Das hier rezensierte Buch verdient eine Hervorhebung, weil es in einer Zeit einer großen ökonomischen Krise, vergleichbar mit der von 1929 ff., eine tragfähige Analyse und eine Zukunftsorientierung für das 21. Jahrhundert bietet. In einer Zeit erheblicher politischer und theoretischer Verunsicherung ist das besonders bemerkenswert.
Der Autor ist Dr. Johannes Müller, Prof. für Volkswirtschaftslehre seit 1995, der heute an der Hochschule Hannover, Fakultät IV, Abt. Betriebswirtschaft lehrt. In seinem sehr gut lesbaren Buch legt er das Gewicht der Argumente auf eine gründliche empirische Argumentation. Das hat den Vorzug, dass er sich einerseits statt auf abstrakte Modellwelten auf die Realität einlassen kann, und andererseits, dass er die empirischen Argumente als Entscheidungskriterien bei den im Hintergrund befindlichen modelltheoretischen Streitfragen ins Feld führen kann. Insofern ist das Buch auch im Hinblick auf die wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen um konkurrierende Denkschulen der Ökonomie ein Gewinn.
Das Buch basiert auf einem Skript, das für den Masterstudiengang „Unternehmensentwicklung“ entwickelt wurde. Der Autor ist ein Kenner der aktuellen volkswirtschaftlichen Paradigmen, d. h. hier der Neuklassik und des Neukeynesianismus, und als Praktiker ist er ein Spezialist für Asset Management (Portfoliomanagement), verfügt also über genau das Spezialwissen, das für das Verständnis der aktuellen Finanzkrise von zentraler Bedeutung ist.
Er hat seinem Buch den Titel gegeben:
Es ist im Jahre 2011 mit einem Umfang von 315 Seiten im Metropolis Verlag in Marburg erschienen; ein Verlag, der sich um die sonst vernachlässigten Denktraditionen der politökonomischen Klassik und des Keynesianismus verdient gemacht hat.
Der Titel des Buches bringt die 2007 beginnende und bis heute anhaltende ökonomische Krise auf den historischen Begriff. Es handelt sich – nach Einschätzung des Rezensenten – tatsächlich um eine Zeitenwende, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das tragende wirtschaftspolitische Konzept des Neoliberalismus bzw. Rechtsliberalismus (im Sinne von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek) in der Krise und durch die Krise theoretisch und praktisch gescheitert ist; daher die Frage des Autors im Untertitel, was im 21. Jahrhundert nach dem Ende des Neoliberalismus kommt.
Und als Antwort auf diese Frage bietet er ein plausibles Szenario an, in dem es aus seiner Sicht um den konzeptionellen und praktischen politökonomischen Wettbewerb zwischen drei Gesellschaftsmodellen geht, nämlich den US-Wirtschaftsliberalismus, den chinesischen Staatskapitalismus und den europäischen Sozialstaat.
Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, nämlich:
- Kapitalismus im 21. Jahrhundert – Vor großen Herausforderungen
- Stößt die Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert an Wachstumsgrenzen?
- Die Protagonisten im tripolaren Systemwettkampf des 21. Jahrhunderts
- US-Wirtschaftsliberalismus: Krasser Fehlstart ins 21. Jahrhundert
- Chinesischer Staatskapitalismus: der neue Mega-Star im 21. Jahrhundert?
- Europäischer Sozialstaat: ein ungeliebtes Erfolgsmodell
- Wer gewinnt den Systemwettkampf im 21. Jahrhundert?
- Zusammenfassung und Ausblick: Zwei starke Hände sind besser als eine!
Johannes Müller eröffnet sein Buch im ersten Kapitel mit den globalen Problemen der regional unterschiedlichen, aber insgesamt zunehmenden Bevölkerungsentwicklung, der globalen Mega-Finanzblase und des kreditfinanzierten Wachstums, der begrenzten natürlichen Ressourcen und der schwerwiegenden ökonomischen und ökologischen Probleme wie Hunger, Armut und Katastrophen. Dabei nimmt er die ökologische Argumentation ausführlich und kenntnisreich so in die ökonomische Denkweise auf, dass eine gedankliche Verknüpfung ermöglicht und nahegelegt wird. Der Rezensent hält bereits dies für eine bedeutende Leistung des Autors.
Im zweiten Kapitel geht es ihm folgerichtig um die Frage, ob und inwieweit ökonomisches Wachstum zukünftig möglich sein wird, ob es eine stationäre Ökonomie geben könnte oder sollte, und unter welchen Bedingungen eine Form nachhaltigen Wirtschaftens denk- und realisierbar ist. Diese ersten beiden Kapitel sind insbesondere für ökologisch orientierte Wirtschaftspolitiker von hoher Bedeutung.
