Es fängt gut an. Ich mag die Leute, die hier vorübergehen, sie sind mir auf Anhieb sympathisch. Ich sitze etwa eine Stunde lang in Hanoi auf einer Bank am Hoan-Kiem-See – dem See des zurückgegebenen Schwertes – und gucke sie mir einfach nur an: junge Familien, die heiter und entspannt wirken und sich zwanglos berühren.
Es liegt eine Stimmung in der Luft wie an einem Urlaubsort. Na, gut. Es ist ein zufälliger Blick, ein subjektiver Eindruck. Doch ich bin nicht allein damit. Auch Erich Wulff hat das so erlebt und beschreibt es in seinem Buch „Vietnamesische Versöhnung: Tagebuch einer Vietnam – Reise 2008 zu Buddhas und Ho Chi Minhs Geburtstag“.
Er kennt den Unterschied. Er, der lange an der Universität in Hué lehrte, hatte auch ganz andere Stimmungen erlebt: Da trafen sich Paare am See, die noch mal ausgehen wollten, die sich verabschiedeten – und vielleicht nie wieder sehen würden.
Vietnam hat den Krieg überstanden. Die Familie hat den Kommunismus überstanden. Vor jedem Haus – und auf jedem Schiff – sieht man eine rote Fahne, die ein Bekenntnis ablegt zu der großen Zugehörigkeit zum vereinten Vietnam. Doch auch die kleine Zugehörigkeit zur Familie ist stark. In Vietnam gibt es beides. Einen großen Zusammenhalt und einen kleinen.
Einmal hat sich ein Freund von mir, der die Sprache gelernt und sich in Hué niedergelassen hat, in eines der kleinen Cafés auf einen der kleinen Plastikstühle gesetzt und sich einen Kaffee mit süßer Kondensmilch bringen lassen und erst beim Bezahlen gemerkt, dass er gar nicht in einem Café war, sondern bei Leuten, die da wohnten und die – so wie alle anderen auch – ihre Stühle nach draußen gestellt hatten. Das private Leben mischt sich unmerklich mit dem öffentlichen.
Ein Bürgersteig ist nicht zum Flanieren für „Bürger“ gedacht. Er ist das „missing link“ zwischen außen und innen. Wer hier spazieren gehen will, muss sich auf einen Hindernislauf einstellen, auf ein Gedrängel zwischen Verkaufsständen und geparkten Motorrädern, auf denen die Vietnamesen morgens ihre Gymnastik machen und die sie am Mittag als Sofa für einen Schläfchen nutzen.
Man hat den Eindruck, als stünden die Türen grundsätzlich offen, als ginge es ständig rein und raus, als schüttelten die Ventilatoren unablässig ihre Köpfe, um den frischen Lufthauch hinein- und wieder herauszupusten: Straßen, Gärten und Reisfelder gehen ohne Schwelle in die Privatwohnung über. Wenn es doch Treppenstufen gibt, dann gibt es auch kleine Rampen, damit das Motorrad bis in die Küche rollen kann. Und so stehen die Motorräder mit an der Bar, sie warten im Frisörsalon und übernachten in Schaufenstern von Schuhgeschäften. Ein Motorrad gehört mit zu einer möglichst kinderreichen Familie. Es passen allerdings nicht mehr als drei Kinder auf einen Motorroller, zugelassen sind nur zwei plus Eltern, doch solche Regeln werden eher als Vorschläge angesehen; es wird auch schon mal ein Schwein auf dem Motorrad transportiert.
Ab dem dritten Kind wird es teuer. Dann muss wie zur Strafe mehr Schulgeld bezahlt werden, den Beamten wird sogar das Gehalt gekürzt. Die Geburtenregelung ist streng, wenn auch nicht so drastisch wie beim großen Nachbarn China; da fehlt es nun aufgrund der Einkindpolitik vor allem an Mädchen.
