutige Wahlen: Entweder alle Frauen sind weniger bereit für ihre Karriere zu kämpfen als Männer oder keine Frau ist weniger bereit für ihre Karriere zu kämpfen als Männer. Derart apodiktische Setzungen mögen für ideologische Zwecke sinnvoll sein, für empirische Sozialforschung sind sie gänzlich ungeeignet.
Widersprüchliche Frageformulierungen
Mein “Spitzenreiter” unter den manipulativen Befragungsformen, Spitzenreiter deshalb, weil er sich nach meiner Beobachtung besonders häufig in sogenannten Befragungen findet, ist das Stellen zweier leicht variierter, aber widersprüchlicher Fragen oder – in anderen Worten, das offene Manipulieren der Antworten in der Weise, dass man sich aus den beiden Fragen die passende Antwort aussuchen kann. Im Eurobarometer 376 wird diese Manipulationstechnik in besonders haarsträubender Weise angewendet. Frage QE4.1 lautet:
Was ist Ihrer Meinung nach der beste Weg, um ein ausgewogeneres Verhältnis von Frauen und Männern in Aufsichtsräten von Unternehmen zu erreichen? (1) Freiwillige Maßnahmen, wie z.B. nicht verbindliche Grundsätze der Unternehmensführung und Satzungen; (2) Selbstregulierung, indem die Unternehmen sich ihre eigenen Ziele setzen; (3) Verbindliche rechliche Maßnahmen; (4) Es besteht keine Notwendigkeit, ein ausgewogeneres Verhältnis von Frauen und Männern in den Aufsichtsräten von Unternehmen zu erreichen.
Dieser Frage folgt die folgende Frage:
QE5: Einige europäische Länder (z.B. Frankreich, Spanien, die Niederlande, Italien, Belgien und Norwegen [Viele Nennungen schaffen Zustimmung, denn niemand will in der Minderheit sein]) haben bereits gesetzliche Maßnahmen ergriffen, um ein ausgewogeneres Verhältnis von Frauen und Männern in Aufsichtsräten und Unternehmen zu gewährleisten. Sind Sie für oder gegen ein solches Gesetz, unter der Voraussetzung, dass die Befähigung berücksichtigt wird und dass nicht automatisch das eine oder das andere Geschlecht bevorzugt wird? (1) voll und ganz dafür, (2) eher dafür, (3) eher dagegen, (4) voll und ganz dagegen. [Man fragt sich an dieser Stelle, ob alle Befragten, die sich in QE4.1 gegen eine gesetzliche Regelung ausgesprochen haben, hier gezwungen werden, für oder gegen eine gesetzliche Regelung Stellung zu beziehen oder ob alle, die keine gesetzliche Regelung befürworten, ausgefiltert also nicht mehr befragt wurden. Sollte ersteres der Fall sein, ist dies ein kruder Verstoß gegen die wissenschaftliche Lauterkeit (und ein Mangel an Respekt für die Befragten), ist Letzteres der Fall, dann basieren die Ergebnisse auf QE5 nicht wie Reding behauptet auf allen (befragten) Europäern, sondern lediglich auf den 26%, die sich in QE4.1 für eine gesetzliche Regelung ausgesprochen haben.]
Die erste der beiden Fragen hat zum Ergebnis, dass sich 26% der befragten Europäer für eine gesetzliche Regelung, 51% für eine der beiden freiwilligen Regelungen aussprechen, dass 8% keine Notwendigkeit sehen, ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern in Aufsichtsräten herzustellen und 15% mit “weiss nicht” antworten. Das ist eine klare Mehrheit von 59%, die keine gesetzliche Regelung als Mittel zur Durchsetzung einer Frauenquote wählen.
Die zweite Frageformulierung führt im Gegensatz dazu zu dem Ergebnis, dass 37% der Europäer von sich sagen, sie seien voll und ganz für die vorgeschlagene gesetzliche Regelung und 38% angeben, sie seien “eher dafür”. Nun eine Frage an die Leser: Welches der beiden Ergebnisse hat sich Frau Reding zu eigen gemacht, um ihren Kreuzzug für eine Frauenquote in Aufsichtsräten mit Befragtenlegitimation zu versehen? Richtig: die zweite und der Einfachheit halber hat sie die beiden Kategorien (“voll und ganz dafür” und “eher dafür”) auch gleich zusammengefasst, und so kommt es, dass angeblich “drei von vier Europäern” wollen, dass “Frauen per Gesetz bei gleicher Qualifikation dieselben Chancen auf Spitzenposten bekommen”.
