Prof. Adorján Kovács: Die Deutschen heben wieder ab

Ein Volk der Extreme: Wie aus Nazis Linke wurden und aus Linken Nazis werden: Interview mit Professor Adorján Kovács, Arzt und Publizist

Alexander Ulfig: Sie arbeiten als Arzt und sind daneben auch als Publizist tätig. Ihre publizistischen Arbeiten kreisen fast alle um Deutschland. In Ihrem Buch „Deutsche Befindlichkeiten“ werfen Sie den Deutschen die Neigung zu Übertreibungen und Extremen vor. Ist diese Neigung wirklich eine typisch deutsche Charaktereigenschaft?

Adorján Kovács: Ob es überhaupt so etwas wie kollektive Eigenschaften gibt, ist ja umstritten. Ich meine aber auch nicht, wenn ich von „den“ Deutschen rede, tatsächlich jeden einzelnen; das ist doch eigentlich selbstverständlich. Dennoch wird jeder, der die Welt unvoreingenommen mit offenen Augen sieht, feststellen, dass es durchaus gewisse und auch typische Unterschiede zwischen vielen, selbstverständlich nicht sämtlichen Angehörigen verschiedener Völker gibt, wobei die Ursachen dafür zunächst einmal keine Rolle spielen sollen. Die Feststellung von unterschiedlichen Volkscharakteren ist eigentlich banal und natürlich an sich auch nichts Schlimmes. Nehmen wir zum Beispiel den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der meinte, die Eigenschaft, die bei Juden besonders auffiele, sei ihre Intensität.

Gerade in Deutschland wird aber eine solche Feststellung, auch wenn sie „die“ Isländer oder „die“ Nepalesen beträfe, sofort beargwöhnt bis zu der übertriebenen und extremen Behauptung, die dann oft auch aggressiv und besserwisserisch vorgetragen wird, es gäbe überhaupt keine Unterschiede, alle Menschen seien gleich. Das resultiert aus dem Bemühen der Deutschen, besonders demokratisch zu sein, am besten gleich demokratischer als alle anderen. Auch eine Übertreibung. So etwas gibt es eben vor allem in Deutschland. Warum das so ist, weiß ich nicht, habe aber meine Vermutungen.

Alexander Ulfig: Ihre Eltern sind 1956 aus Ungarn vor den Kommunisten geflüchtet. Sie sind in Deutschland geboren und verstehen sich sowohl als Deutscher als auch als Ungar. Erlaubt Ihnen Ihr Migrationshintergrund Dinge zu sehen, die die Einheimischen nicht sehen können, und wenn ja, welche Dinge sind es?

Adorján Kovács: Nun, das Wort „Migrationshintergrund“, das Sie auf mich anwenden, berührt mich schon seltsam, denn obwohl innerhalb der Familie ungarisch gesprochen wurde, gab es für mich als Kind ganz naiv keinerlei Empfindung, mich von meinen deutschen Spielkameraden irgendwie zu unterscheiden. Das ist bei mir als Erwachsenem in Hinblick auf meine Umgebung eigentlich bis heute so geblieben. Ich bin ja ein Einheimischer. Es sind dann aber die Mitmenschen, die einen darauf stoßen, dass das doch nicht so einfach ist. Das erfährt jeder, dessen Name nicht deutsch ist. Das ist ja meist nicht böse gemeint, aber es gab auch andere, ausgrenzende Aussagen. Natürlich habe ich in der Familie andere Gebete, Kinderlieder oder Märchen gehört als meine Mitschüler, aber meine Sozialisation in Schule, Studium und Beruf ist deutsch, und Deutschland ist ja auch ein tolles Land. Dann war es so, übrigens ohne von meinen Eltern gedrängt zu sein, dass ich über die Sprache die Kultur Ungarns entdeckt habe, die zutiefst europäisch ist, während mir die exotischen folkloristischen Elemente ziemlich fremd geblieben sind. Bald begriff ich es als Bereicherung, beides, deutsch und ungarisch zu sein. Das hat den Wechsel der Perspektive ermöglicht, der den, ich sage mal: Biodeutschen nicht so ohne weiteres möglich ist. Ich glaube, wegen des intimen Umgangs mit Angehörigen eines anderen Volkes sind es vor allem Verhaltensweisen, bei denen mir Unterschiede auffallen. Auch das ist nichts Besonderes und wird jedem aufmerksamen Menschen, der in einer Familie von Einwanderern aufwächst oder auch lange im Ausland lebt, so gehen. Heine zum Beispiel hat ja aus Paris viel über deutsche Irrationalitäten geschrieben.