Die Verständigung ist schwierig, aber die freundliche Frau versucht es, so gut sie kann. Sie will mir etwas mitteilen und legt die Hand aufs Herz: die Chinesen, will sie mir sagen, haben kein Herz. Sie fallen ins Land ein und rauben Mädchen. Den Chinesen – das kriegt man schnell mit – wird alles erdenklich Schlechte nachgesagt. Dass sie gezielt Mädchen entführen, höre ich mehrmals, so dass ich geneigt bin, es nicht als bloße Räuberpistole abzutun.
Die junge Vietnamesin ist begehrt, sie ist eine „Traumfrau“. Sie ist ein beliebtes Motiv auf Postkarten und Umhängetaschen. Ich habe mir schließlich auch eine zarte Vietnamesin gekauft – als Lesezeichen. Junge Frauen fehlen inzwischen auch hier. Es gibt – wie in China – einen Überschuss an Jungs. Allerdings werden die Jungs ebenfalls gebraucht, sie übernehmen die Verantwortung für den Kontakt mit den Ahnen und führen Regie bei der Aufbereitung von Opfergaben. Sie ernähren die Familie und sorgen für ihr Wohlergehen. Der Sozialismus tut es nicht. Zwar haben sie in Vietnam – wie in Cuba – versucht, eine kostenlose Krankenversorgung einzuführen, doch die konnten sie nicht aufrechterhalten. Es gibt auch keine Altersversorgung. Die gibt es lediglich für die „Heldinnen des Krieges“, für Frauen also, die ihre Männer oder Söhne, von denen sie sonst versorgt würden, verloren haben. Der Staat bietet vor allem ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Sozialleistungen erbringt die Familie.
Nicht nur Chinesen, auch Amerikaner schwärmen von einer vietnamesischen Frau. Er jedenfalls. Er ist Maler und sagt als erstes, dass eine Frau aus Vietnam schon immer sein Traum gewesen sei. Er kommt aus Cleveland, Ohio, er ist knapp über sechzig und stellt uns stolz seine Frau vor, eine Vietnamesin, Anfang zwanzig, schwanger. Sie spricht kein Englisch. Den beiden steht nun ein jahrelanger Papierkrieg bevor, eh die junge Frau nach Amerika ausreisen und da mit ihm ein „Familienleben in der Fremde“ führen kann.
Amerikaner sind erstaunlicherweise gern gesehen. Manche reisen mit ihren Kindern in die demilitarisierte Zone und führen die Lokalitäten vor, an denen sie einst gekämpft haben, andere kommen und wollen etwas wiedergutmachen. Das Politische ist die eine Seite. Das Private eine andere. Politisch haben die Amerikaner ein Verbrechen an den Vietnamesen begangen, sie sprechen selber offen von einem tragischen Fehler, privat helfen viele Amerikaner und unterstützen das neue Vietnam.
Georg W. Bush ist im Jahre 2006 wie ein Freund empfangen worden. Im Unterschied zu seinem vorangegangenen Besuch in Jarkata gab es in Hanoi keine Proteste. Er besuchte einen Gottesdienst und stieg im besten Hotel der Stadt ab – nicht im „Hanoi Hilton“, so nannten die Amerikaner in bitterer Ironie das Militärgefängnis –, er logierte, wie schon Charlie Chaplin, Graham Green und Jaques Chirac vor ihm im Hotel Metropole. Am selben Ort – wenn auch zu anderer Zeit – las Lea Rosh auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus den Gefängnistagebüchern von Rosa Luxemburg. Kommunismus und Kapitalismus finden hier nicht nur auf engem, sondern sogar im selben Raum statt. In Vietnam geht das. Konfuzius macht es möglich. Und ein Buddhismus, der den „happy Buddha“ verehrt, der auf einem dicken Geldsack sitzt und grinsend den Wohlstand herbeiwinkt. Geld ist keine Schande. Das Geld bleibt nach Möglichkeit in der Familie.
