Medikalisierung, Ökonomie und Ethik

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In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ antwortete der Psychologe Jerome Kagan auf die Feststellung, in den 1960ern seien psychische Erkrankungen bei Kindern praktisch unbekannt gewesen, heute aber sei nach offiziellen Angaben jedes achte Kind in den USA psychisch krank:

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Jerome Kagan: Seelische Störungen – Pathologie oder Normvariante?

„That’s true, but it is primarily due to fuzzy diagnostic practices. Let’s go back 50 years. We have a 7-year-old child who is bored in school and disrupts classes. Back then, he was called lazy. Today, he is said to suffer from ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder). That’s why the numbers have soared.“

Eine deutliche Sprache, die man in Deutschland vermisst. Der Fragesteller setzt noch einen drauf:

„Experts speak of 5.4 million American children who display the symptoms typical of ADHD. Are you saying that this mental disorder is just an invention?“

– und Kagan geht mit :

„That’s correct; it is an invention. Every child who’s not doing well in school is sent to see a pediatrician, and the pediatrician says: ,It’s ADHD; here’s Ritalin.‘ In fact, 90 percent of these 5.4 million kids don’t have an abnormal dopamine metabolism. The problem is, if a drug is available to doctors, they’ll make the corresponding diagnosis.“

Dieser reflexartige Zusammenhang zwischen einem zwar erfundenen, aber gesellschaftlich eben doch deutlich empfundenen Problem und einer ärztlichen „Lösung“ führt zu der Frage nach dem, was Krankheit überhaupt ist. Kagan:

„We could get philosophical and ask ourselves: ‚What does mental illness mean?‘ If you do interviews with children and adolescents aged 12 to 19, then 40 percent can be categorized as anxious or depressed. But if you take a closer look and ask how many of them are seriously impaired by this, the number shrinks to 8 percent. Describing every child who is depressed or anxious as being mentally ill is ridiculous. Adolescents are anxious, that’s normal. They don’t know what college to go to. Their boyfriend or girlfriend just stood them up. Being sad or anxious is just as much a part of life as anger or sexual frustration.“

die-drei-grundirrtuemer-der-psychologieEs geht Kagan darum, bestimmte Verhaltensweisen als Normvarianten zu sehen und nicht als krank. Es gibt eben faule und dumme Kinder, aber sie sind deshalb nicht krank. Aber heute darf das Eltern nicht mehr gesagt, nicht mehr zugemutet werden. Die Eltern selber würden sich das nie eingestehen. Die gesellschaftliche Realität lässt Wissenschaftler wie Kagan als Rufer in der Wüste erscheinen. Die absurden Ansprüche dieser sogenannten Patienten vereinigen sich mit dem Profitstreben der pharmazeutischen Industrie zu einer unheiligen Allianz. Die Ärzte wiederum entziehen sich diesem Druck, häufig wider besseres Wissen, nicht. Gehen sie nicht auf die Ansprüche der Patienten ein, dann kommen diese nicht mehr wieder. Also verschreibt man ein Medikament. Für eine erfundene Krankheit.

Die Medikalisierung unserer Gesellschaft hat ungeheure Ausmaße angenommen. Ständig werden neue „Krankheiten“ „entdeckt“. Und ihre Behandlung mit Krankenkassenbeiträgen bezahlt. Die Solidargemeinschaft wird gemolken, damit eine gewaltige Industrie verdient und eine viel zu große Zahl an Ärzten sich eine Daseinsberechtigung verschafft. Aber die Solidargemeinschaft der breiten Masse an Beitragszahlern ist auch selber schuld, das darf nicht übersehen werden. Das bereits verinnerlichte Denken im Maßstab des „Kunden“ führt dazu, sich Medizin als einen Laden vorzustellen, der Wünsche bedient – und nicht als eine Kunst, die notwendige Hilfe bei unvermeidlichen Leiden leistet.

