Deutsche Richter und die Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz
Zuerst erschienen auf Sciencefiles.org
Hannah Arendt wird zugeschrieben, im Zusammenhang mit der Frage, wie der Nationalsozialismus möglich gewesen ist, von der Trivialität des Bösen, der Faschisierung in kleinen Schritten gesprochen zu haben. Gemeint hat sie damit wohl die stetige und inkrementelle Aufweichung gesellschaftlicher Grundlagen, bis schließlich der Boden für eine andere Gesellschaft bereitet ist. Trivialität des Bösen beschreibt “Normalitäten” für diejenigen, die die Trivialitäten begehen. Sie merken nicht, wie abweichend von einer bestimmten Norm sie sich verhalten, die entsprechende Norm ist einfach nicht mehr in ihrem Radar. So scheint Verfassungstreue nur noch im Radar der wenigsten Richter zu finden zu sein.
In Artikel 3 des Grundgesetzes steht: “(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. … (3) Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. …”
Soweit die Theorie. Die Praxis, darauf hat mich ein Leser meines blogs aufmerksam gemacht, sieht anders aus. Wie die Praxis aussieht, zeigt ein Interview mit dem ehemaligen Richter am Amtsgericht Hildesheim, Ulrich Vultejus, das in Ausgabe 3/2008 der Zeitschrift für Rechtspolitik abgedruckt ist. Es ist ein bemerkenswertes Interview aus einer ganzen Reihe von Gründen. Hier kommt der wichtigste Grund:
ZRP [Zeitschrift für Rechtspolitik]: “Statistisch gesehen sind es wohl wesentlich mehr Männer als Frauen, die vor Gericht stehen. Und wenn es eine Frau ist: Haben Sie da ein grundsätzlich anderes Verhalten beobachtet, ein anderes Rollenspiel?”
Vultejus: “Theoretisch müssen Männer und Frauen bei gleichen Taten auch gleich bestraft werden. Rechtssoziologen wollen herausgefunden haben, dass Frauen etwas milder bestraft werden. Ich bin in Strafverfahren gegen Frauen immer wieder in Schwierigkeiten geraten und habe mich deshalb jeweils gefragt, welche Strafe würde ich gegen einen Mann bei derselben Anklage verhängen und auf diese Strafe alsdann abzüglich eines ‘Frauenrabatts’ erkannt. Ähnlich scheinen es auch meine Kollegen zu handhaben, wie die eben wiedergegebene rechtssoziologische Untersuchung ergibt. Ein Frauenrabatt ist gerechtfertigt, weil es Frauen im Leben schwerer haben und Strafen deshalb bei Ihnen härter wirken”.
ZRP: “Benehmen sich Frauen als Angeklagte anders als Männer?”
Vultejus: “Also, es kommt kaum vor, dass Frauen versuchen, einen Richter durch das Zeigen ‘weiblicher Reize’ zu beeinflussen…”.
Unglaublich – oder? Wo soll man anfangen. Bei der Nonchalance, mit der Ulrich Vultejus angibt, dass er Rechtsbeugung betreibt und gegen Frauen aus reiner Willkür bzw. weil er sich einbildet, sie hätten es im Leben schwerer (wo er dafür Belege herzaubert, darauf wäre ich wirklich gespannt) bei gleicher Straftat geringere Strafen verhängt? Oder bei der Nonchalance, mit der der Interviewer darüber hinweg geht, dass er einen Richter interviewt, der ihm gerade gesagt hat, dass er gegen das Grundgesetz, Artikel 3 verstößt?
Beider Nonchalance beschreibt den Kern dessen, was Arendt mit dem Begriff der “Trivialität des Bösen” zu umschreiben versucht hat. Gibt es eine Verfassung? Ach ja, die Verfassung und die Gleichberechtigung, ja die Gleichberechtigung, aber das macht doch nichts, dass ich Männer systematisch höher bestrafe als Frauen, denn Frauen haben es doch schwerer im Leben. So einfach ist es vor sich selbst einen Verfassungsbruch zur Trivialität werden zu lassen, ihn zur Normalität zu erklären. So ungefähr hat sich dann wohl auch der Nationalsozialismus in die Normalität des Alltags in den 1930er Jahren eingeschlichen.
Einfallstor für den Verfassungsbruch und seine Trivialisierung sind Alltagstheorien, die Karl-Dieter Opp in seiner Soziologie des Rechts aus dem Jahre 1973 bereits in ihrer willkürlichen Wirkung auf die Rechtsprechung verschiedener Richter beschrieben hat. Alltagstheorien sind Vorstellungen (oder Phantasien), die sich Richter über die Wirklichkeit machen (oder haben/hegen) und die mehr darüber aussagen, wie der Richter “tickt”, als dass sie etwas darüber aussagen würden, wie die Wirklichkeit ist.
So ist Vultejus ein verhinderter Retter des Dornröschen, wie eine genauere Analyse seines Interviews zeigt. Er wird nach dem Rollenverhalten von Frauen und Männern vor Gericht gefragt, also danach, ob sich männliche oder weibliche Angeklagte unterschiedlich vor Gericht verhalten. Diese Frage beantwortet er damit, dass er berichtet, dass ER männliche und weibliche Angeklagte unterschiedlich behandelt. Der Interviewer fragt nochmals nach: “Benehmen sich Frauen als Angeklagte anders als Männer”, und alles, was Vultejus nun einfällt, sind weibliche Reize, so dass man sich fragt, ob er geistig je etwas anderes als potentielle Geschlechtspartner vor sich gesehen hat, wenn er weibliche Angeklagte zu verurteilen hatte und welcher Form der sexuellen Phantasie seine Ansicht, Frauen hätten es im Leben schwerer als Männer entspringt.
In jedem Fall zeigt diese Episode die Wichtigkeit einer klaren Vorgabe von Urteilskriterien und die Wichtigkeit einer Einschränkung des “Ermessensspielraums” für Richter, z.B. indem man sie verpflichtet, auch ihr Ermessen an klaren und geprüften Kriterien auszurichten, statt an Hirngespinsten.
Eigentlich wäre es jetzt die Aufgabe der Verteidiger, die sich mit Vultejus als Richter konfrontiert sahen und einen männlichen Angeklagten an ihrer Seite hatten, die Verjährungsfristen zu prüfen und gegebenenfalls eine Neuverhandlung zu beantragen.
Literatur
- Opp, Karl-Dieter (1973). Soziologie im Recht. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
- Zeitschrift für Rechtspolitik, 3/2008:101-102 – ZRP-Rechtsgespräch “Kein Gesetzgeber kann einen Richter zu einem Urteil zwingen. Die Erhöhung des Strafrahmens wäre legislative Augenwischerei”.