„Philosophen verderben die Sprache, Poeten die Logik, und mit dem Menschenverstand kommt man durchs Leben nicht mehr.“ Friedrich Schiller, Böse Zeiten
„Feminismus“ bedeutet laut Definition eine sozial-juridische Bewegung, welche auf gleiche Menschen- und Bürgerrechte der Frau abzielt, und daher mit der Forderung der Vollendung realstaatlicher Anerkennung weiblicher Menschenwürde ideologisch aus dem Substrat des Humanismus und der Aufklärung erwächst. Die sozial-legale Bewegung des Feminismus war jedoch über die Epochen hinweg nicht homogen, sondern hat historisch gesehen in drei durchaus heterogenen Wellen stattgefunden.
Die erste Welle (um 1882-1945), figurativ ausgeübt durch Proteste der sogenannten Suffragetten und vieler vehementer Sozialistinnen wie Clara Zetkin, zielte auf gleiche politische Bürgerrechte für die Frauen ab, Zulassung zu Wahlen und Universitäten.1 Die zweite Welle (um 1949-1990), inspiriert durch Simone de Beauvoirs Werk „Das andere Geschlecht“, hatte die volle rechtliche und berufliche Gleichstellung der Frau zum Ziel und erhob im Zuge der Studentenproteste in den 1960er und 1970er Jahren die Parole, auch das Private sei stets politisch. Die dritte Welle (seit Mitte der 2000er Jahre) hingegen scheint kein eindeutiges politisches Ziel mehr zu haben, verwirrt sich schon sprachlich in Pluralismen, möchte Gender-Ideologien aufbrechen – oder möchte sie solche überhaupt erst herstellen? Ein kritischer Blick aus der Sicht der Philosophie auf die Rechtfertigungstraditionen des „third wave“ Feminismus.
Der Feminismus dritter Welle, maßgeblich inspiriert durch Judith Butlers Werke, hat zwei philosophische Rechtfertigungstraditionen, die ihrerseits sehr fragwürdig waren und sind: den Existenzialismus und die Sophistik. Im Folgenden werden diese beiden Rechtfertigungstraditionen kritisch beleuchtet. Der Existenzialismus ist die – in der Philosophiegeschichte eigentlich schon nicht mehr aktuelle, historisch überkommene – Tradition, die menschliche Existenz als generell undefinierten, deutungsoffenen Ausgangspunkt eines Seins anzusehen, welches sich allein durch den Willen präzisiert. Der Mensch „ist“ nicht, er „wird“, entsprechend seines Willens. Seinen Siegeszug startete der Existenzialismus mit Jean-Paul Sartres Schrift „Das Sein und das Nichts“, in der er sich zu Sätzen aufschwang wie: „Der Mensch existiert zuerst, und definiert sich danach“.2 Die humane Existenz als im Ursprung nicht gerichtetes, erst in der späteren Entfaltung durch den Willen selbst definiertes Sein war in der Entstehungszeit des Existenzialismus ein Protest vor allem gegen theologische Hardliner auch in der Philosophie, welche den Menschen in ein enges Begriffs- und Definitionskorsett zwingen wollten. Hiermit wurde die abendländische Ontologie (Lehre vom Sein) direkt auf den Kopf gestellt, die seit dem scholastischen Mittelalter von einem Essentialismus ausging, welcher behauptet, das Sein sei vorkonfiguriert und durch den Willen des Individuums nicht mehr zu verändern. Beide Richtungen, Existenzialismus und Essentialismus, werden jedoch von vernünftigen Philosophen systematisch als extreme Pole derselben Diskussion angesehen, welche sich um die Chancen und Grenzen menschlicher Willensfreiheit dreht. Hierbei finden viele heutige Denker einen ausgewogen realitätsnahen Standpunkt, welcher voraussieht, dass sich der menschliche Wille wohl dazu eignet, reale soziologische Verhältnisse umzugestalten, die keineswegs essentialistisch in Stein gemeißelt sein müssen, dass jedoch nicht alles das Sein Betreffende existentialistisch-voluntativ (willensabhängig) geändert werden kann. Als Aufbruchsbewegung war der Existenzialismus historisch gesehen sinnvoll, doch in seiner weiteren Entfaltung durch Simone de Beauvoir und Albert Camus zeichnete sich immer deutlicher ab, dass der Moralismus mit seinen Sollforderungen und im Grund sogar das Orgelgetön der Scholastiker, von dem man sich doch protestierend abheben wollte, nie wirklich überwunden wurde.