Nun ist heute nicht mehr unvermeidlich, was es im Mittelalter einmal war. Die bedeutenden Entdeckungen der Medizin haben die verheerenden Seuchen eingedämmt, an denen früher massenhaft Menschen gestorben sind. Die Prävention, zum Beispiel durch Sanierung der Städte und die Anhebung des Lebensstandards wie der Hygiene, hat dazu beigetragen, dass viele Krankheiten in unseren Breiten kaum noch existieren. Was unvermeidlich ist, ändert sich historisch. Aber wenn man bei der obigen Definition bleibt, so wird doch auch heute das Leiden des Menschen, das zu beheben oder zu lindern ist, die vornehmste Aufgabe der Medizin bleiben. Das Leiden und nicht die Befindlichkeitsstörung. Und hier liegt einer der Fehler, die zur sogenannten Kostenexplosion im Gesundheitswesen führen (obwohl alle Welt weiß, dass eigentlich genug Geld auch für Gesundheit da ist, aber für Spekulation, Bankenrettung und Rüstung eher ausgegeben wird).

Gesundheitsökonomen sind heute die bestimmenden Figuren des Gesundheitswesens geworden. Sie sollen´s jetzt reißen, was Ärzte angeblich nicht geschafft haben. Die jahrelange Propaganda und Lobbyarbeit des industriellen und Finanzsektors hat sich bezahlt gemacht. Auf den Tafeln am Eingang der Krankenhäuser sind es nicht mehr die Chefärzte, die oben stehen, sondern die Leute der Verwaltung: der Verwaltungschef, der Controller, der Personalchef. Mag sein, dass Ärzte nicht effizient genug arbeiten, um ein Krankenhaus aus den roten Zahlen zu führen und ein Finanzmanagement notwendig ist, aber dieses wäre auch als hilfestellende Abteilung denkbar. Es ist aber von der Politik oder den sonstigen Krankenhausträgern zur Leitung bestimmt worden bzw. hat sich selbst dazu bestimmt. Doch egal wie wichtig die Gesundheitsökonomen sind, die Menschen, die behandelt werden wollen, kommen nicht der Verwaltung, sondern der Ärzte wegen.

geisteskrankheit-mythosGesundheitsökonomen rechnen unsentimental so: Was kostet eine Behandlung? Was bringt sie? Das wiederum bedeutet unter Umständen folgendes: Wie lange lebt der Patient nach der Behandlung noch? Kann er arbeiten, und wenn ja, wie lange? Wie viel erwirtschaftet er dann noch in seinem Beruf? Oder was kostet die etwaige Nachbehandlung, wie lange wird er durchschnittlich der Gemeinschaft noch auf der Tasche liegen? Die Kosten-Nutzen-Rechnung geht da schon mal zum Nachteil der Behandlung und des Behandelten aus. Solche Berechnungen führen zwangsläufig zu einem Denken, das im Vollerwerbsfähigen jungen bis mittleren Alters das eigentlich lohnende Zielobjekt sieht. Schwere, also lebensbedrohliche Krankheiten sind daher immer schlecht, weil das Zielobjekt sich von ihnen auch nur schwer oder gar nicht erholt. Wesentlich lohnender aus gesundheitsökonomischer Sicht sind mittelschwer und leicht Erkrankte, für die es eine klar definierte und, statistisch gesichert, kurzfristig erfolgreiche Behandlung gibt sowie Menschen mit Befindlichkeitsstörungen, die zu häufigen kurzen Unterbrechungen der Arbeitsleistung bzw. zu einer nicht voll ausgeschöpften Arbeitsleitung führen, bei denen sich aber die Beseitigung der Befindlichkeitsstörung lohnt, um wieder eine volle bzw. seltener unterbrochene Arbeitsleistung zu erzielen.