Alexander Ulfig: In Ihrem Buch stellen Sie einige provokative Thesen auf. Eine dieser Thesen besagt, dass die deutschen Linken und die deutschen Rechten zwei Seiten derselben Medaille sind. Könnten Sie das näher erläutern?

Adorján Kovács: Das ist einerseits keine deutsche Spezialität, spätestens seit mit Peter Sloterdijk auch von Linksfaschismus geredet werden darf, also antiliberale und totalitäre Bewegungen von rechts und links miteinander verglichen werden können. Worauf ich in Deutschland angesichts seiner Vergangenheit hinweisen wollte, ist das selbstgerechte Gebaren der deutschen Linken seit 1968, die sich anti-rechts wähnt, sich aber genauso, also rechts verhält. Ich habe auf den sprachlichen Duktus in den Reden von Rudi Dutschke verwiesen, der ja nun von Goebbels nicht so weit weg war. Klar, im Kopf wollte er weg von der verhassten Vätergeneration, aber im Verhalten war er noch deutlich geprägt von ihr. Das Gegenteil wollen, aber dieselben Mittel, genauso intolerant, genauso aggressiv. Also diese Neurose, so will ich das mal nennen, bleibt und pflanzt sich fort, keine Frage. Diese Prägung hat sich auch bis in die weithin für legitim gehaltene Gewaltanwendung hinein fortgesetzt, bei der man ja nun rechts von links wirklich nicht unterscheiden kann. Denken Sie an die RAF und die Autonomen. Und auch abseits von Gewalt hat diese aggressive Intoleranz dann durch diese Generation zur Ideologisierung weiter Bereiche geführt, im Feminismus, in der Ökologie; zur Zeit ist ja die gesamte offizielle Politik durch diese meinungsbestimmende Generation in dieser rechthaberischen Weise sozialdemokratisiert und grün. In der DDR wiederum hat sich das totalitäre Regime einfach unter anderen Vorzeichen fortgesetzt – die Folgen sahen wir in Hoyerswerda. Und der linke Antisemitismus ist ja bis heute der gute Antisemitismus in Deutschland. Dafür waren die Reaktionen auf das Grass-Gedicht ein gutes Beispiel.

Alexander Ulfig: Eine andere provokative These von Ihnen besagt, dass die Kinder der deutschen Nazis – als Antwort auf die Vergangenheit ihrer Eltern – linksalternativ geworden sind. Gemeint ist hier die 68er Generation. Die Kinder dieser Linksalternativen sind angepasste Yuppies. Die Kinder dieser Yuppies werden wiederum Nazis sein. Worauf stützen Sie denn diese These?