Der Feminismus dritter Welle re-animiert die tote Tradition des Existenzialismus also erneut, ohne jedoch aus deren substanziellen Unzulänglichkeiten gelernt zu haben, noch auch, deren Selbstwidersprüche zu kennen, geschweige denn, darauf eine Antwort parat zu haben. Für die Frontperson Judith Butler ist es klar, dass sich binäre Geschlechterrollen erst als patriarchales Konstrukt herausgebildet hätten und dass sich ferner männliche und weibliche Existenzen nicht biologisch-essentiell vorfänden, sondern erst existenzialistisch, genauer durch willentliche Sprechakte, überhaupt konfigurieren.3 Der Mensch ist laut Butler also nicht als Mann oder Frau definiert, sondern wird dazu gemacht – und zwar nicht, wie Simone de Beauvoir glaubte, durch die Sozialisation, sondern auch maßgeblich durch die Sprache. Diese Auffassung setzt den Existenzialismus fort, jedoch ohne eine Theoriekritik. Die Unzulänglichkeit des Existenzialismus ist, dem Hauptvertreter Jean-Paul Sartre zufolge, dass es sich um eine „postulatorische“ Philosophie handele. Postulatorisch bedeutet „fordernd, eine Forderung darstellend“. Eine postulatorische Philosophie hat nämlich nicht reale Verhältnisse zum Ursprung, sondern fiktive, welche sie in irgendeiner denkbaren Zukunft ansiedeln möchte: sie ist idealistisch-utopisch. Natürlich haben solche Denkgebäude, auch wenn man sie besser als Luftschlösser aus der Architektur des Möglichen bezeichnen würde, aus historisch-systematischen Vollständigkeitsgründen durchaus ihren Platz in der Philosophiegeschichte, und sie verbreitern die Basis des Diskursiv-Materials. Jedoch zur Lösung aktueller Fragen oder nur zur Formulierung tatsächlicher Probleme können postulatorische Philosophien nichts beitragen, da lösungsorientiertes Denken von der Empirie ausgeht und nicht von in die Zukunft projizierten Forderungen. Was Judith Butler verkennt, und mit ihr ihre Gefolgsleute, ist, dass eine generell zutiefst utopische Postulatorik keine Problemlösung darstellt, ja nicht einmal zur sachlich-realitätsnahen Problemformulierung ausreicht.
Die zweite Rechtfertigungstradition des Feminismus dritter Welle ist die Sophistik. Die „Sophisten“ waren zu Platons Zeiten Wanderlehrer, die für Geld versprachen, jeden beliebigen Bürgerssohn in Athen redegewandt und weltklug zu machen mit ihren käuflichen Lektionen vermeintlichen Wissens. Hierbei handelte es sich jedoch oft nicht um solides Wissen, am wenigsten im Dienst der Wahrheitsfindung, sondern vielmehr um rhetorische Tricks (eristische Dialektik),4 Wortsalat und Trendbegriffe, wie sie schon in der Antike als Mittel zur gezielten Verwirrung des Redegegners und zur Aufbauschung des eigenen Egos im Schwange waren. Aus diesem Grund, die wortgewaltig aber inhaltsarm auftretenden Sophisten als eitle Pfauen darzustellen, die ihr sinnfreies Rhetorik-Rad zur Selbstdarstellung schlagen, hatte Platon seinerzeit den witzigen Dialog „Protagoras“ verfasst, in dem ein Phrasendrescher gleichen Namens sich gegen Sokrates´ Technik der Wahrheitssuche zu behaupten versucht5 – und das ist ein übrigens noch immer absolut lesenswertes Buch, gerade in der heutigen Sprachverwirrung der Gender-Begriffe bar jeder Substanz.
