Zuerst erschienen auf Sciencefiles.org
Moralische Erwägungen sind in modernen Gesellschaften öffentlich. Öffentliche Agenten geben moralisch Wünschenswertes vor und versuchen, durch die Setzung des “moralisch Wünschenswerten” das Verhalten von Ihnen und mir zu beeinflussen, zu lenken, in die richtige Richtung versteht sich. Entsprechend ist der öffentliche Raum gefüllt mit moralisch wünschenswerten Darbietungen. Der Versuch, durch die Protegierung moralisch wünschenswerter Verhaltens im öffentlichen Raum, die gesellschaftliche Wirklichkeit zum (vermeintlich) Besseren zu verändern, kann jedoch nicht gelingen. Damit gibt es ein logisches und – wie eine neue Untersuchung von Mazar und Zhong (2012) zeigt, ein empirisches Problem.
Das logische Problem
In Kindergarten und Schule steht die Lehre emotionaler und sozialer Intelligenz auf dem Programm. Darunter ist nichts anderes zu verstehen als die Darbietung von Verhaltensweisen, die als gesellschaftlich wünschenswert betrachtet werden. Und daran scheint auf den ersten Blick ja auch nichts Verwerfliches zu sein. Wer würde sich schon hinstellen und behaupten, die Verurteilung delinquenten Verhaltens, die Aufrechterhaltung von Regeln des sozialen Umgangs und die Vermittlung von Respekt vor dem Eigentum anderer sei nicht wünschenswert? Bereits Thomas Hobbes hat im 17. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass Gesellschaften nicht überleben können, wenn sie sich nicht auf einen Korpus von Regeln einigen, die die Mehrzahl der Mitglieder der Gesellschaft einhält und deren Nichteinhaltung mit negativen Sanktionen verbunden ist. Allerdings hat Hobbes die Einhaltung von Regeln in keiner Weise mit “Moral” oder moralisch Wünschenswertem verbunden. Für ihn war es eine Frage der Vernunft, denn nur die Einhaltung bestimmter Regeln und damit verbunden die Abgabe individueller Freiheiten gewährleistet die Stabilität einer Gesellschaft, die wiederum Mittel zum Zweck ist, der darin besteht, Individuen ein Leben in (relativer) Sicherheit zu ermöglichen und sie darüber hinaus in die Lage zu versetzen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten voll umfänglich zum eigenen und zum Nutzen anderer einzusetzen.
Diese Zusammenhänge, namentlich dass gesellschaftliche Regeln ein Mittel zum Zweck darstellen und dass dieser Zweck letztlich in der Gewährleistung einer weitgehend freien Entfaltung von Individuen besteht, sowie der Zusammenhang, dass mit jeder Regel ein Stück individueller Freiheit verloren geht, scheint in “modernen” Gesellschaften in Vergessenheit geraten zu sein. In “modernen” Gesellschaften dienen Regeln nicht nur nicht mehr dem Zweck, möglichst große individuelle Freiheit zu gewährleisten – im Gegenteil – sie sind Ausdruck einer hegemonialen Moral, die nur einen richtigen Weg zum Leben kennt, den es durchzusetzen gilt.
In diesem Sinne fühlen sich Regierungen berufen, ihre Bevölkerung mit der “moralisch wünschenswerten” Organspende zu penetrieren, sie proklamieren den richtigen Lebensstil, in dem sie Abweichungen stärker besteuern, sie geben das moralisch wünschenswerte Gesundheitsverhalten vor, und sie stellen Kriterien bereit, damit sich Konsumenten für moralisch wünschenswerte Produkte entscheiden. Dem entsprechend differenziert sich die Bevölkerung “moderner” Gesellschaften entlang moralischer Kriterien. Organspender, die nicht verstehen können, warum man diesen Dienst an seinem Nächsten nicht auf sich nehmen will, grenzen sich von Nicht-Organspendern ab. Kinderbesitzer, die mit ihrem Nachwuchs nicht nur eigene Freude verbinden, sondern darüber hinaus gesellschaftliche Bedeutung beanspruchen, weil sie z.B. vermeintlich neue Beitragszahler für das Rentensystem produziert haben, können gar nicht verstehen, dass Kinderlose sich nicht an der “moralisch wünschenswerten” Fortpflanzung beteiligen. Nichtraucher sind entsetzt über Raucher, die, obwohl Rauchen doch so schädlich ist, nicht davon ablassen wollen, und ein besonders intensiv beackertes Feld hegemonialer Moral ist das Thema Umweltschutz. Denn hier geht es um die “Sicherung der Schöpfung”, der Lebensgrundlagen der “nächsten Generationen”, um “Nachhaltigkeit” etwas konkreter um eine “umweltneutrale Lebensweise” und noch etwas konkreter darum, Verbraucher von nicht umweltfreundlichen Produkten abzuschrecken, sie zum Kauf von grünen Produkten zu bewegen.