Adorján Kovács: Das ist möglicherweise ein Punkt, den ich wirklich als jemand, der eine andere Perspektive einnehmen kann, besser sehe als Deutsche, deren Eltern auch Deutsche waren. Ich habe in meinem Buch zunächst konventionell argumentiert, die Generation der Nazideutschen habe durch die Massenverluste und Massenvergewaltigungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Psychotrauma erlitten. Die ist weggetaucht in Arbeit und Eskapismus, hat geschwiegen und offiziell, aber nie wirklich überzeugt auf demütig gemacht. In der Berliner Republik des Sommermärchens erheben die Deutschen nun wieder stolz ihr Haupt, sie haben genug von der offiziellen Vergangenheitsbewältigung, die meines Erachtens privat sowieso gescheitert ist, weil sie nie ehrlich war. Zudem weiß der Deutsche, dass er in Europa wieder der Stärkste ist. Er will jetzt endlich auch im Sicherheitsrat sitzen, anderen Ländern wieder Vorschriften machen usw. Also mit diesem Bewusstsein leben heute die angepassten Yuppies um die dreißig, die nie echte Sorgen hatten und neben vielem Geld von den Eltern auch die Neurosen geerbt haben. Die Eltern, das waren eben die Linksalternativen, die wegen ihrer traumatisierten und darum verlogenen Nazieltern alles an Deutschland schlecht fanden, dabei aber natürlich nicht authentisch waren, denn es ist ja pervers, das Eigene völlig abzulehnen. So, und jetzt haben diese Yuppies von den Schuldkomplexen die Nase voll und kippen auf die andere Seite. Die kennen nach Rechts keine Berührungsängste mehr. Sie wirken nur so, als würden sie nicht gegen ihre Eltern aufbegehren, aber es ist gerade ihre glatte Angepasstheit und ihr neues deutsches Selbstbewusstsein, mit dem sie gegen die Eltern aufbegehren. Und diese Leute, die kaum Grenzen kannten, die von ihren Eltern in einem Dunst des moralischen Relativismus erzogen wurden, weil wiederum deren Eltern, die Nazis, jeden Glauben und jeden Idealismus vermeintlich diskreditiert hatten, die haben nun Kinder, vor denen mir, ehrlich gesagt, ein wenig bange ist.

Das wird die erste Generation von Deutschen sein, die ohne die deutschen Schuldkomplexe und mit einer gewissen unbeschwerten Verantwortungslosigkeit und Amoralität aufwachsen wird. Insofern eine Gesundung und dann auch wieder keine. Aufgrund der ganzen Gemengelage – Deutschland ist viel zu groß für Europa, die Spannungen mit Migranten werden zunehmen – und wegen der neurotischen Unehrlichkeit, die über Generationen hinweg herrschte, wird das eine Generation sein, über die sich Nietzsche freuen würde. Das werden die Leute sein, die uns totspritzen, wenn wir alt sind und das ganz sachlich begründen. Das neue Deutschtum der Deutschen ist eben leider keine sympathische Heimatliebe, wie einem immer weisgemacht wird, sondern aus einem Ressentiment heraus auftrumpfend. Das wird natürlich ein ganz neuer Nazitypus sein.

Alexander Ulfig: Obwohl Sie sich als ein liberaler Publizist verstehen, kritisieren Sie den Neoliberalismus, insbesondere in Bezug auf die Wirtschaft und die Wissenschaft. Könnten Sie uns Ihre wichtigsten Kritikpunkte nennen?

Adorján Kovács: Was sich heute „neoliberal“ nennt, ist im Grunde eine neue Form der Plutokratie. Die theoretischen Unterfütterungen, das liberale Gerede von der Wichtigkeit der Eigenverantwortung, sind, so wichtig und richtig sie teilweise sind, Camouflagen. Mich entsetzt dieses völlige Fehlen einer Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sogar Friedrich von Hayek, einem der „Heiligen“ der Wirtschaftslibertären, war die Sorge um ein Mindesteinkommen nicht fremd. Der nächste logische Schritt für die Leute, die dieses ominöse Gebilde der „Finanzmärkte“ ausmachen, wäre die Wiedereinführung des Zensuswahlrechts, wenn sie ehrlich wären. Das war ja auch mal eine liberale Erfindung. Heute wäre das aber eine autoritäre Maßnahme und würde zu der von mir befürchteten Entwicklung der Deutschen passen. Insofern weiß ich gar nicht, ob ich in meiner Kapitalismuskritik nicht eher ein christlicher als ein liberaler Publizist bin, wenn man schon Etikettierungen braucht. Was mich ferner ärgert, ist die Mentalität des „Schwamm drüber“. Keine Buße oder säkular gesagt: keine Sanktionen. Wenn schon eine Politikerin, die in der Evangelischen Kirche engagiert ist, Frau Göring-Eckardt, dafür plädiert, nicht nach Schuldigen der Finanzkrise zu suchen, was soll man dann erwarten? Aber es war ja auch unter grüner Regierungsverantwortung, dass die Finanzmärkte losgelassen wurden. Arme, Alte und Kranke zahlen die Zeche, aber der deutschen Wirtschaft hat es geholfen. Jetzt wirbt Brüderle schon auf dem Parteitag der FDP damit. Ansonsten wird vertuscht. Ein investigatives Buch wie das von Wolfgang Hetzer über die „Finanzmafia“ wird medial fast totgeschwiegen. Das hat Methode. Auch die Medien sind nicht mehr das, was sie mal waren, und unterliegen vollkommen dem Diktat der Ökonomie. Erinnern Sie sich noch? Es gab mal eine Zeit, als in den Nachrichten noch keine Börsenkurse vermeldet wurden.