Daraus erwächst die sogenannte Wellness-Medizin. Ein Beispiel: Es gibt Menschen, deren Kiefer nicht im statistisch häufigsten Verhältnis zueinander stehen. Bei einigen ragt das Kinn optisch vor, die Unterkieferzähne beißen vor die Zähne des Oberkiefers. Bei anderen ist es umgekehrt, sie haben ein sogenanntes fliehendes Kinn. Jahrzehntausende kamen die Menschen damit gut zurecht. Niemand ist an diesem Missverhältnis gestorben, niemand sozial geächtet worden. Nun ist es heute so, dass diesem Missverhältnis ein medizinischer Name (Dysgnathie) gegeben wurde. Damit wurde diese anatomische Normvariante zu einer Erkrankung erklärt. Gleichzeitig ist durch die zunehmende, durch eine verantwortungslose Werbung geförderte Körperfixiertheit der Gesellschaft ein Bewusstsein entstanden, das in manchen natürlichen Abweichungen von der Norm ein Problem sieht (andere Abweichungen werden dagegen verklärt oder bewusst gesucht). Der körperfixierte Mensch beginnt unter der als Entstellung begriffenen Abweichung von der Norm zu leiden. Vielleicht verspürt er auch ein Knacken im Gelenk des Kiefers? Er beginnt noch mehr zu leiden. Arztbesuche, Krankschreibungen sind die Folge. Man ist nicht mehr willens, etwas zu erdulden. Nun ist endgültig die Stunde gekommen, die neue Krankheit mit dem neuen Leiden zu verbinden. Ein Bedürfnis kann befriedigt werden, es kann medizinisch geholfen werden. Vielleicht geht nach mehrjähriger kieferorthopädischer Behandlung und mehreren kieferchirurgischen Operationen in Vollnarkose das Knacken nicht ganz weg, aber immerhin: Das fliehende Kinn ist geradegerückt, der Mensch an die Norm angepasst. Der zwar objektiv künstliche, aber subjektiv reale Leidensdruck ist großenteils weg. Und zwei Professionen haben gut verdient.

Mit der Dygnathie ist es ein wenig wie mit ADHD (deutsch ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Natürlich macht ein faules oder renitentes Kind Mühe und ist keine reine Freude. Wer will sich heute unnötig Mühe machen mit einem Kind? Ein Kind soll Freude machen und erfolgreich sein! Natürlich kann ein Knirschen im Kiefergelenk stören. Wer will heute noch eine Störung ertragen? Selbstverständlich soll hier auf Wunsch behandelt werden können: als private Leistung. Aber warum sollte die Behandlung solch erfundener Krankheiten die Solidargemeinschaft bezahlen? Warum die Behandlung dieser Normvarianten sozialisieren, während private Klein- und Großunternehmen den Gewinn einfahren?

Viele Menschen setzen sich im Urlaub und in der Freizeit großen Risiken aus. Zum Beispiel fahren sie Ski. Sie halten es für gesund, sich untrainiert schlagartig einer hohen körperlichen Belastung auszusetzen. Aber auch bei regelmäßiger sportlicher Betätigung in der Freizeit kommt es zu Unfällen. 20 % aller Unfälle in Deutschland sind Sportunfälle. Jährlich ziehen sich in Deutschland bis zu zwei Millionen Sportler Verletzungen zu, die Tendenz ist steigend. Ist Sport gesund? Will man die Frage wirklich wissenschaftlich beantworten, so muss festgestellt werden, dass nur folgendes tatsächlich bewiesen ist: Dreimal die Woche für jeweils eine halbe Stunde locker Dauerlaufen oder nach dem Stichwort „Lang und leicht“ ausgedehnte Spaziergänge machen – das mag wirklich etwas für den Kreislauf und den Stoffwechsel bringen, ohne die Gelenke und mehr zu ruinieren. Alle anderen ins Extreme getriebenen Sportarten benötigen entweder kostspielige ärztliche Begleitung oder führen über kurz oder lang durch chronische Fehlbelastung zum Arztbesuch, der dann auch kostet. Und erst recht teuer ist ein Unfall! Warum soll für die Kosten der Unfälle beim Sport die Solidargemeinschaft eintreten?

Auch hier hat eine falsche Propaganda Schuld. Weil Sport angeblich gesund sein soll (was, wie gesagt, meist nicht der Fall ist), wird er gefördert und akzeptiert, dass die Gemeinschaft der Beitragszahler für die vermeintlich unschuldigen Opfer des Sportwahns zahlt. Das ist nicht in Ordnung. Auch hier sollten private Sonderversicherungen abgeschlossen werden, die im Falle eines Sportunfalls die entstehenden, häufig auch langfristigen Kosten abfangen. Das Beispiel des Sports ist der Spiegel der Medikalisierung. Es wird nicht eine Krankheit erfunden, sondern eine meist schädliche Tätigkeit für gesund erklärt, damit eine ganze Industrie (für Sportartikel) und ganze Branchen (Touristik, Ärzte) daran gut verdienen können, während die Solidargemeinschaft finanziell bluten darf.