In den Kapiteln 3 bis 7 stellt Johannes Müller aus seiner ökonomischen Perspektive ausführlich dar, aufgrund welcher Stärken und Schwächen der drei Protagonisten sich der Systemwettkampf im 21. Jahrhundert voraussichtlich entwickeln dürfte, jedenfalls soweit das derzeit abschätzbar ist. Bemerkenswert sind dabei seine klare Kritik am US-Wirtschaftsliberalismus und ebenso seine den Rezensenten überraschende Bewunderung der ökonomischen Leistungen des chinesischen Staatskapitalismus. Noch höher bewertet Johannes Müller im Vergleich jedoch das europäische Sozialstaatsmodell, insbesondere in seiner skandinavischen Ausprägung. Seine Überlegungen sind empirisch fundiert und verfügen daher über eine hohen Grad an Plausibilität, wenngleich die Zukunft natürlich offen bleibt.
Im Kapitel 8 plädiert Johannes Müller für „zwei starke Hände“, das heißt für eine neuartige Kombination von effizientem Markt und starkem Staat, durch die ein krisenhaftes Marktversagen und ebenso eine bürokratische Erstarrung der Ökonomie vermieden werden sollen; dies aber offenbar ohne eine substanzielle Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Sozialstruktur.
Man fragt sich prompt, ob die demokratisch sehr schlecht legitimierte Richtlinienpraxis der EU-Kommission in Brüssel damit gemeint sein könnte. Abgesehen davon, dass der Autor gelegentlich den Begriff des Kapitalismus verwendet, ihn aber nicht erläutert, was doch z. B. mit Rückgriff auf die Theorie von Karl Marx leicht möglich gewesen wäre, wird an dieser Stelle sichtbar, dass die Analyse an einer schwerwiegenden Lücke krankt, nämlich daran, dass die Bedeutung und kausale Wirksamkeit der makrosozialen Strukturen und der aus ihr folgenden sozialen Konflikte für die Entwicklung der Ökonomien ausgeblendet bleiben, und zwar sowohl im wirtschaftshistorischen Rückblick wie auch im Hinblick auf eine mögliche oder wahrscheinliche Zukunft. Falls damit aber implizit stabile gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse unterstellt worden sein sollten, dann stellt sich die Frage, mit welcher (möglicherweise ethischen?) Begründung zukünftig eine vom Autor gewünschte nachhaltige und wohlfahrtsstaatliche Wirtschaftspolitik von ihm erwartet werden kann, wenn doch wieder nur dieselben Eliten mit ihren schon bekannten Motivationen die ökonomischen und politischen Entscheidungen treffen.
Außerdem ist – wie schon bei Keynes – das Staatsverständnis unzureichend: beim Rückgriff auf den Staat fehlt eine staatstheoretische Fundierung. Es genügt aber nicht, dem Staat (Wer oder was ist das?) subjektiv bestimmte Aufgaben zuzuschreiben, ohne zu begründen, ob und unter welchen Bedingungen es dem Staat objektiv überhaupt möglich ist, diesen Zuschreibungen zu entsprechen. Beide Mängel haben damit zu tun, dass es mit einer ökonomischen Theorie allein prinzipiell nicht möglich ist, die gesellschaftliche Totalität zu fassen. Dazu ist vielmehr eine Gesellschaftstheorie unerlässlich, die ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen in der Lage ist.
Schließlich überrascht nicht wenig, dass ein Keynesianer, als der der Autor sich durchgehend darstellt, der neoliberal bzw. neoklassisch inspirierten normativen Politik des Verbots der Staatsverschuldung zustimmt, obwohl es theoretisch zu erwarten und empirisch klar zu erkennen ist, dass eine solche Austeritätspolitik wirtschaftspolitisch nicht zu den erwarteten Ergebnissen, sondern in eine Vertiefung der Krise führt, und dass sie außerdem den schrittweisen Abbau des Sozialstaats bewirkt, also genau jener gesellschaftlichen Institution, an der dem Autor erklärtermaßen sehr viel liegt. Das ebenfalls 2011 bei PapyRossa in Köln erschienene Buch von Jürgen Leibiger „Bankrotteure bitten zur Kasse – Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung“ führt nach Auffassung des Rezensenten in dieser Hinsicht vergleichsweise sehr viel weiter.
In formaler Hinsicht ist lediglich anzumerken, dass ein Sachregister fehlt. Positiv fallen die zahllosen Abbildungen, Tabellen und Übersichten auf, die eine Fundgrube darstellen. Johannes Müller lässt in seinem Buch „Ökonomische Zeitenwende“ zwar, wie oben gezeigt, einige Fragen offen, ist aber insgesamt weitgehend auf der Höhe der ökologischen und ökonomischen Probleme der Zeit, und er entwickelt ein diskussionswürdiges und plausibles, keineswegs unwahrscheinliches Zukunftsszenario.
Der Rezensent kann dem Autor dieses wichtigen Buches nur viele Leser wünschen!
Prof. Dr. Güter Buchholz, Jahrgang 1946, hat in Bremen und Wuppertal Wirtschaftswissenschaften studiert, Promotion in Wuppertal 1983 zum Dr. rer. oec., Berufstätigkeit als Senior Consultant, Prof. für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Consulting an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschaft und Informatik, Abteilung Betriebswirtschaft. Seit 2011 emeritiert.