In der Wissenschaft wiederum hat die Ökonomisierung zu einer Gigantomanie der Organisation geführt, Stichwort „Exzellenzcluster“, und zu einer Instrumentalisierung der Inhalte der Forschung. Das fängt schon damit an, dass Wissenschaftler heute mehr Manager als sonst etwas sind. Da geht unter anderem kritisches Potential unter. Dann wird ernsthaft darüber nachgedacht, dass ein Konzern wie Fresenius eine Uniklinik kauft, damit diese die Aktionäre bedient. Unglaublich. Aber das alles ist in der Kürze der Zeit nicht erschöpfend auszuführen.

Alexander Ulfig: Die Kritik am Feminismus nimmt in Ihren Publikationen einen breiten Raum ein. Auch den deutschen Feministinnen bescheinigen Sie die Neigung zu Übertreibungen und Extremen. Worin sehen Sie „das hässliche Gesicht des deutschen Feminismus“?

Adorján Kovács: In Paris gibt es eine feministische Buchhandlung in St.-Germain des Pres, ich glaube, sie heißt einfach „Librairie des femmes“. Sie wirbt damit, die erste ihrer Art in Europa gewesen zu sein. Da treffen Sie sehr nette, sehr sympathische und modische Frauen, mit denen Sie kultiviert sprechen können. Und dann gehen Sie in einen Frauenbuchladen in einer deutschen Stadt. Ihre Frage beantwortet sich dann von selbst.

Alexander Ulfig: Als einen Ausweg aus der Identitätskrise der Deutschen schlagen Sie die Orientierung am Christentum, genauer am Katholizismus, vor. Was bedeutet für Sie Katholizismus und an welchen seiner Werte könnte man sich heute noch orientieren?

Adorján Kovács: Aus dem „heute noch“ höre ich heraus, dass Sie den Katholizismus und wahrscheinlich alles Religiöse für veraltet halten. Sie sind Philosoph, da ist das etwas Anderes, aber ansonsten ist das typisch deutsch. Die Entgötterung ist nirgendwo so groß wie hier – eben übertrieben. Wie dem auch sei, ich werde deshalb das Wichtigste, Gott, gar nicht erwähnen.

Dann wird schon die Behauptung einer Identitätskrise von den meisten Deutschen heftig bestritten werden. Sie würden sagen: In der Nachkriegszeit ja, aber heute nein. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Natürlich haben die Deutschen eine Identitätskrise. Man kann nicht bis zum letzten Atemzug an das Falsche geglaubt haben und jetzt ebenso extrem meinen, man dürfe an gar nichts glauben: Das ist beides falsch. Man kann nicht ganz Europa in einer Gewaltorgie ohnegleichen zerstören und Millionen Menschen umbringen, ohne davon auf Generationen hinaus gezeichnet zu sein. Da muss überhaupt niemand nachhelfen und die Deutschen darauf stoßen, das kommt von selbst. Und da es sich um ein geistig-moralisches Problem handelt, wird man dem nicht allein mit demokratisch-institutionellen, schulischen oder psychologischen Mitteln Herr. Diese Sachen sind sehr wichtig, aber eben nicht alles, und vor allem: Trotz 70 Jahren Bonner und Berliner Republik, institutionalisierter Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung kann man, wie schon gesagt, die alten Gebrechen wieder durchschimmern sehen. Die Frage ist, ob die jungen Leute das überhaupt als Problem sehen.