Mit dem Namen „Tet“ verbinden wir die Tet-Offensive, die letztlich die Wende im Krieg brachte. Sie fand – völlig unerwartet – just an diesem Tet-Fest statt, dem traditionellen Neujahrsfest, zu dem Kinder neu eingekleidet und alte Schulden beglichen werden. Das Tet-Fest ist noch mehr, es ist ein Familienfest. Die Familien kommen aus allen Teilen des Landes zusammen, auch wenn ihnen eine lästige Bürokratie, die verlangt, alle Reisen anzumelden und zu dokumentieren, das Zusammenkommen erschwert. Alle kommen. Nun geht es. Als das Land noch geteilt war, wurde die Trennung, die in Vietnam viel gemeiner war als bei uns, gerade beim Tet-Fest schmerzlich empfunden. Nun ist es ein reines Freudenfest. Nun können sie alle zusammenkommen und können ein paar Tage unter sich sein. Wer nicht zur Familie gehört, darf in der Zeit das Haus nicht betreten.
Für die Frauen bedeutet das Tet-Fest: kochen, kochen, kochen. Für die Männer: zahlen, zahlen, zahlen. Sie besorgen sich möglichst neue Geldscheine, die wie frisch gebügelt wirken, so dass die Banken, die gar nicht so viel neues Geld vorrätig haben, in Verlegenheit kommen, und dann beschenken sie die Kinder mit Geldpaketen. Später werden die dann für die Alten sorgen. Das tun sie hoffentlich gerne. Sie müssen es nämlich lange tun. Man wünscht sich beim Tet-Fest ein langes Leben. Vietnam scheint ein Land zu sein, in dem das Wünschen noch hilft. Die Lebenserwartung ist annähernd so hoch wie bei uns – und das bei einem Bruchteil der Kosten, die der Staat für das Gesundheitswesen aufwendet.
Schon in der Sprache zeigt sich die Verbundenheit zur Familie. Die korrekte Anrede unter Ehepaaren lautet nicht etwa „Schnuckiputzi“, „Schatzi“, „Bärchen“ oder „Hasilein“, sondern „meine kleine Schwester“ und „mein großer Bruder“. Ein Onkel ist zwar nur ein entfernter Verwandter, aber er gehört auch dazu. Onkel Ho, wie man Ho Chi Minh nennt, gehört also zur Familie. Dafür gehört ein Haustier wie etwa ein Hund nicht dazu. Hunde werden gegessen.
Sie haben ansonsten keinen Wert. Das zeigt auch die Fabel von der klugen Frau, die ihrem törichten Ehemann eine Lektion erteilen will. Dieser Mann hat einen armen Bruder, den er jedoch nicht unterstützt, er gibt sein Geld lieber für Saufgelage mit seinen Freunden aus. So kann das nicht weitergehen. Also erschlägt die Frau einen Hund und wickelt den in ein Tuch. Dann erzählt sie ihrem Mann, ihr wäre ein furchtbares Missgeschick unterlaufen, sie hätte versehentlich ein Kind getötet und müsse das nun heimlich im Garten vergraben. Das soll er tun. Dazu benötigt er tatkräftige Hilfe (das ist eine Schwachstelle, volkstümliche Geschichten dieser Art haben oft eine kleine Macke. Denn wieso, so fragt man sich, kann er nicht alleine ein Loch graben? Wie auch immer …). Der Mann bittet seine Freunde um Mitarbeit, die lehnen alle ab. Nur der arme Bruder hilft ihm in der Not. Die Freunde verklagen den vermeintlichen Mordgesellen am nächsten Tag in der Hoffnung, dafür eine Prämie zu kriegen. Als der Mandarin kommt und keine Kinderleiche, sondern nur einen toten Hund exhumiert, sind die Freunde blamiert und der törichte Ehemann erkennt endlich den wahren Wert der Familie.
Die Überwachung, die allgegenwärtig ist, bezieht sich zuallererst auf das Familienleben. Die Vietnamesen sind zutraulich und neugierig. Zuerst wollen sie wissen, wie viele Kinder man hat. Der erwähnte Freund kann nur deshalb in guter Nachbarschaft mit seiner Freundin in einem Haus zusammenleben, weil alle denken, dass sie schon lange verheiratet sind. Doch sie geben keine Ruhe, sie fragen weiter. Wie viele Kinder haben sie denn nun? Schließlich hat sich das seltsame Paar aus Deutschland zwei Töchter ausgedacht, die in Europa studieren und deshalb nur selten zu Hause sind. Zufrieden waren die Nachbarn immer noch nicht. Sie wollten wissen, wie die Kinder heißen. Sie wollten Fotos sehen. Zum „Glück“ war ihnen gerade der Computer geklaut worden mit all den Fotos auf der Festplatte.
