Cancel Culture ist ein „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit“, wie ein neuer Sammelband heißt. Sowohl an Hochschulen als auch im Forschungsdiskurs werden missliebige Meinungen ausgeschlossen.
Forschung und Lehre sind frei. So steht es in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes. Die Freiheit von Forschung und Lehre ist also ein grundrechtlich geschütztes und damit sehr hohes Rechtsgut. Doch stimmt das heute noch uneingeschränkt? Nach der Lektüre des von Harald Schulze-Eisentraut und Alexander Ulfig herausgegebenen Sammelbands: „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit“ mag man sich da nicht mehr so ganz sicher sein.
Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung von insgesamt zehn Essays und kurzen Aufsätzen, die von verschiedenen Autoren verfasst wurden. Der übergreifende Gedanke ist – bei aller Verschiedenheit der Artikel – die Diagnose, dass die Wissenschaftsfreiheit nicht mehr uneingeschränkt gegeben ist. Vielmehr wird von den Autoren eine sich im Wissenschaftsbetrieb immer weiter ausbreitende Cancel Culture diagnostiziert. Dabei ist gerade freie Forschung und Meinungsbildung eine der wichtigsten Errungenschaften der westlichen Zivilisation, wie die Herausgeber in der Einleitung gleich unmissverständlich verdeutlichen.
Wie genau wird die Wissenschaftsfreiheit denn nun bedroht? Dieser Frage nähern sich die Autoren auf sehr verschiedenen Wegen. Nahezu jeder Artikel ist von einem Spezialisten aus einem anderen Wissenschaftsgebiet verfasst. Was mehrere Vorteile hat. So kann man z.B. direkt in einen Artikel der eigenen Sphäre einsteigen oder sich ganz gezielt auf eine andere Sichtweise einlassen. Der Band bleibt damit zwar monothematisch, wird aber durch die Vielzahl der Annäherungen an das Thema nie langweilig. Zumal die Autoren durchaus einen weiten Bogen spannen und sich nicht einfach nur auf das Geißeln einer akademischen Cancel Culture beschränken. Man hat direkt das Gefühl, an der (von den Autoren ja eindeutig gewünschten) Debatte teilzunehmen.
Dabei beschränken sich die Artikel nicht auf rein akademische Ausführungen. So schildet z.B. der Politikwissenschaftler Martin Wagner in einer kurzen Revue seiner akademischen Karriere, wie sich das Klima im Wissenschaftsbetrieb geändert hat. War der Vorgesetzte in seiner ersten akademischen Anstellung noch jemand der „für alle am Lehrstuhl eine Schutzglocke geschaffen hatte, unter der wir im besten humboldtschen Sinne gedeihen konnten“, änderte sich das bald. So wurde z.B. einem renommierten Gastwissenschaftler aus den Niederlanden ein Visiting Fellowship (in etwa ein Forschungsaufenthalt) verweigert, da dessen erster Vortrag einigen linken Studentengruppierungen nicht gepasst hatte.
Aber auch die analytischen Texte haben ihren Reiz. Hier dürfen natürlich das immer noch aktuelle Thema Corona sowie der Dauerbrenner Klimawandel nicht fehlen. Ersterem widmet sich der Philosoph Michael Esfeld. Die Ausführungen zu Nutzen und Schaden der Coronapolitik sind dabei mehr oder minder bekannt. Weiter reichen seine Ausführungen zur Wissenschaft an sich. So macht Elsfeld deutlich, dass es die Aufgabe von Wissenschaft (hier insbesondere von Naturwissenschaft) ist, Erkenntnisse zu liefen, nicht aber vorzuschreiben, was damit zu tun ist. Obwohl es, wie er schreibt „[…] immer mal wieder Wissenschaftlicher gab, die meinen, nicht nur Tatsachenwissen zu haben, sondern auch ein Wissen, dass sie berechtigt, Politik und Gesellschaft normative Vorgaben zu machen […]“.
Genau diesen Zustand diagnostiziert Elsfeld bei der Coronapolitik, die lange dem medizinischen Pendant des „Follow the Science“-Slogans der Klimaschützer hinterhergelaufen ist. Zurückkommend auf seine ursprüngliche Definition von Wissenschaft bemängelt Elsfeld, dass die Politik hier allerdings nur dem Teil der Wissenschaft gefolgt ist, der ihr ins Konzept passte. Wissenschaftler, die andere (begründete) Meinungen vertreten haben, wurden nicht gehört. Doch das ist für Elsfeld ein deutlicher Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, denn diese lebt ja gerade vom freien Austausch der Meinungen.
Ähnliche Probleme zeigt der Chemiker Fritz Vahrenholt beim Thema Klimawandel auf. Vahrenholt selbst war als SPD-Politiker lange „ein gefeierter Repräsentant der Umweltbewegung“, bis er in einem Buch einfach auf ein paar Fakten des Klimawandels hingewiesen hatte, die unter vielen Wissenschaftlern diskutiert werden, aber nicht der aktuellen Erzählung vom hundertprozentig menschengemachten Klimawandel entsprechen. Wohlgemerkt, Vahrenholt leugnet mit keiner Silbe den Klimawandel an sich. Doch statt ihn als Bereicherung der Debatte willkommen zu heißen, wurden seine Auftritte im Fernsehen abgesagt und z.B. sein „Wikipedia-Eintrag von grünen Aktivisten verunstaltet“. Vahrenholt zeigt im weiteren Verlauf seines Artikels dann kurz und knapp auf, dass z.B. der allgemein propagierte 97-Prozent-Konsens unter Wissenschaftlern über den menschengemachten Klimawandel statistisch nicht zu halten ist. Außerdem verweist er auf Probleme bei den Modellrechnungen des IPCC.
Neben diesen bekannten Themen der Cancel Culture werden aber auch Bereiche beleuchtet, die kaum in der öffentlichen Debatte stattfinden. So schildert der Historiker David Engels, wie das bisher allgemein akzeptierte Narrativ vom Untergang des Römischen Reichs durch die Völkerwanderung aufgrund aktueller politischer Überzeugungen in Frage gestellt wird. Vielmehr soll es „durch das Paradigma von Kontinuität, Transformation, Kulturtransfer und Interkulturalität“ ersetzt werden. Wobei er sich nicht grundsätzlich gegen eine Neubewertung von vergangenen Ereignissen ausspricht. In diesem konkreten Fall aber zeigt er deutlich, dass historische Quellen ein anderes Bild zeichnen und der Versuch einer solchen Neubewertung daher nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch getrieben ist.
Fazit: Ein sehr gelungener Sammelband, der das Problem der zunehmenden Einschränkungen im Wissenschaftsbetrieb von vielen Seiten beleuchtet. Dabei sind die Artikel nie rein auf das Beschreiben von Cancel Culture fixiert, sondern spannen einen weiten Bogen, der dem Leser den einen oder anderen Erkenntnisgewinn bringt.
Harald Schulze-Eisentraut/Alexander Ulfig (Hg.), Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können, FinanzBuch Verlag (18. Okt. 2022).
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