Wenn da etwas hilft, dann meines Erachtens nur etwas, das größer ist als menschliche Rezepte. Katholizismus umfasst jedenfalls mehr als die Katholische Kirche – mit der darf man in Deutschland gar nicht kommen, die hat ja Schuld an AIDS in Afrika, weil sie Kondome verbietet… also dieses Niveau hat die Auseinandersetzung mit der Kirche in Deutschland -, er umfasst also nicht nur ihre offizielle Lehre, sondern soziologisch betrachtet das tatsächliche Denken und Handeln von Katholiken. Aus diesem Gegensatz resultiert das Faszinierende des Katholizismus, der Freiheit und Dogma verbinden kann. Das ist Nichtkatholiken in Deutschland fast nicht klarzumachen, die immer denken, es gäbe da einen monolithischen Block. Zur offiziellen Lehre gehört zum Beispiel das Papsttum, das wirklich einen Fels darstellt in der Brandung der Zeit und der Meinungen, das mit dem Lehramt einen Damm bildet gegen fatale private Auslegungen des Glaubens, wie wir sie zum Beispiel im Islam sehen. Das Papsttum hat den Katholizismus auch weitestgehend davor bewahrt, in Form einer Staatskirche in eine Abhängigkeit von der herrschenden Politik zu geraten, wie dies den Protestanten passiert oder im Islam der Fall ist. Dem steht schon immer, wie ich das in meinem Buch auch erläutert habe, eine große Vielfalt an unterschiedlichsten Diskussionen, auch mit herbster Selbstkritik, im Katholizismus gegenüber. Diese Dialektik ist also schon einmal etwas, das den Deutschen, die unter Freiheit durchaus großmäulig vor allem verstehen, bei Rot über die Ampel gehen zu können, helfen könnte. Dann, gerade in Zeiten der Einwanderung und der Globalisierung, bietet er ein Beispiel des Universalismus, der Diversestes in sich aufnehmen kann, ohne darum beliebig zu werden. Da können die Deutschen eine Menge lernen. Die Katholische Kirche macht auch nicht jeden Blödsinn des Zeitgeistes mit; die Deutschen sehen ja heute schon, was ihnen zum Beispiel Scheidungen und Abtreibungen gebracht haben – sie werden immer weniger. Ich verhehle schließlich nicht, dass mir die Ethik des Christentums im wesentlichen als sehr richtig erscheint. Auch in ihr finde ich diese Dialektik der Freiheit: Jesus ist nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu vollenden. Es geht also nicht primär darum, bestimmte Regeln stupide zu befolgen, sondern anhand dieser Regeln gewissenhaft zu entscheiden. Gewissen, auch das ist etwas, über das hierzulande neu nachgedacht werden könnte. Ich sprach schon von der Amoralität der kommenden Generation, gegen die nur in der Familie weitergegebene Werte geholfen hätten. Wenn diese dort nicht tradiert werden, helfen auch keine Gesetze und Institutionen, denn die werden dann entsprechend geändert. Ich denke da an die „Piraten“, die Killerspiele als Egoshooter verharmlosen und vom Recht des Urhebers nichts wissen wollen. Ich denke da an die Zockerei mit Milliarden, an Menschenzüchtung und die Sterbeindustrie, schlimmer noch: an neue Kriege.

Also woran sollen sich die Deutschen bei ihrer neurotischen Selbstsuche halten? Von welchen Werten könnten sie abgehalten werden, wieder abzuheben, was sicher besser für sie wäre? Philosophische Rezepte, aber auch der bei manchen so beliebte Buddhismus haben den Geruch der Selbsterlösung. Das funktioniert nie. Pragmatismus und normative Diskurse sind Selbsttäuschung – die Entscheidungsgrundlagen werden ausgeblendet. Ich glaube nicht, dass der Mensch sich zum Maß aller Dinge machen kann. Die Aufklärung ist mit Auschwitz und Kolyma gescheitert. Das bedeutet aber kein sacrificium intellectus. Ich sehe außer dem Katholizismus keine moralische Kraft, die wesentlich frei, inhaltlich stark und intelligent, um nicht zu sagen wahr genug wäre, um sich an ihr zu orientieren.

Alexander Ulfig: Herr Professor Kovács, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Professor Adorján Kovács lebt als Publizist und habilitierter Arzt in Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u.a.:

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Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.

Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".

In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.