Das Frauenmuseum in Hanoi ist vermutlich ein Ärgernis für eine Feministin aus dem weißen Westen. Es zeigt die „Frau in der Familie“, die „Frau bei Hochzeitsfeiern“ und die „Frau mit Kindern“. Das ist immer noch so. Es gibt kein anderes Frauenbild. Ich bin mit Mingh Mingh hier. Sie heißt eigentlich nur Mingh, aber die Verdoppellung verleiht ihrem Namen ein gewisses Südsee-Flair. Nicht nötig. Sie ist auch so schon bezaubernd. Sie hat einen Motorradhelm mit einer kleinen Ausbuchtung für die Steckfrisur und ein Lacoste-Krokodil auf ihrem Mundschutz. Sie hat mich für 300.000 Dong auf ihrem Motorrad mit zum Frauenmuseum genommen und zeigt mir in der Abteilung „Mode“, was ihr persönlich am besten gefällt. Sie will später auch Kinder haben, am liebsten drei: zwei Jungen, ein Mädchen. Sie mag mich. Sagt sie. Ich mag sie auch. Bis zu dem Moment, als sie will, dass ich ihr Ohrringe kaufe.
Ehe ich mir nun überlege, was ich schlechter und was ich noch schlechter finde, möchte ich noch etwas zu unserem Mann aus Cleveland, Ohio sagen: Er ist kein Sextourist. Dafür ist Vietnam sowieso nicht die erste Adresse. Er will eine Familie. Er hatte schon mal eine in Cleveland, Ohio, doch seine geschiedene Frau verweigert ihm den Umgang mit den Kindern. Nun soll ihm seine Traumfrau aus Vietnam ein zweites Glück bescheren.
Auch Mingh Mingh ist nicht eine von denen. Sie bietet mir keine „Lady-Massage mit happy ending“ an, keine „Massage Bum!“ Es geht nur um die Randbereiche von Sex. Das Zentrum der Sehnsucht ist die Familie. Doch ich bin nicht ihr reicher Onkel, ich gehöre nicht dazu. Einige echte Onkel hat sie bestimmt, und ein Bild von Onkel Ho hängt, wie sie mir erzählt hat, in ihrem Elternhaus.
Vietnam ist voller Sehnsuchtsbilder aus der Kindheit, als die Familie noch eine Selbstverständlichkeit war. Wenn man mit dem Nachtzug, der sich langsam aus der Stadt heraus schleicht und dicht an den gardinenlosen Fenstern vorbeifährt, und dabei Blicke auf das Privatleben erhascht und sieht, wie sie da auf der Erde rund um das Fernsehgerät hocken oder in Hängematten schaukeln, wird einem wehmütig. Immerhin kann man hier, so wie das früher auch bei uns möglich war, beim Zugfenster die Scheibe nach unten schieben. So können wir unsere Köpfe in den lauen Fahrtwind hängen und können gucken. Gucken und gucken.
Wir sehen uns als Kinder, die in übergroßen Puppenhäusern Familie spielen und später, wenn sie groß sind, eine richtige Familie haben wollen. Die Plastikteller sind nur Spielzeug. Die Stäbchen kleine Äste. Die Millionenbeträge Dong wirken so, als wäre das nicht ernst gemeint, als wäre es nur ein Monopoli-Spiel. Man kommt sich vor wie in einem Montessori-Kindergarten. Maria Montessori wollte die große Welt auf die Maße der Kinder zuschneiden, in ihrem Heim wurden die Türklinken extra nach unten verlegt, damit die Kleinen heranreichen. Ein Stuhl musste so leicht sein, dass ein dreijähriges Kind ihn tragen könnte. Kein Problem in Vietnam.
Manchmal sieht da aus wie bei uns an einem Kindergeburtstag.