Moralisch Wünschenswertes hat eine unglaubliche Sog-Wirkung auf eine Vielzahl von Personen, die bei der Durchsetzung von moralisch Wünschenswertem gerne beteiligt sein wollen, entweder, weil sie sich durch die Propagierung eines “grünen Marketings” oder den Verkauf von chemisch unbehandelten Miniaturäpfeln einen finanziellen Vorteil versprechen oder weil sie sich durch moralisch wünschenswertes Verhalten in einer moralischen Avantgarde in einer anderen überlegenen moralischen Position wähnen. Aber, wie immer, wenn die krude Realität des täglichen Lebens in die Welt der (moralischen) Vorstellungen einbricht, entpuppen sich die Dinge als komplexer als gedacht.
U.a. Soziologen und Sozialpsychologen haben darauf verwiesen, dass Handlungsentscheidungen immer unter mehr oder weniger großer Unsicherheit getroffen werden. Man weiß schlicht nicht, ob das mit der Entscheidung erhoffte Ergebnis eintrifft, und man weiß auch nicht, ob nur das erhoffte Ergebnis eintrifft. Letzteres beschreibt die unbeabsichtigten Folgen des eigenen Handelns, die man, weil sie vor der Handlungsentscheidung nicht bekannt sind, auch nicht ausschließen kann. Unbeabsichtigte Folgen durchziehen das menschliche Leben, und entsprechend kommen sie auch bei moralisch Wünschenswertem an und haben – wie unten anhand einer neuen Studie gezeigt werden wird – einen unerwartet negativen Effekt auf die hegemoniale Moral, einen perversen Effekt, wie Raimond Boudon dies genannt hat.
Das empirische Problem
Wir erwarten, dass moralisch wünschenswertes Verhalten sich positiv auf “die Gesellschaft” auswirkt oder doch zumindest für Teile der Gesellschaft einen (finanziellen) Nutzen hat. Es ist diese Erwartung, die moralisch Wünscheswertes legimiert. So wird erwartet, dass Menschen, die sich gesund ernähren, die Krankenversicherung nicht so stark belasten, ihrer Arbeit ununterbrochen nachgehen können, entsprechend höhere Steuern entrichten als kranke Steuerzahler und somit mehr Mittel bereitstellen, die von der Regierung an ihre Protegées umverteilt werden können, kurz: dass sie für “die Gesellschaft” nützlich sind. “Nachhaltiger” Konsum und der Kauf grüner Produkte soll die Umwelt entlasten, die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen sichern usw. , und nachhaltiger Konsum führt bei manchen dazu, dass sie eine morlische Spitzenstellung für sich reklamieren, von der aus sie auf die anderen, moralisch nicht so Vorangeschrittenen herunterblicken können. Und, in Bestätigung der oben aufgestellten These von der Differenzierung durch moralische Exzellenz, findet SINUS in seinen Milieus bereits das Milieu der “Sozialökologischen” , die sich vornehmlich durch vermeintlich moralisch wünschenswertes Verhalten von anderen differenzieren wollen. Vermeintlich deshalb, weil das Sonnen in moralischer Exzellenz sich mit einem perversen Effekt verbindet, den Mazar und Zhong (2010) beschrieben haben, und der in der internationalen Forschung unter dem Begriff “licensing effect” diskutiert wird [zum licensing effect siehe unten].
In einer Reihe von einfallsreichen und methodisch sauberen Experimenten [Wer sich für den Aufbau der wirklich einfallsreichen und sauber modellierten Experimente interessiert, dem sei die Lektüre des Beitrags von Mazar und Zhong empfohlen. Ich halte die Experimente von Mazar und Zhong für ein Musterbeispiel dafür, wie man reliable und valide Ergebnisse unter klar kontrollierten Bedingungen erreichen kann.] haben Mazar und Zhong gezeigt, dass Menschen, die gerade einen Punkt moralischer Exzellenz erreicht haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, daraus eine Rechtfertigung für moralisch weniger wünschenswertes Verhalten, wie krude Vorteilsnahme, Betrug und Diebstahl ableiten. Konkret haben die Autoren untersucht, wie sich der Kauf grüner Produkte auf das Verhalten der entsprechenden Käufer auswirkt. Das Ergebnis der Experimente von Mazar und Zhong lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Probanden, die gerade ein grünes oder grüne Produkte erworben hatten, dessen – wie Mazar und Zhong es formulieren “moral self” einen “boost from a good deed” erhalten hatte, zeigten im Vergleich zu Probanden, die ein konventionelles Produkt gekauft und den entsprechenden “moral boost” nicht erhalten haben, eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, andere zu übervorteilen, zu betrügen und zu stehlen. Entsprechend kommen die Autoren zu folgendem Ergebnis: “… purchasing green products may license indulgence in self-interest and unethical behavior” (Mazar & Zhong, 2010, S.497).