Für Judith Butler ist nun die Sprache, mehr als die Sozialisation, das wirkende Konstitutivkriterium, welches das Geschlecht festschreibt,6 und es in gewisser Weise überhaupt erst definiert. Ein Mensch weiblicher Biologie kann laut Butler ein Mann sein, wenn er sich als solcher bezeichnet, indem die Sprache Macht über biologische Empirie erhielte. Sprache als Machtausübung über Seiendes ist jedoch nicht nur ein alter sophistischer Gedanke, der einst Protagoras antrieb, um jeden Preis Recht behalten zu wollen im Rededuell gegen Sokrates, sondern auch ein Gedanke des magischen Weltbilds, das in christlichen und hinduistischen Quellen unvermindert vorhanden ist. Dieser magische Gedanke der Identität von Wort und Signifikat, von Bezeichnung und Bezeichnetem, welcher womöglich schon vor den Buchreligionen herrschte, ist in Ost und West ähnlich: von Christus heißt es beim Apostel Johannes, er sei das ausgegangene Wort,7 und eine bekannter indischer Weisheitstext – die „Wald-Upanischade“8 – nimmt ihren Namen daher, dass man ihren Wortlaut nicht innerhalb geschlossener Räume aussprechen dürfe – so stark sei ihre magische Wirkung, dass bei leichtfertigem Aussprechen der Worte die Gegenstände im Raum sich telekinetisch bewegen würden. Diese Vorstellung, ein Wort bewirke tatsächlich Veränderungen innerhalb der physikalischen Welt, ist interkulturell eine Grundlage der Magie. In einer hinlänglich bekannten, profanen Form gehört sogar das populäre „Anfeuern“ der Lieblingsmannschaft im Fußballstadium zur Magie: das Wort ist hier nicht bloße phonetische Äußerung oder Sympathiebekundung, sondern eine eigene Entität, die dem Machtgewinn der Angesprochenen dienen soll, die ihnen gleichsam zur Seite stehen soll als unsichtbarer, aber wirksamer Mitspieler.
Butlers Sprachmagie und der Feminismus dritter Welle geht über Werkzeugtheorien der Sprache, wie sie einst Max Horckheimers und Theodor Adornos „Dialektik der Aufklärung“ verstand – Begriffe seien Instrumente, um die Wirklichkeit zu „packen“9 – hinaus und bedient den alten magisch-sophistischen Wahn, Worte seien nicht nur instrumentell (als Werkzeug), sondern auch existenziell (als ein Sein) Wirklichkeit. Das ausgesprochene Wort sei nicht nur Machtausübung durch den innewohnenden Bedeutungsgehalt, es sei gleichsam auch eine eigene Realität, die Macht verleiht, die sogar Macht ist, die ist. Kurz, Butlers Grundidee, Geschlecht entstünde nicht nur existenzialistisch durch Selbstdefinition, sondern prozessual durch sprachmagische Akte, ist eine sophistische Re-animierung der Beschwörung.