Als ehemaliger Sozialforscher macht mich derart offene Manipulation und ein derart offener Missbrauch der empirischen Sozialforschung wütend. Allerdings weiß ich derzeit nicht, ob ich wütender auf Polit-Kommissarinnen wie Reding bin oder auf die schweigende Gemeinde der Sozialforscher, die aus Angst, keine Auftragsforschung für öffentliche Auftraggeber mehr durchführen zu dürfen, den Mund hält und dabei zusieht, wie ein einst nützliches Mittel zur Beförderungen wissenschaftlicher Erkenntnis durch Ideologen diskreditiert und missbraucht wird. Selbst der Eurobarometer ist einst mit dem Ziel gestartet, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Der erste Verantwortliche für den Eurobarometer, Karl-Heinz Reif, war zwar kein ausgewiesener Papst der empirischen Sozialforschung, aber immerhin Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim, so dass man annehmen kann, Kriterien der wissenschaftlichen Lauterkeit waren ihm nicht ganz unbekannt. Leider haben er und viele andere dabei zugesehen, wie die Umfrageforschung von Politikern und Ideologen aller Art gekapert wurde und nunmehr für ihre Zwecke missbraucht wird.
Der Eurobarometer ist als sogenannter Bus konzipiert, d.h. es gibt einen Kern von Fragen, die immer gestellt werden, um den herum Frageplätze gegen Bezahlung bereitgestellt werden. Sein Kern besteht aus Fragen, die seit 1973 wiederkehrend gestellt werden und u.a. die Zufriedenheit mit der demokratischen Verfassung der EU zum Gegenstand haben. Diese Fragen werden zweimal pro Jahr im Rahmen der Standard-Eurobarometer gestellt. Zudem ist es Generaldirektoraten der EU möglich, sich in den Eurobarometer einzukaufen (im Befragungsbus mitzufahren) und Fragen zu stellen, die z.B. für den entsprechenden Polit-Kommissar, der die jeweilige Generaldirektion unter sich hat, von Interesse sind. Wer hat wohl die Fragen bezahlt und gestellt, mit denen Reding nun hausieren geht? Vermutlich Ihre Generaldirektion. Deshalb und weil die Mehrheit der Sozialwissenschaftler den Mund nicht aufbringt, ist es problemlos möglich, sozialwissenschaftliche Methoden zu kapern, für die eigenen Zwecke zu missbrauchen und Befragte und Befragungsergebnisse nach Lust und Laune zu manipulieren.
Die Bereitschaft an Befragungen teilzunehmen, ist über die letzten Jahre stetig gesunken. Manche Befragungsinstitute sind bereits dazu übergegangen, ihre Befragungsteilnehmer zu bezahlen oder mit (kleinen) Geschenken bei der Stange zu halten. Möglicherweise ist es gerade der Missbrauch von Befragungen durch Politiker und Polit-Kommissare, die interepretieren, was ihnen gerade in den Kram passt, der dazu geführt hat, dass immer weniger bereit sind, als “Befragter-Legitimator” für was auch immer herzuhalten. Wie auch immer, so langsam sollte der schweigenden Mehrheit der empirischen Sozialforscher, vor allem der großen Anzahl von Professoren, die für sich in Anspruch nehmen, für das Fach zu stehen (bzw. zu schweigen), etwas zum Missbrauch ihrer Wissenschaft einfallen.
Literatur
Hakim, Catherine (1991). Grateful Slaves and Self-Made Women: Fact and Fantasy in Women’s Work Orientations. European Sociological Review 7(2): 101-121.
Holm, Kurt (1975). Die Frage. In: Holm, Kurt (Hrsg.). Die Befragung I. Tübingen: A. Francke Verlag, S.32-91.