Dieses Ergebnis bringt die hegemoniale Moral “moderner” Gesellschaften in ein Dilemma. Werden Menschen dazu “bewegt”, sich in der als moralisch wünschenswert vorgegebenen Weise zu verhalten, dann kommt das dicke Ende in der Weise nach, dass einige sich zwar im vorgegeben Feld nunmehr moralisch verhalten, daraus aber eine Rechtfertigung ableiten, sich in einem anderen Feld unmoralisch zu verhalten. Was tun? Grüne Produkte mit einer Aufschrift versehen: Der Kauf dieses Produkts kann eine Anklage wegen Betrugs oder Diebstahl mit sich bringen”? Oder: Aufklärungsarbeit leisten, z.B. in verpflichtenden Seminaren an Volkshochschulen für alle potentiellen Käufer grüner Produkte unter dem Titel: “grüne Produkte kaufen und doch ehrlich bleiben”? Und neben diesen präventiven Maßnahmen muss natürlich auch eine Sorge um die stattfinden, die bereits – vielleicht sogar rückfällige grüne Produkte kaufende Betrüger sind, z.B. in Selbsthilfegruppen: “Anonyme Nachhaltige” oder so?
Zwar ist die beschriebene Vorgehensweise das beschriebene Dilemma zu lösen in einer Reihe von Feldern zu finden (man denke nur an delinquente Jugendlich und den lukrativen Resozialisierungsmarkt, der sie umgibt), doch ist diese Vorgehensweise offensichtlich nicht die Lösung des Problems. Offensichtlich kann hegemoniale Moral Menschen nur bedingt zum “Besseren” erziehen und hat da ihre Grenzen, wo sich Menschen nicht von sich aus zu moralischem Verhalten angehalten fühlen, sondern sich moralisch verhalten um einem Verhaltensanspruch gerecht zu werden, der von außen an sie heran getragen wird. Anders formuliert: Die beabsichtigte Manipulation durch hegemoniale Moral ist ein Ding der Unmöglichkeit, da sich Menschen nur dauerhaft an Verhaltensmaßstäbe halten, die sie sich selbst gesetzt haben. Hegemoniale Moral führt also in den meisten Fällen zu einem Verdrängungsprozess, bei dem moralisch Unerwünschtes Verhalten aus einem Bereich ausgeschlossen werden kann, nur um in einem anderen Bereich aufzutauchen.
Anmerkungen
Licensing effect beschreibt das in der letzten Zeit häufiger untersuchte Phänomen, dass Menschen eine “moralische Bestätigung”, die sie z.B. durch eine als positiv moralisch bewertete Tat erhalten haben, zum Anlass nehmen, um daraus die Berechtigung für eine moralisch als negativ bewertete Tat zu legitimieren. So haben Studien in diesem Feld gezeigt, dass Probanden, die für eine humanitäre Handlung gelobt wurden, weniger zu spenden bereit waren, als Probanden, die nicht gelobt wurden (Sachdeva, Iliev & Medin, 2009).
Experimente stellen den Königsweg der empirischen Forschung dar, denn sie erlauben es, Verhalten unter kontrollierten Bedingungen zu messen und das Verhalten einer Gruppe von Probanden, die einem Stimulus ausgesetzt sind, mit dem Verhalten einer anderen Gruppe von Probanden zu vergleichen, die dem entsprechenden Stimulus nicht ausgesetzt sind. So erhielten Probanden in einem Experiment von Mazar und Zhong eine Aufgabe, durch deren wiederholtes richtiges Lösen sie Punkte erzielen konnten, die am Ende des Experiments in Geld umgerechnet wurden. Die entsprechende Summe des erzielten Gewinns konnten sich die Probanden dann selbst und ohne dabei beobachtet zu werden, aus einer Kasse entnehmen. Dabei zeigte sich, dass Probanden, die gerade einen “moral boost” erhalten hatten, häufiger mehr entnahmen als ihnen zustand (also stahlen) als Probanden, die diesen “moral boost” nicht erhalten hatten. Da die Probanden zufällig zu den beiden experimentellen Situationen (mit und ohne moral boost) zugeordnet wurden, kann ausgeschlossen werden, dass dieses Ergebnis ein Selektionseffekt ist.
Literatur
- Mazar, Nina & Zhong, Chen-Bo (2010). Do Green Products Make Us Better People? Psychological Science 21(4): 494-498.
- Sachdeva, Sonya, Illiev, Rumen & Medin, Douglas L. (2009). Sinning Saints and Saintly Sinners: The Paradox of Moral Self-Regulation. Psychological Science 20(4): 523-528.