Kommen wir zur Sprache als einem symbolischen Gewaltmittel zurück, eröffnen sich gerade hier konträr zu Butlers Forschung über Gewaltfreiheit massive Widersprüche, denn die Binarität der Geschlechter, die angeblich nur durch Sprechakte konstruiert würde, enthält eine oft übersehene Gewalt des Dogmatischen. Für Foucault sind die Sophisten von großer Wichtigkeit im Hinblick auf ihre Verwendung der Sprache.10 Sprache ist Macht für den Sophisten; darüberhinaus bedeutet das gesprochene Wort hier, wie Foucault bemerkte, etwas gleichsam Materielles. Was sie aussprechen, muss nicht wahr sein im logischen Sinn, hat jedoch durch den gleichsam magischen Akt des Sprechens eine eigene Existenz. Im Extremfall glaubt ein Sophist, ihm führe tatsächlich ein Räderwerk durch den Mund, wenn er den Begriff „Wagen“ nennt, oder ein Butler-ist glaubt, vom entgegengesetzten Geschlecht zu sein, sofern er diese Selbstdefinition ausspricht. Hier geschieht, von Feministen dritter Welle unbemerkt, eine subtile Gewalt, die der temporäreren Festschreibung. Die Gleichsetzung von Begriff und Signifikat führt auch dazu, dass der Sprecher auf das, was er gesagt hat, festgelegt wird – weniger, um Argumentationsbrüche und Selbstwidersprüche zu verhindern (die Sophisten kümmerten sich nicht darum und die Queer-Aktivisten ebenfalls), sondern vielmehr, weil das Ausgesprochene als etwas galt, was wirklich ist, und worauf man als etwas Existentes sich beziehen muss. Für die Sophisten war der Logos „ein Ereignis, das ein für alle Mal stattgefunden hatte“.11 Zu sagen, was ist, sei sophistisch gesehen nicht nur Machtausübung, sondern Realitätskonstruktion und Geschichtsgründung – ein bizarres Unterfangen, welches Judith Butler und ihre männlich-weiblich-diversen Gefolgsleute zu aktualisieren versuchen.
Existenzialismus und Sophistik sind keine substanziell haltbaren Konstrukte. Der Existenzialismus ist postulatorisch, was selbst von seinen Vertretern zugegeben wurde: er stellt Soll-Forderungen auf, die nicht empirisch einlösbar sind, und ihm haftet, wie allen gegenabhängigen Bewegungen, der strikte Dogmatismus an, von dem man sich abheben wollte. Die Sophistik ihrerseits ist gar keine Philosophie: statt auf gemeinsame Wahrheitssuche zielt sie auf das billige rhetorische Übertrumpfen des Redegegners ab, welches auch durch unlautere Mittel der rhetorischen Tricks, des Wortverdrehens sowie durch eine magische Sprachverwendung entstehen darf. Beide Traditionslinien sind philosophiehistorisch überholt, und können systematisch höchstens zur „Impfung“ mit Antikörpern verfehlten Denkens genutzt werden.
Ein Feminismus der dritten Welle, der sich ideologisch aus diesen überholten und inhaltlich brüchigen philosophischen Traditionslinien speist, hat keine Grundlage, und, da es ihm am Bewusstsein seiner Widersprüche mangelt, keine Berechtigung, als aufgeklärtes Konstrukt zu gelten, das die humanistischen Ziele zum Inhalt hat, welche die ersten beiden Wellen des Feminismus inspirierten.
Fussnoten
1 Friedrich Nietzsche setzte sich in der 1887 erschienen Streitschrift „Die Genealogie der Moral“ erstmals kritisch mit dem seinerzeit unerhört neuen Begriff „Feminismus“ auseinander.
2 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Paris 1943, S. 42.
3 Vgl. Hannelore Bublitz: Judith Butler zur Einführung. 3. Auflage, Hamburg 2010, S. 23
4 Eristische Dialektik: Streitkunst, die Kunst, Recht zu behalten per fas et nefas
5 Platon, Protagoras, vgl. Michel Foucault: Die Wahrheit und ihre juridischen Formen, Paris 1975, S. 136f.
6 Judith Butler: Gender Trouble, (Dt. Das Unbehagen der Geschlechter), Frankfurt 1991
7 Joh. 1, 1-2
8 Chandogya Upanishad, hrsg. UNESCO-Sammlung repräsentativer Werke, Asiatische Reihe, Universal-Bibliothek 8723, Stuttgart 1966
9 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1987 (1944), S. 87
10 M. Foucault: Die Wahrheit.., S. 136f.
11 ebenda, S. 137