deutsche-befindlichkeitenDie ethischen Probleme, die sich aus der Medikalisierung und ihrem Spiegelbild ergeben, sollen hier nur knapp berührt werden. Eine Gesellschaft, die Patienten in ökonomisierter Sprache als „Kunden“ bezeichnet, wie dies in den Qualitätsmanagement-Richtlinien, die für Krankenhäuser und Praxen verfasst werden, getan wird, hat die Ethik ohnehin an das Ende ihrer Überlegungen verbannt. Ökonomen wollen verdienen; die Behauptung, sie wollten Kosten senken, ist eine Lüge. Weder sind sie daran interessiert, eingebildete, aber lukrative Krankheiten, für die mühelos aus den Kassen Geld herausgepresst werden kann, abzuschaffen, noch ist ihnen daran gelegen, Unfälle zu vermeiden, deren Behandlung ebenso problemlos finanziert wird. Sie wollen lediglich diejenigen Krankheiten, an denen nicht gut verdient werden kann, aus dem Behandlungskatalog der ihnen unterstellten, immer häufiger privaten Krankenhäuser verbannen. Diese Erkrankungen sollen dann gefälligst in die öffentlichen Krankenhäuser, die immer schlechter finanziert sind, abgeschoben werden. Berichte von Notärzten sprechen eine deutliche Sprache: Es ist heute schon schwer, eine alte multimorbide Frau, die gestürzt ist, in einem privat geleiteten Krankenhaus unterzubringen. Häufig sind verbale Tricks bei der Beschreibung des Falles am Telefon nötig; versteht der Angestellte im Krankenhaus, dass es sich um keinen lukrativen Fall handelt, sind plötzlich alle Betten belegt. Dann bleibt nur das Krankenhaus am Ende der Straße.

In einer Gesellschaft, die nur auf das Geld schaut, können solche Mißstände nur mit Geld behoben werden. Appelle an die Menschlichkeit verhallen ungehört. Der Markt löst dieses Problem nicht. Würde festgelegt werden, dass erfundene Krankheiten aus dem Katalog der Regelversorgung gestrichen werden und würden freiwillig eingegangene Risiken mit Zusatzversicherungspflicht belegt, dann wäre ein erster Schritt getan. Kritiker eines solchen Vorschlags zetern immer über Eingriffe in die Freiheit des Markts. Der Markt ist aber für die Menschen da und nicht umgekehrt. Andere Gegner einer solchen Reform argumentieren mit ausufernden Gegenbeispielen: Wer Skifahren zusatzversicherungspflichtig mache, müsse dies auch bei Radfahrern machen. Wo ist die Grenze? Ziel dieser Einwände ist das Zerreden und Verwässern, bis gar nichts geschieht. Dabei ist das eine Frage des Konsenses, der unter Beteiligung der Politik, der Ärzte- und Krankenhausverbände, der Krankenkassen und –versicherungen sowie weiterer Betroffener auf Grundlage von Statistiken, die es sehr wohl gibt, gefunden werden könnte, gäbe es wirklich einen Willen zum Sparen. Federführend aber dürften weder die Ärzte noch die Ökonomen sein, nur eine beratende Funktion dürften sie haben.

Ökonomen suchen entgegen eigenem Bekunden das leicht verdiente Geld. An echten Krankheiten kann man kaum Geld verdienen, die Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf bei ihnen. „Der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Bemühungen“, heißt es auf der Webseite jedes Krankenhauses. Wenn dem nur so wäre. Tatsache ist, dass vieles trotz systemischer Fehler nur noch funktioniert, weil die im Gesundheitswesen direkt am Patienten tätigen Individuen noch eine halbwegs intakte Vorstellung vom „Nächsten“ und von „Menschlichkeit“ haben. Eine Reform des Gesundheitswesens muss nicht sentimental sein, aber sie muss von einer vorwiegend ökonomischen Sichtweise abkommen, will sie effektiv im Sinne der wirklichen Patienten sein. Es kann nicht sein, dass für die Behandlung von echten Krankheiten kein Geld da ist, weil es für die Ruhigstellung eingebildeter Kranker ausgegeben wurde. Wenn die Behandlung von realen Krankheiten, für die dann wieder mehr Geld frei wäre, auch besser bezahlt würde, dann würde die erwähnte alte Frau mit ihrem gebrochenen Bein auch umgehend einen Platz im privat geführten Krankenhaus erhalten.

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